Charlotte Link : Das andere Kind

Das andere Kind
Das andere Kind Originalausgabe: Blanvalet Verlag, München 2009 ISBN: 978-3-7645-0279-9, 667 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Juli 2008 wird eine Studentin brutal erschlagen. Bevor die Ermittlerin Valerie Almond bei der Aufklärung des Mordfalls auch nur einen ersten Erfolg vorweisen kann, findet eine Farm-Praktikantin die Leiche der 79-jährigen Fiona Barnes, die bei einer Verlobungsfeier am Vorabend durch heftige Vorwürfe gegen den Bräutigam einen Eklat auslöste. War der Mörder unter den Gästen? Oder handelt es sich um einen Racheakt für Fionas unmenschliches Verhalten während des Zweiten Weltkrieges?
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Kritik

"Das andere Kind" ist eine spannende Mischung aus Familienroman und Whodunit-Thriller. Charlotte Link baut v. a. auf psychologische Zusammenhänge und leuchtet in menschliche Abgründe.
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Vor der Friarage School in Scarborough, einer Stadt im Norden von Yorkshire, lernen sich am 16. Juli 2008 Gwendolyn Beckett und Dave Tanner kennen.

Er sah die Frau zum ersten Mal, als er gerade die Friarage School verlassen und über die Straße zurück zu seiner Unterkunft gehen wollte. Sie stand in der geöffneten Tür und zögerte ganz offensichtlich, einen Fuß hinaus in den strömenden Regen zu setzen. Es war kurz vor sechs Uhr und bereits ungewöhnlich dunkel draußen für einen frühen Sommerabend. Der Tag war drückend heiß gewesen, dann hatte sich ein krachendes Gewitter über Scarborough entladen, und nun schien die Welt in einem Wolkenbruch unterzugehen. Der Schulhof lag verlassen. In den Unebenheiten des Asphalts bildeten sich sofort riesige Pfützen. Der Himmel bestand aus wütend geballten, blauschwarzen Wolken. (Seite 15)

Gwen kommt gerade aus einem Selbstbehauptungs-Training, und Dave gab Erwachsenen Sprachunterricht. Der Dreiundvierzigjährige verdient seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit ein paar Französisch- und Spanisch-Stunden pro Woche. Mit seinem schrottreifen Auto bringt er die acht Jahre jüngere, überaus schüchterne, unsichere und unattraktive Farmerstochter, die weder einen Beruf ausübt noch einen erlernt hat, nach Staintondale, wo sie seit dem frühen Tod ihrer Mutter mit ihrem beinahe autistischen, inzwischen dreiundachtzig Jahre alten Vater Chad Beckett allein lebt.

Zur gleichen Zeit wie Dave Tanner gab Linda Gardner an der Friarage School einen Französischkurs. Das tut sie jeden Mittwoch. Anschließend sucht die allein erziehende Mutter einer vierjährigen Tochter mit ihren Schülern ein Pub auf. Weil die einsame Frau es genießt, wenigstens einmal pro Woche unter Leuten zu sein, kommt sie an diesem Abend eine Stunde später als mit der Babysitterin vereinbart heim. Erst um 23.20 Uhr kann die Studentin Amy Mills nach Hause gehen.

Am anderen Tag wird Amy Mills‘ Leiche gefunden. Der Mörder presste sie offenbar mit der Schulter gegen eine Mauer und schlug ihr den Kopf immer wieder mit aller Kraft gegen die Steinwand. Der Gerichtsmediziner vermutet, dass er zwischendurch wartete, bis sie wieder zu sich kam und erst dann weitermachte.

Detective Inspector Valerie Almond leitet die Ermittlungen, kommt dabei aber nicht recht voran. Das belastet die von Selbstzweifeln geplagte ehrgeizige Polizistin sehr.

Am 12. Oktober 2008 wird sie mit einem weiteren Mordfall konfrontiert. Wieder wurde einer Frau der Schädel eingeschlagen, diesmal allerdings keiner Studentin, sondern einer neunundsiebzigjährigen Bewohnerin von Scarborough: Fiona Barnes. Die Studentin Paula Foster, die auf der Trevor-Schaffarm ein Praktikum macht, entdeckte die Leiche in einer Schlucht neben der Schafweide. Jemand hatte Fiona Barnes mehrere Male mit einem Stein auf den Kopf geschlagen und sie dann in den Abgrund gestoßen.

