Urs Widmer : Reise an den Rand des Universums

Reise an den Rand des Universums
Reise an den Rand des Universums Originalausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 2013 ISBN: 978-3-257-06868-9, 347 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Urs Widmer beschränkt diese Autobiografie auf die ersten 30 Jahre seines Lebens. Er beginnt mit seiner Zeugung. Dann versetzt er sich in den Kopf des Säuglings, als der "Rand des Universums" noch ganz nah ist. Die erste Dekade (1938 – 1948) ist vom Zweiten Weltkrieg geprägt, die zweite eine Zeit des Aufbruchs und die dritte endet 1968 mit den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg. Urs Widmer beleuchtet die Zeit, porträtiert seine Eltern und erzählt von seinen Erlebnissen ...
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Kritik

Der 75-Jährige Urs Widmer erzählt im lockeren Plauderton. Vieles ist nicht nur gut beobachtet, sondern auch treffsicher dargestellt. Die Autobiografie "Reise an den Rand des Universums" bietet eine leicht lesbare und kurzweilige Lektüre.
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Anita und Walter Widmer verbringen die Ferien im Spätsommer 1937 zusammen mit dem befreundeten Paar Anni und Conrad Beck im Lötschental.

Die Lonza war so laut, dass sie sich anbrüllen mussten, wenn sie beim Frühstück um die Butter baten. […]
Die Lonza, ihr Lärm, führte auch dazu, dass die beiden Paare – frisch verheiratet, sehr verliebt – in den Nächten, obwohl die Wände zwischen ihren Schlafzimmern dünne Fichtenbretter waren, keine Rücksicht aufeinander nehmen mussten. So laut wie die Lonza konnte kein Liebespaar sein.

So wird Urs gezeugt. Die Geburt findet dann am 21. Mai 1938 in Basel statt, wo der Philologe Walter Widmer (1903 – 1965) am Realgymnasium Französisch unterrichtet und zu Hause als Übersetzer und Literaturkritiker arbeitet.

Als Kleinkind geht Urs dem Geräusch der Schreibmaschine seines Vaters nach. Der nimmt ihn auf die Knie und lässt ihn über die wirbelnden Typenhebel staunen.

[…] Die Walze mit dem Papier ruckte vorwärts – Buchstabe reihte sich an Buchstabe – und klingelte, wenn sie an ihrem Ende angekommen war. Der Vater fetzte sie mit einem entschlossenen Ruck an ihren Anfang zurück. Das Ratschen! Das Aus-der-Walze-Reißen eines vollbeschriebenen Papiers, das Einspanen eines neuen: Das konnte mein Vater in einer Bewegung.

Das Haus, in dem die Familie in Basel wohnt, gehört Onkel Emil Häberli, einem Staatsanwalt, der auch das erste Auto in der Straße besitzt und mit Anita Widmers Schwester Norina verheiratet ist. Anita und Norina, geborene Mascioni, stammen aus Brusio im Kanton Graubünden. Ihr Vater hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und das Leben genommen [Suizid]. Anita fand den Verbluteten in der Badewanne.

Die Widmers wohnen im Parterre des Hauses, die Häberlis in der Beletage darüber.

Urs Widmer glaubt sich später daran zu erinnern, dass seine Mutter ihn, als er zwei oder drei Jahre alt war, mit einem brennenden Kissen zu ersticken versuchte. Aber das hält er für eine trügerische Erinnerung.

Es kann nicht so gewesen sein, es war gewiss nicht so. Niemand hat mich erstickt, da war kein brennendes Kissen in der wirklichen Welt. Es brannte in meinem Hirn.

Aus Furcht vor einem Einmarsch der deutschen Wehrmacht fährt Anita Widmer mit ihrem Sohn im Mai 1940 nach Grimentz im Val d’Anniviers. Walter Widmer bleibt in Basel. Als die Deutschen doch nicht kommen, kehren auch Frau und Sohn wieder zurück.

Einige Zeit später ist Anita Widmer erneut schwanger.

[…] und als ich gefragt wurde, ob ich mir nicht ein kleines Schwesterchen wünschte, antwortete ich, dass mir ein Fahrrad lieber wäre.

Im Juli 1942 bekommt Urs eine Schwester: Nora Margherita.

