T. C. Boyle : Riven Rock

Riven Rock
Originalausgabe: Riven Rock, New York 1998 Riven Rock Übersetzung: Werner Richter Carl Hanser Verlag München / Wien 1998
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Wegen sexueller Wahnvorstellungen, die Stanley McCormick schon in jungen Jahren befielen, musste er von Frauen ferngehalten werden. Deshalb wurde er in dem streng bewachten Familienanwesen "Riven Rock" untergebracht. Seine Frau Katherine, die ihm die Treue hielt und bis zum Schluß an seine Genesung glaubte, durfte ihn erst nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder sehen.
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Kritik

T. C. Boyle erzählt in "Riven Rock" die aufwühlende und authentische Geschichte des Erben eines steinreichen Fabrikanten mit einfachen Worten, glaubwürdigen Dialogen und einer grandiosen Begabung für originelle, bildhafte Formulierungen.
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Der Lebensbericht über Stanley McCormick basiert auf einem authentischen Fall. Die Erfindung einer Mähmaschine machte Stanleys Vater zu einem der reichsten Männer Amerikas. Als dessen Erbe stehen dem gut aussehenden, gebildeten, künstlerisch begabten jungen Mann alle Türen offen. Er lernt die schöne, selbstbewusste Katherine Dexter kennen, eine Frau, die am Massachusetts Institute of Technology ein Biologiestudium abgeschlossen hat, von der Gesellschaft geschätzt und anerkannt wird und ebenfalls aus einem reichen Elternhaus stammt.

Stanley und Katherine heiraten 1904; da kennen sie sich seit zwei Jahren. Dem 29-jährigen Fabrikantensohn sind alle Wege in die Zukunft geebnet. Nur: Schon während der Verlobungszeit verfolgen ihn Zwangsvorstellungen und Stimmen; sein Verhalten anderen Menschen gegenüber wird immer aggressiver, vor allem bei Frauen – auch seiner eigenen. Seine Ausfälle sind nicht nur verbale Beleidigungen, sondern er prügelt sich regelrecht aus unerfindlichen Gründen. Er kann die Ehe nicht vollziehen; die Flitterwochen entwickeln sich für Katherine zur Hölle. Er ist gemeingefährlich. Die Diagnose „Schizophrenie / Psychopathia sexualis“ macht die Einweisung in eine Nervenheilanstalt unvermeidlich.

Er sah Dinge, die nicht da waren, scheußliche, häßliche Dinge, Wesen aus dem Innersten seines Kopfes, die viel lebendiger waren als jedes Leben, das er je gekannt hatte, dazu hörte er Stimmen, die ohne Münder, Kehlen und Zungen sprachen …

Der Reichtum der Fabrikantenfamile ermöglicht es, dass Stanley als einziger Patient in ein eigens von den Eltern erbautes festungsähnliches Gebäude auf einem 35 ha großen Anwesen in Kalifornien in Gewahrsam gebracht werden kann: Riven Rock. Es kann als Ironie des Schicksals gesehen werden, dass dieses palastartige „Gefängnis“ vom Entwurf bis zur Fertigstellung von Stanley mit geplant und überwacht worden war, um seine Schwester, die ebenfalls an einer Nervenkrankheit litt, darin unterzubringen. (Mary Virginia hat im übrigen mit ihrer provokativ dargebotenen Nacktheit die erste sexuelle Irritation ihres jüngeren Bruders hervorgerufen.)

Riven Rock ist ein Haus ohne Frauen; nicht einmal weibliche Angestellte dürfen sich dort aufhalten. Für Stanleys Pflege ist ein Stab von Bediensteten abgestellt. Vor allem der Oberpfleger Edward O’Kane mit drei weiteren Wärtern ist für die Aufsicht und Pflege des unberechenbaren Patienten zuständig.