Am Abend zuvor hatte Fiona Barnes an der Verlobungsfeier von Gwen Beckett und Dave Tanner auf der Beckett-Farm in Staintondale teilgenommen. Sie war während der deutschen Luftangriffe gegen London als Kind hier gewesen und seither mit Chad Beckett befreundet. Ihre Enkelin, die neununddreißigjährige Krankenhaus-Radiologin Dr. Leslie Cramer, eine Freundin der Braut, reiste eigens aus London an. Außerdem gehörten Colin Brankley, der Filialleiter einer Bank in Leeds, und seine Ehefrau Jennifer zu den Gästen. Die beiden machen gerade zum sechsten oder siebten Mal auf der Beckett-Farm Ferien, und Jennifer betrachtet sich inzwischen als mütterliche Freundin Gwens, obwohl sie nur zehn Jahre älter ist. Während der Feier löste Fiona Barnes einen Eklat aus, als sie Dave Tanner vor allen anderen vorwarf, er liebe Gwen überhaupt nicht, sondern habe es nur auf die Farm abgesehen und träume wohl davon, mit Ferienwohnungen endlich Geld zu verdienen. Der Angegriffene verließ daraufhin die Gesellschaft, und Leslie fuhr ebenfalls nach Scarborough zurück, wo sie im Haus ihrer Großmutter übernachtete. Fiona blieb noch einige Zeit bei Chad und ließ sich dann von Colin ein Taxi zur Whitestone-Farm rufen. Bis dorthin wollte sie laufen. Aber der Taxifahrer wartete dort vergeblich auf sie.

Jennifer Brankley, die zur Tatzeit mit ihren beiden Hunden unterwegs war, macht sich Sorgen, die Polizei könne Gwen verdächtigen und ihr ein Rachemotiv unterstellen. Deshalb bietet sie Gwen an, ihr ein Alibi zu verschaffen und bei der Vernehmung auszusagen, Gwen sei bei dem Spaziergang dabei gewesen. Zögernd lässt Gwen sich darauf ein, und Jennifer beschreibt ihr den Weg, den sie ging.

Bald darauf weiht Gwen Colin in das Geheimnis ein. Der ist entsetzt, erst recht, als Gwen ihn auf den Gedanken bringt, Jennifer könne das Alibi selbst benötigen.

Valerie Almond geht zunächst der Frage nach, ob Dave Tanner sich an Fiona Barnes rächte. Dabei fällt ihr auf, dass er wie Linda Gardner an der Friarage School unterrichtet. Er könnte also erfahren haben, dass Amy Mills jeden Mittwochabend auf Liliana Gardner aufpasste, bis deren Mutter nach Hause kam. Bei der Befragung behauptet Dave Tanner, er sei am 11. Oktober von Staintondale direkt nach Scarborough zurückgefahren und habe die Nacht in seinem möblierten Zimmer verbracht.

Aber die Nachbarin Marga Krusinski gibt zu Protokoll, dass sie gesehen habe, wie Dave Tanner in der Mordnacht das Haus verließ. Mit dieser Aussage konfrontiert, gibt Dave zu, kurz nach seiner vorzeitigen Rückkehr aus Staintondale noch einmal fortgegangen zu sein. Im Pub „The Golden Ball“ habe er die Studentin Karen Ward getroffen, die bis vor kurzem seine Freundin gewesen sei, und den Rest der Nacht habe er mit ihr im Bett verbracht. Dass er diesen Seitensprung unmittelbar nach der Verlobungsfeier verschweigen wollte, findet Valerie Almond verständlich.

In einem Gespräch mit Leslie gesteht Dave, dass es ihm tatsächlich nur um die Farm geht. Er ist zuversichtlich, mit Ferienwohnungen gut verdienen zu können und sieht darin die letzte Chance, etwas aus seinem Leben zu machen. Für Gwen sei es wohl auch das Beste, auch wenn er sie nicht liebe, meint er und gibt zu bedenken, dass sie von der Altersrente ihres Vaters lebt. Wenn sie Dave nicht heiraten würde, bliebe ihr nach Chad Becketts Tod nichts als eine unbewirtschaftete Farm. Und einen anderen Mann bekäme sie auch nicht.