Tante Norina verlässt ihren Ehemann und zieht aus. Dann kehrt das Dienstmädchen Simone, mit dem Urs viel herumtollte, auf den Bauernhof der Eltern zurück. Plötzlich ist auch der Vater weg. Kurz nach ihm verschwindet Nora.

Hatte das Spital sie nun doch zurückgenommen?

Und schließlich vermisst Urs auch seine Mutter. Dafür richten sich Lotti und Heiri Strub im Haus ein, Freunde der Eltern, beide kaum älter als 20. Sie versuchen Urs zu erklären, dass der Vater beim Militär ist, die Mutter wegen ihrer Traurigkeit im Spital und Nora bei Tante Norina.

Anita Widmer kommt nach einiger Zeit aus der psychiatrischen Klinik in Münchenbuchsee bei Bern nach Hause, wird jedoch auch später immer wieder wegen ihrer endogenen Depression stationär behandelt.

Es ist eine Zeit der Entbehrungen. Die Mutter kocht im Mantel in der eiskalten Küche. Das Licht – „eine einsame 25-Watt-Glühlampe an der Decke“ – muss beim Verlassen des Raumes ausgeknipst werden, auch wenn es nur für ein paar Minuten ist.

„Liiiicht aus!“: Dieser Ruf war ein Leitmotiv meiner jungen Jahre.

Im Alter von fünf oder sieben Jahren erkrankt Urs an einer Hirnhautentzündung.

Nach dem Krieg zeigt der Vater ihm Fotos von Auschwitz.

Aufgrund von Streitigkeiten mit Emil Häberli müssen die Widmers 1948 das Haus verlassen und mit einer Wohnung in Riehen vorliebnehmen. Urs geht dort noch ein halbes Jahr zur Primarschule, dann wechselt er ans Realgymnasium in Basel, wo sein Vater zum Lehrkörper gehört.

Die Widmers, die ihre Ferien bis 1947 so zuverlässig im Lötschental verbrachten, dass Urs den Spitznamen „Lötschi“ ertragen musste, wählen von nun an regelmäßig La Rösa im Puschlav für die Sommerfrische.

Anita Widmer läuft einer früheren Schulfreundin über den Weg, und des stellt sich heraus, dass Fräulein (!) Dr. Hedwig Schaub Mieter für ein Haus sucht, das sie unlängst geerbt hat. Die Familie Widmer zieht also aus der Wohnung in das Haus um. Urs bekommt ein Zimmer unter dem Dach, das im Winter eiskalt und im Sommer glühend heiß ist. Die Besitzerin besteht darauf, dass nichts verändert wird und alles in dem Zustand bleibt, in dem es sich beim Tod ihres Vaters befand. So darf beispielsweise die Türklingel nicht repariert werden, und als der Gasherd nach einer Explosion, die Urs‘ Mutter beinahe das Leben gekostet hätte, ausgetauscht werden muss, empfindet Fräulein Dr. Schaub dies als Katastrophe.

Das Klo! Der Schwimmer klemmte über Jahre so, dass wir jedes Mal, wenn wir spülten, uns auf die Klobrille stellen, oben in den Kasten greifen und den Schwimmer in seine richtige Stellung zurückschieben mussten. Sonst spülte die Spülung einfach weiter, ein Sturzbach wie die Lonza.

Nachdem Urs den Film „Ein Herz und eine Krone“ („Roman Holiday“, 1953, Regie: William Wyler) mit Audrey Hepburn und Gregory Peck gesehen hat, denkt er zu Hause an die Hauptdarstellerin. Plötzlich verspürt der 15-Jährige etwas, was er für Harndrang hält und rennt zur Toilette. Dort kriegt er gerade noch die Hose auf, bevor er – ejakuliert und seinen ersten Orgasmus erlebt.

Irgendwann war auch der letzte Karl-May-Band gelesen (ich habe alle gelesen, an die ich herankam; weit über fünfzig), und meine Kindheit war vorbei.

Obwohl die Eltern keiner Kirche angehörten, ließen sie Urs taufen, und zwar von Walters Bruder Otto, einem protestantischen Pfarrer. Aber ein paar Tage nach der Konfirmation im Alter von 16 Jahren tritt Urs aus der Kirche aus.

Seine Eltern betrachtet er als grundverschieden.

