T. C. Boyle : Das wilde Kind

Das wilde Kind
Originalausgabe: Wild Child Viking, New York 2010 Das wilde Kind Übersetzung: Dirk van Gunsteren Carl Hanser Verlag, München 2010 ISBN: 978-3-446-23514-4, 107 Seiten dtv, München 2012 ISBN: 978-3-423-14065-2, 107 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im Januar 1799 taucht ein schätzungsweise elfjähriger, augenscheinlich nackt und allein im Wald aufgewachsener Junge in einem französischen Dorf auf. Nachdem der Natur­forscher Abbé Bonnaterre das wilde Kind eine Weile beobachtet hat, muss er es ans Taubstummeninstitut in Paris abgeben. Der Institutsleiter hält das Kind für hoffnungslos schwachsinnig und will es in eine Irren­anstalt abschieben, aber der junge Arzt Dr. Jean Itard nimmt es auf und versucht fünf Jahre lang, wenigstens das Erlernen sprachlicher Grundbegriffe zu erzwingen ...
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Kritik

T. C. Boyle hält sich in seiner Erzählung über das wilde Kind von Aveyron eng an die überlieferte Geschichte und schreibt sachlich wie ein Berichterstatter. Es geht um die Funktion der Erziehung und den Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation.
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Im Herbst 1797 entdecken Jäger aus dem Dorf Lacaune in der Languedoc ein schätzungsweise acht oder neun Jahre altes, nacktes und verwildertes Kind, das augenscheinlich allein im Wald lebt. Drei Holzfäller bemerkten es als Nächste im Frühjahr 1798. Sie jagen den Jungen und bringen ihn gefesselt ins Dorf Lacaune. Aus der deutlich sichtbaren Narbe an der Kehle schließen die Dorfbewohner, dass versucht worden war, das Kind mit einem Messer zu töten. Der Buchautor gibt vor, mehr zu wissen:

Mit fünf Jahren war er, das kleine, unterernährte, störrische dreizehnte Kind einer störrischen Bauernfamilie, geistig ungeübt und der Sprache eigentlich nicht mächtig, von einer Frau, die er kaum kannte oder anerkannte, der zweiten Frau seines Vaters, in den Wald von La Bassine geführt worden.

Die Frau habe ihr Stiefkind mit einem Küchenmesser töten wollen, so der Autor weiter, und es dann in dem Glauben liegen lassen, es sei tödlich verletzt. Aber das Kind überlebte.

Das wilde Kind wird im Hinterzimmer der Taverne von Lacaune eingesperrt, flieht jedoch nachts durch das Strohdach. Erst im Januar 1799 taucht es wieder auf, und zwar bei dem verwitweten Färber François Vidal im Dorf Saint-Sernin. Der bietet ihm Haferbrei, Brot und Käse an, aber es weiß damit offenbar nichts anzufangen. Erst als es Kartoffeln sieht, die es auch schon auf Äckern ausgegraben hat, macht es sich gierig darüber her. Als der Färber vom Melken seiner Kuh zurückkommt, findet er das Innere seiner Hütte verwüstet vor, und dem wilden Kind hängt noch der Schwanz einer Maus aus dem Mund.

Entsetzt eilt François Vidal daraufhin zu Jean-Jacques Constans-Saint-Estève, dem für die Region zuständigen Regierungskommissar, und berichtet ihm von dem wilden Kind. Der holt den Jungen und bringt ihn ungeachtet des Protests seiner Ehefrau für die Nacht im Arbeitszimmer unter. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass das wilde Kind den aus Gambia stammenden Papagei Philomène verspeist hat.

Noch am selben Tag schickt Jean-Jacques Constans-Saint-Estève den Jungen ins Waisenhaus von Saint-Affrique. Die Fahrt ist für das Kind eine Tortur, denn es fürchtet sich vor den Pferden und muss sich aufgrund des Gerüttels mehrmals übergeben.

Nach zwei Wochen im Waisenhaus wird der Junge von Abbé Pierre-Joseph Bonnaterre abgeholt. Der Professor für Naturgeschichte an der Ecole Centrale in Rodez möchte mehr über das wilde Kind herausfinden. Zu diesem Zweck spielt er ihm laute Musik vor, aber der Junge reagiert überhaupt nicht darauf. Erst als er hört, wie der Gärtner in einiger Entfernung eine Nuss knackt, springt er auf, rennt hin und reißt die Nüsse an sich. Das wilde Kind ist also nicht taub, wie Bonnaterre zunächst annahm.