Am 14. Oktober reist Dr. Stephen Cramer überraschend aus London an. Er und Leslie lebten fünfzehn Jahre zusammen, davon zehn Jahre als Ehepaar, aber seit 6. Oktober sind sie geschieden. Leslie trennte sich von Stephen, der im selben Krankenhaus wie sie arbeitet, nachdem er ihr einen Seitensprung gebeichtet hatte. Aus Sorge um seine Ex-Frau kommt Stephen nun nach Scarborough, und er hofft dabei wohl auch, die Beziehung doch noch retten zu können. Aber Leslie hält ihn auf Distanz.

Valerie Almond geht davon aus, dass Fiona Barnes‘ Mörder unter den Teilnehmern an der missglückten Verlobungsfeier zu finden ist. Jennifer Brankley war bis vor sieben Jahren Lehrerin in Leeds, wo Amy Mills aufwuchs und zur Schule ging. Sie könnte das Mordopfer also gekannt haben. Vor sieben Jahren wurde sie nach einem Skandal entlassen. Jennifer hatte einer unter Prüfungsangst leidenden Schülerin Beruhigungstabletten gegeben, und eine Zeitung berichtete darüber unter der Schlagzeile „Lehrerin treibt Schülerin bewusst in Tablettensucht“. Wegen der ungerechten Behandlung ist Jennifer verbittert.

Ena Witty versucht, ihre Freundin Gwen Beckett telefonisch zu erreichen, denn sie benötigt dringend Rat. Sie erreicht Gwen allerdings nicht. Als sie am 15. Oktober in der Fußgängerzone von Scarborough zufällig Jennifer begegnet, vertraut sie sich ihr bei einer Tasse Kaffee an. Sie ist seit kurzem mit einem jungen Mann namens Stan Gibson zusammen, fühlt sich in der neuen Beziehung jedoch eingeengt und überlegt deshalb, ob sie Schluss machen soll. Außerdem fand sie heraus, dass Stan genau gegenüber von Linda Gardner wohnt und Amy Mills bis zu ihrem Tod mit einem Fernrohr beobachtet hatte. Er muss von der Studentin besessen gewesen sein, denn Ena entdeckte in Stans Wohnung eine ganze Schublade voll Fotos, die er offenbar mit einem Teleobjektiv von Amy Mills geknipst hatte. Jennifer geht daraufhin mit Ena zur Polizei. Valerie Almond beschafft sich einen richterlichen Beschluss und lässt die Wohnung durchsuchen. Statt zu protestieren, bleibt Stan Gibson freundlich und souverän; offenbar amüsiert ihn das Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei. Valerie ist überzeugt, dass sie es mit einem Psychopathen und möglicherweise einem Mörder zu tun hat, aber sie kann ihm nichts nachweisen, und am 11. Oktober – als Fiona Barnes erschlagen wurde – hielt er sich nachweislich mit Ena Witty bei seinen Eltern in London auf.

Karen Ward versichert bei der Vernehmung am 16. Oktober überraschend, sie habe Dave zwar am 11. Oktober im „Golden Ball“ kurz getroffen, sei aber dann allein nach Hause gegangen. Dave Tanner hat also nicht nur gelogen, sondern überdies für die Tatzeit kein Alibi.

Colin bringt Leslie einen Ausdruck aus dem Computer der Beckett-Farm. Es handelt sich um Fionas Lebensbeichte. Gwen fand die E-Mails mit angehängten Word-Dateien, druckte sie aus und gab sie ihrer mütterlichen Freundin Jennifer zu lesen. Nachdem auch Colin die Texte überflogen hat, meint er, es stehe nur Leslie zu, darüber zu entscheiden, was mit dem Geständnis ihrer Großmutter zu geschehen habe.

Unter der Überschrift „Das andere Kind“ erinnerte sich Fiona Barnes, geborene Swales, an die Kriegszeit.

Ihr häufig betrunkener Vater war im Frühjahr 1939 bei einer Wirtshaus-Schlägerei ums Leben gekommen. Im September 1940 – Fiona war ein paar Wochen zuvor elf Jahre alt geworden – begannen die deutschen Luftangriffe gegen London: „The Blitz“. Fionas Elternhaus wurde im Oktober durch einen Volltreffer zerstört. Ihre Mutter suchte daraufhin mit ihr Zuflucht bei ihrer Schwägerin Edith, die mit ihrem Mann, sechs Kindern und einer ebenfalls ausgebombten Freundin in einer Drei-Zimmer-Wohnung lebte.