Mein Vater war klein, die Mutter groß. Er war lustig, sie ernst. Er begeisterte sich für Luftschlösser aller Art, sie hatte einen soliden Sinn für das Machbare. […] Er hatte immer Kopfschmerzen, oft Herzrasen, zuweilen Neuralgien und zunehmend kaputte Nieren, die ihn gelb aussehen ließen; sie strotzte vor Gesundheit. […] Ich weiß eigentlich von nichts, was sie gemeinsam hatten. Sie waren Papa und Mama. Ich liebte und brauchte beide. Das vielleicht.

Ständig befürchtet Urs, sein Vater oder seine Mutter könnten sich wie sein Großvater das Leben nehmen.

Wenn mein Vater nicht zu Hause war, schlich ich in sein Zimmer und sah nach, ob der Revolver immer noch unter den Medikamenten vergraben in der Nachttischschublade lag (er lag), und wenn von meiner Mutter nichts zu hören und zu sehen war (weil sie einkaufte, zum Beispiel), machte ich – ich gestand auch mir selber den Grund meiner Unruhe nicht ein – eine beiläufige Runde durch den Keller, um zu sehen, ob sie nicht in ihrem Blut in den Kohlen lag, und schaute kurz in den Estrich, ob sie am Dachbalken hing.

Es sind Jahre des Aufbruchs. Die Schweizer Bürger verwandeln sich in Konsumenten und lernen Importe aus den USA schätzen: AFN, Jeans, Coca-Cola und Hollywood-Filme. Umso mehr wird der Kommunismus verabscheut.

Am 29. Oktober 1956, weit nach Mitternacht, steht Urs mit zahlreichen amerikanischen Marinesoldaten in weißen Ausgehuniformen am Tresen einer Bar in Cannes, als Militärpolizei die Soldaten einsammelt. Am nächsten Morgen sind der Flugzeugträger und die Kriegsschiffe, die vor Cannes ankerten, verschwunden.

Ich bin also Augenzeuge dafür, dass a) die Amerikaner den Termin der Aktion der Briten [Suezkrise] erst fünf Minuten nach zwölf erfahren hatten (wie sonst hätten sie ihre Männer an Land gehen lassen) und dass b) die folgenden militärischen Handlungen von Soldaten durchgeführt wurden, die betrunken oder verkatert waren.

Anne-Marie, die Tochter eines frühpensionierten Chemikers, ist unter den ersten Mädchen, die sich von Urs küssen lassen. Als Anne-Marie mit einer Grippe im Bett liegt und er sie in ihrem Zimmer im ersten Stock besucht, sieht er plötzlich das Gesicht seiner Mutter am Fenster. Sie kam mit einer Leiter und schaute nach dem Rechten. Einige Zeit später bleibt bei Anne-Marie die Monatsblutung aus. Die beiden jungen Menschen geraten in Panik, und Urs fragt seinen Vater, ob eine Frau auch durch Spermareste am Finger geschwängert werden könne. Eine Antwort erhält er darauf nicht, und Anne-Marie ist auch gar nicht schwanger. Im Sommer 1956 nehmen Anne-Maries Eltern, die in Cannes ein Ferienhaus gemietet haben, den 18-Jährigen mit in die Ferien. Urs muss allerdings vor den anderen zurück nach Basel, um sich in einer Rekrutenschule zu melden. In der Nacht vor seiner Abreise schleicht Anne-Marie sich zu ihm ins Zimmer, lässt den Bademantel zu Boden gleiten, unter dem sie nackt ist und legt sich aufs Bett. Urs ejakuliert, bevor er sie auch nur berührt. Statt nun ein paar Minuten zu warten, halten sie das Vorhaben für gescheitert. Anne-Marie verlässt enttäuscht den Raum, und damit endet auch ihre Beziehung.

Urs Widmer liest viel. Außerdem arbeitet er als Platzanweiser in der Komödie Basel und schaut sich alle Aufführungen an.

Anfang März 1958 fährt er mit einer Vespa nach Montpellier. Unterwegs wird ihm der Scheinwerfer gestohlen. Er nimmt sich ein Zimmer außerhalb der Stadt und immatrikuliert sich an der Universität. Weil ihm das Gebäude jedoch zu düster ist, nutzt er nur die Mensa. Dort lernt er eine junge Hebamme kennen, die in der Mensa essen darf. Sie heißt Rolande und wurde mit ihren Eltern aus Marokko vertrieben. Nach kurzer Zeit nimmt sie ihn mit in ihr Zimmer, obwohl sie einen Verlobten hat, der in Orange seinen Militärdienst ableistet. Übrigens redet noch niemand vom Vögeln oder Ficken. Die Männer versprechen stattdessen, eine Frau glücklich zu machen.