Der erste Arzt, der zur dauernden Überwachung und Therapierung Stanleys von Katherine verpflichtet wird, ist eigentlich Primatenforscher. Es wird ihm erlaubt, auf dem weitläufigen Anwesen eine Affenstation einzurichten. Von der Forschung an den Hominiden (und seinem liebevoll gehätschelten orangegelben Orang-Utan Julian) verspricht sich Dr. Hamilton Rückschlüsse auf Stanleys sexuelle Aggression gegenüber Frauen. Sein Nachfolger, Dr. Brush, ist ein nicht sehr eifriger Therapeut, mehr Quacksalber als Wissenschaftler – und er ist extrem fett, was ihm allerdings bei der Überwältigung des oft renitenten, um sich schlagenden Patienten zugute kommt: er begräbt ihn einfach unter seinem Fleischberg. Ein paar Mal wechseln noch die Ärzte – bis zum Schluss Dr. Kempf kommt, ein bekennender Freudianer, der sich vehement gegen das Ansinnen Katherines wehrt, bei Stanley eine von der Wissenschaft neu eingeführte Drüsenbehandlung auszuprobieren.

Der Oberpfleger Edward O’Kane bleibt als Einziger von Anfang an bei Stanley. Besser als alle Ärzte kann er die wechselnden Stimmungen und sich anbahnenden Ausbrüche des Kranken vorhersehen. Routiniert wehrt er die körperlichen Attacken Stanleys ab, und er muss ihm immer wieder einmal hinterherrennen, um ihn bei seinen diversen Fluchtversuchen einzufangen. O’Kane bekommt von Katherine ein gutes Gehalt für seine gewissenhafte Arbeit, die ihm oft nicht sehr leicht fällt, nicht nur wegen andauernder Unappetitlichkeiten und der Verwahrlosung des früher so peniblen Fabrikantensohnes, sondern auch und sehr häufig, weil er sich morgens gar nicht gut fühlt. Edward ist ein notorischer Trunkenbold (sein Alkoholismus entwickelt sich zeitweise zum Delirium) und ein unverbesserlicher Frauenheld. Sein gutes Aussehen – er ist groß, muskulös und charmant – bringt viele Frauenherzen zum Schmelzen: das nützt er aus. Seine Frau lässt er mit dem vorehelich gezeugten Sohn schmählich sitzen. Das italienische Mädchen, das er bei einer Bedienstetenfamile auf dem Anwesen kennen lernt, entjungfert er und kümmert sich dann nicht mehr um sie, obwohl er vermutlich der Vater ihres in einer Ehe mit einem „Spaghetti“ geborenen Kindes ist. Edward O’Kane ist der Mann fürs Grobe, der Stanley McCormick zur Seite steht und ihm jahrzehntelang die Treue hält.

Das tut auch Katherine. Obwohl sie ihren Ehemann seit seiner Einlieferung nicht mehr persönlich sehen darf, schreibt sie ihm, telefoniert mit ihm – wenn er dazu in der Lage ist – und fährt jährlich nach Riven Rock, wo sie Stanley vom Garten aus mit dem Feldstecher hinter den vergitterten Fenstern zu beobachten versucht. An Weihnachten arrangiert sie Feste für das Personal und verteilt Geschenke; auch für Stanley hat sie Berge von Schachteln dabei. Besuchen darf sie ihn nicht. Aus Sicht der Ärzte wäre es zu gefährlich für sie, und der Patient würde durch die Aufregung nervlich zu sehr beansprucht. Katherine hat Stanley zwar entmündigen lassen – gegen den erbitterten Widerstand der McCormick-Familie –, aber sie verwaltet gewissenhaft das Vermögen und nutzt es in ihrem Sinne: Sie kämpft maßgeblich für die Frauenrechte, ist daran beteiligt, dass die Prohibition in Kalifornien durchgesetzt wird (sehr zum Leidwesen von O’Kane, der gepanschten Fusel trinken muss, als sein gehorteter, nicht so kleiner Vorrat an Alkohol ausgeht) und plädiert für Geburtenregelung (sie schmuggelt sogar kofferweise Pessare). Von Männern hält sie sich fern; eine enge Freundin berät und unterstützt sie in ihrem sozialen Engagement. (Ob es sich um eine lesbische Beziehung handelt, kann nicht eindeutig beurteilt werden.)

Im Herbst 1927 teilt Dr. Kempf Katherine mit, dass aufgrund einer Psychoanalyse des Patienten eine radikale Wandlung in seinem Verhalten eingetreten sei:

… sein Hass auf den tyrannischen Vater sowie die Angst und das Misstrauen vor der kastrierenden Mutter seien nun freigelegt, alle Aspekte seiner Misogynie untersucht, Selbsterkenntnis und Phobien in Zusammenhang gestellt worden, und nun sei er bereit … sich in Gegenwart des anderen Geschlechts als unterhaltsamer, vollendeter Gentleman zu geben.