Wegen der Luftangriffe gegen London wurden Kindertransporte in den Norden Englands organisiert. Anfang November gingen Fiona und ihre Mutter zum Bahnhof. Dabei kamen sie durch die Straße, in der sie gewohnt hatten und stießen auf den sieben- oder achtjährigen Nachbarjungen Brian Somerville. Seine Eltern und sechs Geschwister waren bei einer Bombenexplosion umgekommen. Fionas Mutter nahm den geistig behinderten, offenbar unter Schock stehenden Jungen mit zum Bahnhof, und in dem Chaos, das dort herrschte, wurden Fiona und Brian zusammen in den abfahrbereiten Zug geschoben. In Scarborough wartete Emma Beckett auf Fiona – und wunderte sich über den verstörten Jungen, der sich an das Mädchen klammerte. Als sie erfuhr, was passiert war, nahm sie Brian kurzerhand auch mit. Ihr Ehemann Arvid hatte der Aufnahme Fionas nur zugestimmt, weil es dafür Geld vom Staat gab. Dass seine Frau nun auch noch ein anderes Kind mitbrachte, missfiel ihm, aber er nahm es murrend hin. Während Fiona den auf sie fixierten Brian lästig fand, freundete sie sich mit dem vier Jahre älteren Chad Beckett an, dem einzigen Sohn von Arvid und Emma Beckett.

Im August 1941 erhielt Fiona ein Telegramm mit der Nachricht, ihre Mutter habe wieder geheiratet. Und als die Luftangriffe gegen London nachließen, wurde sie am 1. September 1942 zurückgerufen, und zwar in die Wohnung ihres Stiefvaters Harold Kane, eines Werftarbeiters, im Londoner Stadtteil Stepney. Während ihre Mutter nach einer Fehlgeburt im Februar 1943 im Krankenhaus lag, riss Fiona aus, kaufte sich von ihren Ersparnissen eine Fahrkarte nach Scarborough und wanderte nach Staintondale. Doch auf der Farm waren nur Chad und der von ihm „Nobody“ gerufene Junge.

„Arvid! Wo ist Chad? Bitte!“
Irgendetwas in seinem Gesicht veränderte sich. Seine blicklosen Augen schienen mich endlich wahrzunehmen. Er bewegte die Lippen, brauchte jedoch zwei Anläufe, ehe er sich zu artikulieren vermochte, und für ein paar Sekunden ähnelte er dadurch auf verstörende Weise dem lallenden Nobody.
„Chad hat sich am letzten Freitag zum Kriegseinsatz gemeldet.“
Ich schluckte trocken. „Was?“
„Konnte ihn nicht halten“, sagte Arvid. „Wollte auch nicht. Er ist ein Mann. Er muss selbst wissen, was er tut.“
„Aber … was … was sagt denn Emma dazu?“
Sie konnte es nicht zugelassen haben. Sie hätte es nie erlaubt. Vor nichts hatte sie stets solche Angst gehabt, wie …
Wieder Schweigen. Selbst Nobody hielt in seinem Gebrabbel inne. Das Schweigen verdichtete sich um mich herum, und ihn ihm dröhnte die Wahrheit, dröhnte so laut und so deutlich, dass ich sie voller Entsetzen erkannte und begriff, noch ehe Arvid schließlich erneut zu sprechen vermochte.
„Emma ist vor zwei Wochen gestorben“, sagte er. (Seite 314f)

Am nächsten Tag kam Harold, um seine Stieftochter zu holen.

1946 beendete Fiona die Schule, und weil sie nicht wusste, was sie werden wollte, schickte ihre Mutter, die von Emma Becketts Tod nichts wusste, sie im August noch einmal für ein paar Tage nach Staintondale. Dort sollte Fiona sich für ein Berufsziel entscheiden.

In der Bucht von Staintondale wurde Fiona von Chad defloriert.