Über Cannes und den Berninapass trampt Urs nach Brusio, die Heimatstadt seiner Mutter, und von dort weiter nach La Rösa, wo er seine Eltern und Nora gerade noch in der Sommerfrische antrifft.

Im August 1958 fährt er nach San Sebastian und trifft sich dort mit dem Engländer Clive, den er in Montpellier kennengelernt hatte. Clive besitzt einen schrottreifen VW. Damit fahren sie bis nach Gibraltar hinunter. Irgendwo im Süden, in Málaga oder Sevilla, schwärmt Urs arglos in einer Kneipe von den Vorzügen einer Demokratie. Eine Hälfte der Gäste verlässt daraufhin das Lokal, und die andere versucht ihn zum Schweigen zu bringen.

Auf der Rückfahrt hält der VW bis Muttenz durch. Dort, kurz vor Basel, bleibt er liegen.

Am nächsten Tag fuhr Clive mit dem Zug weiter – er gab den VW einfach auf –, ich wusch mir die Haare und schnitt sie wohl auch ein bisschen, zog mir ein ordentliches Hemd an und ging wieder zur Uni, wo meine Kommilitonen wie zuvor an ihren Tischen im Deutschen Seminar saßen und alle im selben Buch wie damals lasen. Ich setzte mich auch an meinen alten Platz, nahm das Buch von einst hervor und schlug es an der Stelle auf, an der ich vor einem halben Jahr zu lesen aufgehört hatte.

Schon als Kind wurde Urs von einem Psychiater untersucht. Auch später lässt er sich wegen verschiedener Ticks, Ängste und Neurosen therapieren.

Ohne übermäßige Begeisterung studiert er in seiner Geburtsstadt Deutsch, Französisch und Geschichte. Zu seinen Lehrern gehören Walter Muschg, Edgar Bonjour, Werner Kaegi, Georges Blin, Karl Jaspers und Karl Barth.

In dieser Zeit zählt er zu den Stammgästen in der Gaststätte „Hasenburg“. Rieter, der Wirt, steht 18 Stunden am Tag in der Küche, während seine wesentlich jüngere Frau Elsi bedient.

Er blieb unsichtbar, tauchte nur hie und da wie ein als Koch verkleideter King Kong im Lokal auf und rief, ohne einen bestimmten Gast anzusprechen und ohne eine weitere Begründung, was das hier für ein Sauladen sei. Dann verschwand er wieder.

Rieter ist zu geizig, um auch nur eine Küchenhilfe einzustellen. Dabei kauft er heimlich die Häuser um den Andreasmarkt herum auf, renoviert sie und vermietet die Wohnungen dann an betuchte Leute, die sich das leisten können. Auf diese Weise vertreibt er seine Gäste aus der Gegend, denn die neuen Mieter sind sich für die „Hasenburg“ zu fein.

Urs beginnt eine Liebesaffäre mit Brigitte, einer sechs Jahre älteren Lehrbeauftragten für französische Alltagssprache, deren Kurs er besucht. Die Beziehung endet 1961 während eines Campingurlaubs in Fiesole.

1961/62 verbringt er eineinhalb Jahre in Paris. Um etwas Geld zu verdienen, unterrichtet er ein paar Stunden pro Woche deutsche Konversation am Lycée Pasteur in Neuilly.

Mehrmals nutzt er die Gelegenheit, als Mitarbeiter des Schweizer Studenten-Reisedienstes kostenlos auf einem frei gebliebenen Platz nach Athen zu fliegen und sich Griechenland anzuschauen.

Nachdem seine Schwester Nora, die bei Jean Piaget in Genf Psychologie studiert, 1964 einige Zeit als Au-pair-Mädchen in der Nähe von Saint Tropez verbracht hat, soll ihr Freund Karl Heinz Baumgartner („Bummi“) sie mit dem Auto abholen. Urs, der mit Bummi befreundet ist, beschließt, ihn auf der Fahrt zu begleiten. Gleichzeitig telefoniert Nora mit einer befreundeten Kommilitonin, und diese – sie heißt May – würde auch gern ein paar Tage an der Côte d’Azur verbringen. So kommt es, dass Urs und Bummi die in Lausanne wohnende und am Office médico-pédagogique angestellte Studentin abholen und in den Fond des Autos klettern lassen. Die beiden Jungen albern in ihrer Muttersprache auf den Vordersitzen herum, und obwohl May kein Wort Deutsch versteht, nimmt sie ihnen die Rücksichtslosigkeit nicht übel.