Nicht nur der Professor in Rodez interessiert sich für das wilde Kind. Abbé Roch-Ambroise Sicard, der Leiter des Taubstummeninstituts in Paris, hat ebenfalls beantragt, es untersuchen zu dürfen. Nachdem der Innenminister das Gesuch genehmigt hat, soll der Junge in einer Postkutsche nach Paris gebracht werden. Unterwegs erkrankt er an Pocken und muss zehn Tage lang im Hinterzimmer eines Gasthauses behandelt werden.

Abbé Sicard schätzt das Kind als aussichtslosen Fall ein, und weil er sich damit nicht seinen Ruf gefährden möchte, beabsichtigt er, es so schnell wie möglich in die Irrenanstalt Bicêtre abzuschieben. Der 25-jährige, eben erst approbierte Arzt Jean-Marc Gaspard Itard hält ihn davon ab. Mit Sicards Erlaubnis nimmt der Junggeselle den Jungen in seiner Wohnung im Hauptgebäude des Instituts auf und beauftragt Madame Guérin, die Ehefrau des Hausmeisters, ihm bei der Betreuung des wilden Kindes zu helfen. Itard will beweisen, dass er das wilde Kind erziehen kann.

Weil der inzwischen etwa 13 Jahre alte Junge auf den Laut O reagiert, gibt Jean Itard ihm den Namen Victor.

Mit viel Geduld zeigen der Arzt und die Haushälterin dem Kind, wie man mit einem Löffel isst.

Als die 24-jährige Salonnière Juliette Récamier 1802 von dem wilden Kind hört, lädt sie Jean-Marc Gaspard Itard mit ihm zusammen auf ihr Schloss in Clichy-la-Garenne ein. Itard lässt Madame Guérin einen Anzug für seinen Schützling nähen und folgt der Einladung, von der er sich Aufmerksamkeit in der Gesellschaft verspricht. Die Gastgeberin erwartet von dem Arzt, dass er wie ein Zirkusdompteur Kunststücke mit dem wilden Kind vorführt und ist noch mehr enttäuscht, als Victor keinerlei Interesse an ihr zeigt.

In mühsamer Arbeit versucht Itard den Jungen zu lehren, wie einige Gegenstände entsprechenden Zeichnungen zugeordnet werden. Sein eigentliches Ziel ist es, die Zeichnungen durch die geschriebenen Begriffe auszutauschen und Victor auf diese Weise an die Sprache heranzuführen. Aber das ist unmöglich. Als Victor das erste Wort spricht – lait (Milch) –, jubelt der Arzt über den Fortschritt, aber er muss bald feststellen, dass Victor beim Anblick der verschiedensten Dinge „lait“ ruft, also die Bedeutung des Wortes nicht erfasst hat. Es dauert Jahre, bis Victor in der Lage ist, etwa 30 verschiedene Gegenstände herbeizuholen, deren Bezeichnungen Itard ihm zeigt.

Als Victor einmal von einem epileptischen Anfall geschüttelt wird, hält Itard ihn kopfüber aus dem Fenster. Der Schreck und das Blut im Kopf bringen Victor wieder zur Besinnung.

Im dritten Jahr wagt der Arzt folgendes Experiment: Nachdem Victor etwas besonders gut gemacht hat, sperrt Itard ihn in eine Besenkammer, bestraft ihn also, statt ihn zu belohnen. Dass Victor sich dagegen mit Händen und Füßen wehrt, hält Jean-Marc Gaspard Itard für einen Beweis dafür, dass das Kind im Lauf der Zeit so etwas wie einen Gerechtigkeitssinn entwickelt habe.

In der Pubertät fasst Victor einem Mädchen, das gerade neu ins Taubstummeninstitut aufgenommen wurde, zwischen die Beine. Das Mädchen kreischt. Victor flüchtet, und Itard gibt schließlich die Suche nach ihm auf. Madame Guérin findet Victor nach drei Tagen – mit Bisswunden eines Hundes, den eine Frau auf ihn hetzte.

Bei einem Picknick Itards und Victors mit dem Ehepaar Guérin und dessen drei Töchtern im Jardin du Luxembourg schleppt der Junge so viele belegte Brote wie er tragen kann zu einer Baumgruppe. Dann lockt er eines der Mädchen hin – und wird zornig, als Julie nach ein paar Minuten nicht länger bleiben will.