Was der Arzt nicht erwähnt oder vielleicht auch nicht weiß, ist das vorpubertäre Erlebnis der Exhibition von Stanleys Schwester und die demütigende Erfahrung, die er bei einer Prostituierten in Paris machte. Dr. Kempf meint nun verantworten zu können, dass Katherine ihren Ehemann persönlich zu Gesicht bekommt und ihn vielleicht sogar berühren darf.

Ein Wiedersehen nach 20 Jahren! Katherine ist jetzt 52 Jahre alt, aber aufgeregt wie vor ihrer Verlobung. Die Begegnung verläuft nicht so, wie sich das alle Beteiligten vorgestellt haben. Stanley – er ist ein Jahr älter als seine Frau – läuft den Pflegern „behände wie ein Achtzehnjähriger“ davon und wird von seinen Aufpassern gewaltsam zu Boden gedrückt.

… er fing ihren (Katherines) Blick auf. „Ich habe …“, begann er, und in seinem Gesicht lag Staunen, das Staunen der Entdeckung, der Offenbarung: Heureka, Heureka, „ich habe dein Gesicht gesehen“, sagte er. „Ich habe dein Gesicht gesehen!“

Stanley McCormick stirbt mit 72 Jahren, immer noch als „Gefangener“ in Riven Rock.

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Tom Coraghessan Boyle erzählt – wie in seinem Roman América – eine aufwühlende Geschichte mit einfachen Worten, glaubwürdigen Dialogen und einer grandiosen Begabung für originelle, bildhafte Formulierungen.

… war er ein Fels der Beständigkeit, bis auf einen irritierenden kleinen Tic, dessen er sich selbst vermutlich gar nicht bewusst war: etwa alle dreißig Sekunden rutschten seine Augäpfel noch oben und verschwanden in einem so plötzlichen Spasmus hinter dem oberen Lid, dass es einem vorkam, als sähe man einem Spielautomaten bei der letzten Umdrehung der Walze zu.

Manchmal übertreibt Boyle es auch ein bisschen mit seinen Vergleichen, und die eine oder andere Metapher ist missglückt.

Eddies Kopf fühlt sich an wie eine Eierschale im Schraubstock.

Während es Stanley McCormick nicht erlaubt ist, seine Manneskraft auszuleben, ist dies umso mehr dem anderen Protagonisten Edward O’Kane gestattet. Katherine bleibt all die Jahre enthaltsam und glaubt bis zuletzt an Stanleys Genesung.

… was Männer anging, hätte sie ebensogut ihr Leben lang Nonne sein können. Geschlechtliche Liebe – heterosexuelle, der Fortpflanzung dienende Liebe – war etwas, das sie nie erfahren würde, damit hatte sie sich abgefunden. doch jenseits der geschlechtlichen gab es auch die loyale Liebe, eine platonische, idealisierte Liebe …

„Riven Rock“ ist sicher nicht zufällig als Name für den abgeschiedenen Aufenthaltsort gewählt: Der „gespaltene Fels“, in dem der Patient an seiner gespaltenen Persönlichkeit leidet.T. C. Boyle legt den temporeich, bildhaft und lebendig geschriebenen Roman als Tragikomödie vor und geht trotz eingestreuter Bosheiten liebevoll mit seinen Personen um.

Die Geschichte des Erben eines steinreichen Fabrikanten beruht auf Tatsachen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Tom Coraghessan Boyle (kurze Biografie / Bibliografie)

Tom Coraghessan Boyle: Wassermusik
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Tom Coraghessan Boyle: América
Tom Coraghessan Boyle: Schluss mit cool
Tom Coraghessan Boyle: Zähne und Klauen
Tom Coraghessan Boyle: Talk Talk
Tom Coraghessan Boyle: Die Frauen
Tom Coraghessan Boyle: Das wilde Kind
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Thomas Steinfeld (Hg.) - Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts
In dem Buch sind alle so genannten Patentexte versammelt, mit denen die 100 Titel der zwei Romanreihen der "Süddeutsche Zeitung Bibliothek" 2004/2005 bzw. 2007/2008 jeweils samstags in der Süddeutschen Zeitung vorgestellt wurden.
Hundert große Romane des 20. Jahrhunderts

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.