Wolfgang Koeppen : Das Treibhaus
Inhaltsangabe
Kritik
Felix Keetenheuve war Redakteur beim „Volksblatt“. Als 1933 ein nationalsozialistischer Kommissar die Redaktion übernahm, die jüdischen Journalisten entließ und den anderen eine Bewährungsprobe zugestand, verzichtete der 27-Jährige darauf und reiste nach Paris. Nach jahrelangen Aufenthalten in Frankreich, Kanada und England kehrte er 1945 nach Deutschland zurück.
Vom Fenster aus beobachtet er ein sechzehnjähriges Mädchen, das sich in einer gegenüberliegenden Ruine vor dem Regen verkriecht. Er holt sie aus den Trümmern. Elke ist die Tochter des Gauleiters, der sich zusammen mit seiner Frau vergiftete. Mit Hilfe seines kleinen Katers überwindet Keetenheuve ihr Misstrauen, und wenn er nach Hause kommt, ruft Elke „Herrchen kommt!“ Die Liebe zu Elke ist für den aus dem Exil Zurückgekehrten der Versuch, wieder Wurzeln zu schlagen.
Keetenheuve engagiert sich für den politischen Wiederaufbau und will eifrig mithelfen, „der Nation neue Grundlagen des politischen Lebens und die Freiheit der Demokratie zu schaffen“. Er weiß, wie verworren und fragwürdig das ist, aber welches System ist besser als das parlamentarische?
Obwohl er nicht der Prototyp eines Politikers ist, wird er 1949 für die SPD in den Bundestag gewählt.
Als Redner überzeugte er nicht. Die Menge ahnte, er zweifele, und das verzieh sie ihm nicht. Sie vermissten bei Keetenheuves Auftritt das Schauspiel des Fanatikers, die echte oder die gemimte Wut, das berechnete Toben, den Schaum vor dem Maul des Redners, die gewohnte patriotische Schmiere, die sie kannten und immer wieder haben wollten.
Keetenheuve ist viel unterwegs, und wenn er mal einen Abend zu Hause verbringt, studiert er Akten oder er übersetzt „Die Blumen des Bösen“ von Baudelaire. Elke langweilt sich bald an seiner Seite, „und da ihre Freundschaft so Schiffbruch litt, ließen sie sich trauen“. Aber die Ehe machte alles nur noch schlimmer.
Ihm war ein Mensch überantwortet, und er ließ ihn fallen. Er reiste den Gespinsten nach, rang in den Ausschüssen um nebelhafte Menschenrechte, die nicht erkämpft wurden, es war ganz überflüssig, dass er in den Ausschüssen agierte, er würde für niemand etwas erreichen, aber er reiste hin und ließ Elke, das einzige Wesen, das ihm anvertraut, das seine Aufgabe war, in Verzweiflung verfallen.
Dann lernt Elke die Wanowski kennen, ein lesbisches Mannweib, das sie mit Alkohol und Drogen bekannt macht. Elke geht zugrunde. Im Sommer 1953 stirbt sie.
Keetenheuve will endlich einmal entschlossen handeln und nicht nur nachdenken. Er kauft sich einen weißen Viehtreibermantel, stiehlt auf einem Holzplatz ein Beil, lauert in einer Toreinfahrt der Wanowski auf, und als sie kommt, spaltet er ihr den Schädel.
Niemand hatte ihn gesehen, niemand hatte ihn sehen können, denn leider hatte er die Tat nicht getan, er hatte wieder nur geträumt, am hellen Tage geträumt und sich nicht aufgerafft, er hatte gedacht, statt zu handeln, es war ewig, ewig das alte Lied. Er hatte versagt. Vor jeder Lebensaufgabe versagte er.
Keetenheuve fährt mit dem Nibelungenexpress nach Bonn. In dem Talkessel herrscht ein Treibhausklima. Nach seiner Ankunft geht er ins Bahnhofsrestaurant.