An der Riviera fragen sie sich zu der Villa durch, in der Nora zu finden ist. Bei der Mutter der Hausherrin handelt es sich um „eine etwa sechzigjährige ledrig-braune Jugendliche in Jeans“. Nora kündigt an, dass die Kinder gleich gebracht werden, möglicherweise von Brigitte Bardot. Die beiden jungen Schweizer würden das Sexidol gerne sehen, geben sich jedoch betont uninteressiert, Bummi, um Nora nicht zu verärgern, und Urs, um May nicht zu missfallen.

Zu viert fahren sie dann zu einem Campingplatz und schlagen dort zwei Zelte auf. In der ersten Nacht schlafen sie nach Geschlechtern getrennt, in der zweiten Nacht als Pärchen.

Urs verdient etwas Geld, indem er am Realgymnasium in Basel Französisch unterrichtet. Vorübergehend arbeitet er auch als Kulturkorrespondent der Tageszeitung „Welt“, aber sein Bericht über den Zürcher Literaturstreit – eine Kontroverse um eine am 17. Dezember 1966 gehaltene Rede Emil Staigers, die Max Frisch und andere als Verunglimpfung der modernen Literatur auffassen – wird nicht veröffentlicht, und danach braucht er auch nichts mehr für die „Welt“ zu schreiben.

Walter Widmer stirbt am 18. Juni 1965 im Alter von 62 Jahren. Die Witwe wirft die hinterlassenen Papiere dieses Homme de lettres, der mit Thomas Mann und Heinrich Böll korrespondierte, einfach weg.

Urs Widmer fährt mit dem Auto in die Provence und schreibt dort in einem Haus bei Gordes, das Otto F. Walter gehört, seine Dissertation. 1966 promoviert er bei Heinz Rupp in Basel.

Otto F. Walter (1928 – 1994) leitet die literarische Abteilung des von seinem Vater gegründeten Walter Verlags in Olten. Schon im Herbst 1965, noch vor der Promotion, fing Urs Widmer als Lektor im Walter Verlag an. Im Jahr darauf wird Otto F. Walter wegen Meinungsverschiedenheiten über das Verlagsprogramm entlassen, und der Verleger Dr. Josef Rast bietet Urs Widmer die Nachfolge an, aber der lehnt das Angebot aus Solidarität mit Otto F. Walter ab. Während Otto F. Walter dann zum Luchterhand Verlag wechselt, wird Urs Widmer von Siegfried Unseld eingestellt.

Bevor er nach Frankfurt am Main umzieht und seine Tätigkeit im Suhrkamp Verlag übernimmt, heiratet er May, die zunächst noch in Lausanne bleibt.

Eine Wohnung in Frankfurt hat Urs Widmer von Basel aus gemietet. Als er hinkommt, ist der Vormieter noch mit der Renovierung beschäftigt, und er muss auf dem Dachboden nächtigen.

Schließlich kommt May nach. Sie lernt Deutsch, setzt ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin fort und bewirbt sich erfolgreich bei Günther Feldmann, dem Leiter der Erziehungsberatungsstelle der jüdischen Gemeinde Frankfurt:

„Ich heiße May. Ich kann nicht gut Deutsch. Meine Ausbildung ist noch nicht fertig. Ich bin keine Jüdin. Ich möchte bei Ihnen arbeiten.“

In Frankfurt erleben May und Urs Widmer die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Studenten-Unruhen des Jahres 1968.

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Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiografie. Denn eine Autobiografie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiografie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.

Mit diesen Sätzen beginnt Urs Widmer seine Autobiografie „Reise an den Rand des Universums“. Er fährt fort:

Immer näher rücken mir die Erinnerungen in ihrer Nüchternheit. Ich bin in der Falle des eigenen Lebens.

Später schreibt er:

Immerhin ahne ich inzwischen die Vorzüge und Nachteile meines halsbrecherischen Plans, ausschließlich mit dem Material meines Lebens zu arbeiten. Mit echten Namen, den Erinnerungen an das Wirkliche, und nur mit ihnen. Der Gewinn ist: Ich lebe längst abgelegte Zeiten nochmals, mit bestürzender Heftigkeit. Ich lebe ein zweites Mal. Und jene, die doch längst tot sind, leben auch wieder, zusammen mit mir. Noch einmal die Freude, das Glück und der Schmerz.