Doch als Fiona sich nach Brian erkundigte, kam es zum Streit. Chad erzählte ihr, „das andere Kind“ habe einer jungen Frau, die sich auf der Farm als Hilfskraft bewarb, sabbernd an die Brüste gefasst. Bei einem Geistesgestörten mit dem Verstand eines Kindes und der Sexualität eines Mannes sei auch Schlimmeres zu befürchten gewesen. Arvid und Chad wollten Brian deshalb nicht länger auf der Farm dulden, ihn aber auch nicht in einem Heim unterbringen, denn das hätte Nachfragen ausgelöst. Immerhin lebte Brian seit sechs Jahren illegal auf der Farm, die seit Emmas Tod immer mehr verwahrloste, weil Arvid sich um nichts mehr kümmerte. Im Fall einer Auseinandersetzung mit den Behörden hätten Arvid und Chad keinen Rechtsanwalt bezahlen können. In dieser Lage ergriffen sie die Gelegenheit, Brian einem Farmer aus Ravenscar mitzugeben, der eine billige Arbeitskraft suchte. Dass Gordon McBright als teuflischer Sadist verschrien war, ignorierten sie. Fiona spürte, dass Brian in der Hölle gelandet war. Sie überwarf sich mit Chad und kehrte gegen ihre ursprüngliche Absicht nach London zurück. Aber sie verriet Chad nicht.

Nach dem Besuch einer Handelsschule arbeitete Fiona in einem Büro. Im August 1949 heiratete sie den Studenten Oliver Barnes. Im Jahr darauf brachte sie eine Tochter zur Welt: Alicia. 1957 folgte Oliver Barnes einem Ruf der Universität Hull, und sie zogen auf Fionas Wunsch hin nach Scarborough, sechzig Kilometer nördlich von Hull.

Alicia Barnes verstand sich als Hippie, berauschte sich mit Alkohol und Drogen. Sie starb an einer Überdosis, als ihre Tochter fünf Jahre alt war. Leslie wuchs deshalb bei ihrer Großmutter in Scarborough auf.

Chad heiratete mit fünfundvierzig eine zwanzig Jahre jüngere Frau, die einem Krebsleiden erlag, als ihre Tochter Gwen noch ein Kind war. Brian Somerville stand immer zwischen Chad und Fiona, aber sie blieben auch während Chads Ehe eng verbunden, und Fiona ging auf der Farm ein und aus.

Sie habe alles aufgeschrieben, meinte Fiona Barnes abschließend, um sich der Wahrheit zu stellen.

Leslie entnimmt den Aufzeichnungen, dass sich ihre Großmutter und Chad Beckett an Brian Somerville versündigten. Steht die Ermordung Fionas damit im Zusammenhang? Ist Chad in Gefahr? Aus Rücksicht auf den Ruf ihrer Großmutter schweigt Leslie gegenüber der Polizei, aber sie stellt eigene Nachforschungen an.

Dabei findet heraus, dass es 1970 im Zusammenhang mit Brian Somervilles Schicksal zu einem Skandal kam. Leslie fährt in das Fischerdorf Robin Hood’s Bay, um mit Semira Newton zu sprechen, von der sie in Zeitungen aus dem Jahr 1970 las. Semira stammt aus Pakistan und kam mit ihrem englischen Ehemann John Newton, einem Koch, nach Ravenscar. Als Kinder behaupteten, in einem Schafstall auf Gordon McBrights Farm ein angekettetes Kind gesehen zu haben, sah die ehemalige Sozialarbeiterin am 19. Dezember 1970 nach. Die Kinder hatten die Wahrheit gesagt; bei dem Gefangenen handelte es sich allerdings um einen schwer kranken Erwachsenen. Als Semira zu ihrem Auto zurückgehen wollte, stellte sich McBright ihr in den Weg. Sie tat so, als habe sie sich verfahren, aber der Farmer durchschaute sie. Weil Semira es nicht mehr geschafft hätte, mit dem Wagen wegzukommen, rannte sie in den nahen Wald. McBright holte sie ein und schlug sie halb tot. Dann ließ er sie liegen, ohne auch nur den Versuch zu machen, ihr Auto und andere Spuren zu beseitigen. Nach achtundvierzig Stunden fand man die Schwerverletzte. Sie überlebte zwar, jedoch verkrüppelt, und ihr Mann ließ sich 1977 von ihr scheiden, weil er das Zusammenleben mit einer physisch und psychisch kaputten Frau nicht länger ertrug.

Brian Somerville lebt seit Ende 1970 in einem Pflegeheim in Whitby.