Schulkinder hockten am runden Tisch, reizlos angezogene Mädchen, Jungen, die schon Beamtengesichter hatten, verstohlen rauchten, auch sie waren fleißig, wie der Kanzler, hatten Bücher aufgeschlagen, lernten, strebten (wie der Kanzler?), eine Jugend verbissenen Gesichts, was für vernünftig galt, was dem Vorankommen diente, steuerte ihr Herz, sie dachten an den Stundenplan und nicht an die Sterne.
Vor dem Bundestag stößt er auf eine Touristengruppe und schließt sich der Führung an. Einer der Männer fällt ihm besonders unangenehm auf:
Der Besucher war der üble Typ des Biernbanknationalisten, der sich mit Wollust von einem Diktator knechten ließ, wenn er nur selbst ein paar Stiefel bekam, um nach unten zu treten.
Wie ein Schlafwandler läuft Keetenheuve durch Bonn. Auf dem Münsterplatz begegnet er dem CDU-Abgeordneten Korodin. Der besitzt zwei Autos, aber er fährt demonstrativ mit öffentlichen Verkehrsmitteln, „während der Chauffeur, bequem und morgenmunter, Korodins Kinder im Wagen zur Schule brachte“.
Er kam an Baustellen vorüber. Man werkte über den Feierabend. Die Regierung baute, die Ämter bauten, die Bauaufsichtsbehörde baute, der Bund und die Länder errichteten Repräsentationshäuser, fremde Gesandtschaften mauerten sich hoch, Kartelle, Industrieverbände, Bankvereine, Ölgesellschaften, Stahlgewerke, Kohlenkontore, Elektrizitätswerke stellten hier ihre Verwaltungsgebäude hin, als brauchten sie in der Regierungssonne keine Steuern zu zahlen, Versicherungsgesellschaften stockten auf und bauten vor, und Versicherungsgesellschaften, bei denen sich Versicherer für den Versicherungsfall versicherten, konnten nicht Räume genug finden, ihre Policen zu verwahren, ihre Anwälte unterzubringen, ihre Lebenserwartungsstatistiker zu beherbergen, ihre Gewinne zu verputzen, ihren Reichtum zu zeigen.
Keetenheuve trifft Philip Dana, den Nestor der Korrespondenten, und er besucht Mergentheim, seinen früheren Kollegen beim „Volksblatt“, der 1933 geblieben war, zum Hauptschriftleiter avancierte und jetzt als einer der einflussreichsten Journalisten gilt.
Vor den Bundestagswahlen im September 1953 wird heftig über die vom Bundeskanzler angestrebte Westintegration und Wiederbewaffnung gestritten. Der SPD-Vorsitzende Knurrewahn wendet sich gegen die Aufrüstung zu diesem Zeitpunkt und warnt, ein Bündnis der Bundesrepublik mit den Westmächten werde die Chancen für die Wiedervereinigung Deutschlands zunichte machen.
Der Pazifist Keetenheuve kämpft noch kompromissloser als sein Parteichef gegen die Absichten des Regierungschefs. Deshalb bestellt ihn der einflussreiche CDU-Politiker Frost-Forestier vor der entscheidenden Bundestagsdebatte zu sich. In dem Bürogebäude, in dem es von telefonierenden Sekretärinnen wimmelt, kommt dieser sich vor wie Daniel in der Löwengrube. Frost-Forestier schlägt dem SPD-Abgeordneten vor, sich in seiner Rede vor dem Hohen Haus zurückhaltend über die Regierungspolitik zu äußern und bietet ihm dafür den Posten eines deutschen Gesandten in Guatemala an. Darauf lässt Keetenheuve sich nicht ein.
Auch so gewinnt die Regierung die Abstimmung im Bundestag.
Die Verhältnisse hatten ihn besiegt, nicht die Gegner. Die Gegner hatten ihn kaum beachtet.