Der 75-Jährige Schriftsteller erzählt von den ersten 30 Jahren seines Lebens. Er beginnt sogar noch früher, mit seiner Zeugung. Und er versetzt sich in den Kopf des Säuglings, als der „Rand des Universums“ noch ganz nah ist.

Ich begann die Erforschung der Welt auf dem Rücken liegend. Rechts und links waren die Stoffwände des Betts, hinter denen ich keine weiteren Welten vermutete. Das neue Licht überflutete mich, nach neun Monaten gemütlicher Trübnis im warmen Fruchtwasser. Ich blinzelte, riss die Augen auf und schloss sie schnell wieder. Alles, was weiter weg als die Stummelfingerchen direkt vor meinen Augen war, war ein so grelles Geleuchte, dass ich keine Farben unterschied. Hell, sehr hell, so leuchtend, dass ich die Augen schließen musste.

Aber dann konnte ich gehen! Jetzt stand ich ohne Hilfe auf meinen Beinen, stützte mich an der Wickelkommode ab und fasste mein erstes Ziel ins Auge. Es war der Rahmen der offenen Tür, fern auf der anderen Zimmerseite. Weit, sehr weit weg.

An diesen Beispielen sehen wir, dass Urs Widmer seine Erinnerungen durch empathische Vorstellungen ergänzt.

Heute glaube ich eher, dass jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann nur ein Roman werden.

„Reise an den Rand des Universums“ ist in drei Kapitel gegliedert: 1938 – 1948, 1948 – 1958 und 1958 – 1968. Jedes davon beschließt Urs Widmer mit einem kursiv gedruckten Abschnitt, in dem er die Dekade unabhängig von seiner Person beleuchtet.

In seiner Autobiografie lässt uns Urs Widmer an seinen Erinnerungen teilhaben. Das eine oder andere dürfte eher für ihn selbst und andere Betroffene einen Wert haben und erschließt sich Außenstehenden auch gar nicht. Aber wie in „Der Geliebte der Mutter“ und „Das Buch des Vaters“ erlaubt Urs Widmer uns auch in „Reise an den Rand des Universums“ einen ungeschönten Blick auf sich und seine Eltern, der betroffen macht. Zugleich lässt sich das Buch mit Gewinn als Zeitzeugnis lesen.

„Reise an den Rand des Universums“ ist kein stringenter Entwicklungsroman, sondern eine im humorvollen Plauderton vorgetragene lockere Aneinanderreihung von Anekdoten. Vieles davon ist nicht nur gut beobachtet, sondern auch treffsicher dargestellt. Obwohl an mehreren Stellen Trauer und Tragik zu spüren sind, handelt es sich bei „Reise an den Rand des Universums“ um eine leicht lesbare und kurzweilige Lektüre.

Noch ungetrübter wäre das Lesevergnügen, wenn das Lektorat nicht einige Sprachschnitzer des Friedrich-Hölderlin-Preisträgers der Stadt Bad Homburg übersehen hätte. Da steht zum beispielsweise ein Dativ statt eines Genitivs („wegen dem Geld“, S. 246), und an einigen Stellen stoßen gleiche oder ähnlich klingende Wörter unschön aneinander.

Alles, was weiter weg als die Stummelfingerchen direkt vor meinen Augen war, war ein so grelles Geleuchte, dass ich keine Farben unterschied. (S. 19)

Delia war die, die, wenn ich um neun Uhr früh mit vom Schlaf immer noch verklebten Augen vor dem Haus vorbeischlurfte, oben aus ihrem Fenster […] rief. (S. 143)

Die Äschenvorstadt in Basel, ein rein mittelalterlicher Straßenzug, der heute zum Welterbe der UNESCO erklärt würde, wurde in toto in Schutt und Asche gelegt. (S. 220)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Urs Widmer (Kurzbiografie)

Urs Widmer: Im Kongo
Urs Widmer: Der Geliebte der Mutter
Urs Widmer: Das Buch des Vaters
Urs Widmer: Ein Leben als Zwerg

Jan Graf Potocki - Die Handschrift von Saragossa
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