Beim Verabschieden erfährt Leslie, dass Dave Tanner vor zwei Tagen bei Semira war, sich als Journalist ausgab und sie über die Ereignisse am 19. Dezember 1970 ausfragte.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Nach dem Gespräch mit Semira hält Leslie es endlich für erforderlich, die Polizei über die Vergangenheit ihrer ermordeten Großmutter aufzuklären, und sie verabredet sich telefonisch mit Valerie Almond in einer Pizzeria in Scarborough.

Statt direkt nach Scarborough zurückzufahren, beschließt Leslie unterwegs, kurz in Staintondale vorbeizuschauen, denn sie befürchtet, dass Chad in Gefahr ist und will ihn warnen.

Sie trifft ihn allein auf der Farm an. Colin und Jennifer reisten vorzeitig ab. Gwen erhielt Besuch von Dave; die beiden sind zum Strand gegangen. Aus Sorge um Gwen sucht Leslie nach den beiden. Weil sie deshalb nicht pünktlich zu ihrer Verabredung mit Valerie Almond kommen wird, versucht sie, die Polizistin anzurufen, aber es gibt hier kein Netz für ihr Handy. Sie findet weder Gwen noch Dave und kehrt zur Farm zurück. Chad liegt am Boden. Er blutet aus einer Schusswunde. Leslie wagt es nicht, zu ihrem Auto zu laufen, denn sie vermutet Dave im Freien. Stattdessen will sie den Festanschluss im Arbeitszimmer benutzen.

Doch Gwen hindert sie daran. Sie richtet einen Armeerevolver ihres Vaters auf Leslie, gibt ohne weiteres zu, auf Chad geschossen zu haben und behauptet, Dave liege mit einer Schusswunde hilflos am Strand. Er werde entweder verbluten oder am nächsten Morgen in der Flut ertrinken. Schon als Kind habe sie Chad und Fiona töten wollen, denn sie sei überzeugt davon, dass ihre Mutter nicht so früh an Krebs gestorben wäre, wenn sie nicht unter der engen Beziehung zwischen Chad und Fiona zu leiden gehabt hätte. Nach dem Eklat bei der Verlobungsfeier nutzte sie die Gelegenheit, den Verdacht auf Dave zu lenken und erschlug Fiona noch in derselben Nacht. Um die Polizei irrezuführen, gab sie Jennifer Fionas Lebensbeichte; sie wusste, dass Jennifer das Geheimnis nicht für sich behalten würde. Dass sie jetzt nicht nur Chad, sondern auch Dave niederschoss, war ein Fehler, der ihr aufgrund ihrer Verbitterung unterlief. Als Gwen erzählt, sie habe auf mehr als hundert Kontaktanzeigen geantwortet, sei aber jedes Mal gedemütigt worden, begreift Leslie, wie frustriert Gwen die ganze Zeit über war. Hinter der Fassade der Schüchternheit brodelte der Hass.

Während der Heimfahrt nach Leeds erfährt Jennifer von Colin, dass Dave entschlossen war, Gwen die Wahrheit zu sagen und die Verlobung aufzulösen. Sobald sie zu Hause sind, wählt Jennifer die Nummer der Beckett-Farm, aber niemand hebt ab. Jennifer will deshalb Leslie bitten, kurz nach Staintondale zu fahren und nachzusehen, aber die Ärztin geht ebenfalls nicht ans Telefon. Besorgt drängt Jennifer ihren Mann, sofort wieder zurückzufahren. Colin versucht, sie zu beschwichtigen und meint, Gwen werde sich schon nicht gleich etwas antun [Suizid], wenn Dave sich von ihr trennt. Aber Jennifer macht sich keine Sorgen um Gwen, sondern um Dave, denn sie weiß, wie hasserfüllt die frustrierte Frau ist. Colin schlägt vor, die Polizei zu verständigen, aber das will Jennifer nicht, denn sie rechnet damit, dass Valerie Almond in ihrer verzweifelten Anstrengung, endlich einen Ermittlungserfolg vorzuweisen, nur noch versuchen würde, Gwen als Mörderin zu überführen.

Valerie Almond wundert sich über Leslies Ausbleiben, und nachdem sie einige Zeit in der Pizzeria gewartet hat, fährt sie zu Fiona Barnes‘ Haus, wo Leslie wohnt. Vor der Tür trifft sie auf Stephen Cramer, der aus seinem Hotel herübergekommen ist, um nach seiner Ex-Frau zu schauen. Als niemand öffnet, fahren sie zusammen nach Staintondale. Auf dem Gelände der Farm sehen sie Leslies Auto. Im Haus stoßen sie auf Colin, der über den sterbenden Farmer gebeugt am Boden kauert. Wo seine Frau sei, fragt Valerie Almond.