Scham kennt Victor keine. Wann immer es ihn überkommt, nimmt er seinen Penis heraus und masturbiert, auch vor den Mädchen im Taubstummeninstitut. Abbé Sicard verlangt, dass das wilde Kind weggebracht wird und schlägt eine Kastration vor. Jean Itard, der bereits mit dem Gedanken spielte, eine Prostituierte für Victor zu besorgen, weil er sich von der Triebabfuhr eine Beruhigung des Jungen versprach, bleibt nichts anderes übrig, als einen Abschlussbericht für das Innenministerium zu verfassen. Er muss sich eingestehen, fünf Jahre verschwendet zu haben.

Die Regierung gewährt Madame Guérin eine Pension für die Pflege Victors und stellt ihr ein kleines Haus unweit des Instituts zur Verfügung, in dem sie mit ihrem zehn Jahre älteren Ehemann und dem Jungen wohnen kann.

Obwohl Monsieur Guérin einige Zeit später stirbt, fährt Victor fort, den Tisch für drei Personen zu decken – so wie er es gelernt hat.

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Das „wilde Kind von Aveyron“ wurde erstmals im Frühjahr 1797 in einem Wald bei Saint-Sernin-sur-Rance im Département Aveyron entdeckt und aufgegriffen. Zwei Mal floh der Junge, bis er nach Rodez gebracht wurde, wo ihn der Naturforscher Abbé Pierre Joseph Bonnaterre beobachtete. 1799 überführte man das wilde Kind, dessen Alter auf elf oder zwölf Jahre geschätzt wurde, nach Paris, ins Taubstummeninstitut. Dort hielten es die Ärzte mit Ausnahme Dr. Jean Itards für hoffnungslos schwachsinnig.

Jean Itard war nach dem Medizinstudium in Marseille 1800 ans Taubstummen­institut in Paris gekommen. Gleich im ersten Jahr beschäftigte er sich dort mit dem wilden Kind. Um dem Jungen eine Einweisung in eine Irrenanstalt zu ersparen, nahm er ihn mit nach Hause. Dort wurde er vor allem von der Haushälterin Madame Guérin betreut.

In einem Gutachten für die Académie de Médicine (1801) und einem Bericht ans französische Innenministerium (1806) rechtfertigte Dr. Itard seine Bemühungen, dem wilden Kind, das nicht sprechen konnte, wenigstens ein paar Fertigkeiten beizubringen.

Tom Coraghessan Boyle hält sich in seiner Erzählung „Das wilde Kind“ eng an die überlieferte Geschichte über den Jungen, der wie Kaspar Hauser in die Zivilisation gezerrt wird. Es geht um den Gegensatz zwischen Natur und Kultur bzw. Zivilisation, um die Frage, was den Menschen menschlich macht und die Funktion der Erziehung. T. C. Boyle kritisiert Wissenschaftler wie Abbé Pierre-Joseph Bonnaterre und Abbé Roch-Ambroise Sicard, die das wilde Kind lediglich als Forschungsobjekt betrachten. Jean-Marc Gaspard Itard verhindert zwar die Abschiebung des Jungen in eine Irrenanstalt, aber er versucht, das Erlernen sprachlicher Grundbegriffe zu erzwingen. Das Kind darf nicht „wild“ bleiben. Auch das ist im Grunde grausam.

T. C. Boyle schreibt als auktorialer Erzähler, knapp und sachlich wie ein Berichterstatter.

„Wild Child“ erschien im Januar 2010 in einem Band mit 14 Erzählungen und Kurzgeschichten von T. C. Boyle („Wild Child And Other Stories“). Dirk van Gunsteren übersetzte die Erzählung ins Deutsche: „Das wilde Kind“.

Die Erzählung „Das wilde Kind“ von T. C. Boyle gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Boris Aljinović (Regie: Ralf Ebel, ISBN 978-3-86717-542-5).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Das wilde Kind von Aveyron
François Truffaut: Der Wolfsjunge
Peter Sehr: Kaspar Hauser

Tom Coraghessan Boyle (Kurzbiografie / Bibliografie)
Tom Coraghessan Boyle: Wassermusik
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Brigitte Kronauer - Der Scheik von Aachen
Brigitte Kronauers tragikomischer, vor allem aus Dialogen und inneren Mono­logen aufgebauter Roman "Der Scheik von Aachen" dreht sich um Liebe und Selbstzweifel, Trauer und Enttäuschung, Schuldgefühle und Zynismus.
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