Keetenheuve irrt erneut durch Bonn. Er trifft zwei Heilsarmeemädchen wieder, denen er kürzlich in einer Gaststätte statt der üblichen 50 Pfennige 5 Mark in die Sammelbüchse gesteckt hatte. Die jüngere der beiden ist sechzehn; sie heißt Lena und kommt aus Thüringen. Dort hatte sie eine Mechanikerlehre gemacht, aber nach der Flucht ihrer Familie in den Westen steckte das Arbeitsamt sie in eine Küche zum Geschirrspülen. Sie lief fort. Handlungsreisende und Fernfahrer, die sie mitnahmen, begrabtschten sie nur. Im Bonner Bahnhof lernte die Obdachlose schließlich Gerda kennen, eine verbitterte junge Lesbierin, die für die Heilsarmee sammelt. Keetenheuve versprach Lena bei der ersten Begegnung, sich um eine passende Stelle zu kümmern, aber er hat noch nichts unternommen. Trotzdem gibt sich ihm Lena in den Ruinen willig hin.
Es war ein Akt vollkommener Beziehungslosigkeit, den er vollzog, und er starrte fremd in ein fremdes, den Täuschungen der Lust überantwortetes Gesicht. Nur Trauer blieb.
Danach läuft Keetenheuve zur Rheinbrücke.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Der Abgeordnete war gänzlich unnütz, er war sich selbst eine Last, und ein Sprung von dieser Brücke machte ihn frei.
„Das Treibhaus“ ist keine ausgewogene Beschreibung des Politikbetriebes in Bonn, sondern eine scharfe Kritik daran und an der Restaurationspolitik Konrad Adenauers im Besonderen. In diesem Interessengeflecht ist ein idealistischer Intellektueller zum Scheitern verurteilt. Da geht es nicht um das Wohl der Gemeinschaft, sondern um das Machbare, um Kompromisse und letztlich um Vorteile, Geld, Ansehen, Karriere und Macht. Der sensible, melancholische Oppositionspolitiker Keetenheuve ist nicht bereit, Abstriche zu machen; er misstraut der Macht, lehnt sie ab und weiß doch, dass er ohne Macht und Einfluss nichts verändern kann. In der entscheidenden Abstimmung im Bundestag siegt die Regierungspartei. Keetenheuve hat nichts erreicht und umsonst „das einzige Wesen, das ihm anvertraut, das seine Aufgabe war, in Verzweiflung verfallen“ lassen.
Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Romans „Das Treibhaus“ erkannten nur wenige seinen literarischen Wert. Obwohl Wolfgang Koeppen im Vorwort betonte, dass „die Dimension aller Aussagen des Buches … jenseits der Bezüge von Menschen, Organisationen und Geschehnissen unserer Gegenwart“ liege, glaubten viele, Bundeskanzler Konrad Adenauer, den Oppositionsführer Kurt Schumacher und andere Politiker bzw. Journalisten mit Romanfiguren identifizieren zu können. Die Debatte über die Wiederbewaffnung im Rahmen einer Westintegration hat tatsächlich stattgefunden, allerdings über einen längeren Zeitraum verteilt.
Die englische Übersetzung des Romans wurde 2001 in den USA begeistert aufgenommen („The Hothouse“, Übersetzer: Michael Hofmann).
Auf virtuose Weise lässt Wolfgang Koeppen die Leser an den Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen des Protagonisten Keetenheuve teilhaben. Deshalb ist „Das Treibhaus“ ist nicht nur ein wertvolles Zeugnis über die Nachkriegsjahre, die Bonner Republik und den Politikbetrieb schlechthin, sondern – als Teil der auch die Romane „Tauben im Gras“ und „Der Tod in Rom“ umfassenden Trilogie – ein Meilenstein der Literaturgeschichte.
Peter Goedel verfilmte den Roman „Das Treibhaus“ 1987.
Die Trilogie „Tauben im Gras“, „Das Treibhaus“ und „Der Tod in Rom“ von Wolfgang Koeppen gibt es auch als Hörspiele (Bearbeitung und Regie: Leonhard Koppelmann und Walter Adler, Sprecher: Ulrich Noethen, Axel Milberg, Thomas Thieme, Irm Hermann u. a., Der Hörverlag, München 2009, 6 CDs, 425 Minuten, 29.95 €).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Scherz & Goverts Verlag
Die Adenauer-Ära
Die Debatte über die Wiederbewaffnung
Wolfgang Koeppen (Kurzbiografie)
Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras
Wolfgang Koeppen: Der Tod in Rom