Zur gleichen Zeit rennt Jennifer zum Strand, Gwens Lieblingsplatz. Tatsächlich entdeckt sie Gwen auf der über die Schlucht zum Strand führenden Hängebrücke. Gwen hat Leslie in ihrer Gewalt. Mit vorgehaltenem Revolver drängt sie die Ärztin, in die Tiefe zu springen. Jennifer ruft ihren Namen. Daraufhin richtet Gwen ihre Waffe auf sie und warnt sie davor, näher zu kommen. Plötzlich knallt ein Schuss. Gwen bricht zusammen. Valerie Almond hat ihr ins Bein geschossen.

Dave Tanner wird gerettet. Für Chad kommt jede Hilfe zu spät.

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„Das andere Kind“ ist eine Mischung aus Familienroman und Whodunit-Thriller. Charlotte Link hat sich eine Fülle von Einzelheiten ausgedacht, um die Charaktere und Motive der Hauptfiguren herauszuarbeiten. Sie baut vor allem auf psychologische Zusammenhänge, die in dem Beziehungsgeflecht der Akteure nach und nach zum Vorschein kommen. „Das andere Kind“ handelt von Egoismus, Unmenschlichkeit und vom Wegsehen, von Schuld, Lebenslügen, geistiger Verwahrlosung, Frustration und Hass. Wieder einmal leuchtet Charlotte Link in menschliche Abgründe.

Die Handlung von „Das andere Kind“ entwickelt sich auf zwei Zeitebenen. Der Hauptteil beginnt am 16. Juli 2008 und endet am 18. Oktober 2008, die Vorgeschichte spielt im Wesentlichen von September 1940 bis August 1946. Außerdem gibt es eine auf den 19. Dezember 1970 datierte Episode, die bereits in einer Art Prolog aufgegriffen und schließlich von einer Frau namens Semira Newton erzählt wird. Die Kriegsgeschichte hat Charlotte Link in Form einer Lebensbeichte der neunundsiebzigjährigen Fiona Barnes eingebaut („Das andere Kind.doc“). Die Aufteilung dieser Aufzeichnungen in fünf Abschnitte (S. 119ff / 215ff / 282ff / 421ff / 479ff) macht zwar aus dramaturgischen Gründen Sinn, wirkt jedoch konstruiert, denn es ist kaum nachvollziehbar, warum Leslie Cramer die erschütternden Notizen ihrer Großmutter nicht in einem Zug liest.

Charlotte Link entwickelt „Das andere Kind“ aus wechselnden Perspektiven. Das geht mit dem Verzicht auf einen Protagonisten einher, und bedeutet, dass dem Leser eine Identifikationsfigur vorenthalten wird.

Spannend und unterhaltsam ist es, wie Charlotte Link die Ermittlerin Valerie Almond – übrigens eine blasse Figur – herumirren lässt und uns Leser auf falsche Fährten lockt, aber die Auflösung erscheint dann doch etwas fragwürdig.

Urs Egger verfilmte den Roman „Das andere Kind“ von Charlotte Link fürs Fernsehen:

Originaltitel: Charlotte Link. Das andere Kind – Regie: Urs Egger – Drehbuch: Stefan Dähnert nach dem Roman „Das andere Kind“ von Charlotte Link – Kamera: Martin Kukula – Schnitt: Hans Funck, Andrea Mertens – Musik: Nellis Du Biel, Ina Siefert – Darsteller: Marie Bäumer, Hannelore Hoger, Bronagh Gallagher, Raquel Cassidy, Fritz Karl u.a. – 2013; 2 mal 90 Minuten

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Blanvalet Verlag

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Gert Loschütz - Ein schönes Paar
"Ein schönes Paar" ist ein stiller, subtiler Roman von Gert Loschütz. Weil er nicht als auktorialer Autor auftritt, sondern sich auf die subjektive Perspektive des Ich-Erzählers beschränkt, erfahren wir als Leser auch nicht mehr als dieser, und es bleiben Leerstellen. Die Darstellung folgt den assoziativ verknüpften Gedanken des Protagonisten.
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