Minette Walters : Der Schrei des Hahns

Der Schrei des Hahns
Originalausgabe: Chickenfeed Pan Macmillan, London 2006 Der Schrei des Hahns Übersetzung: Mechthild Sandberg-Ciletti Wilhelm Goldmann Verlag, München 2008 ISBN: 978-3-442-46653-5, 125 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1920 gewinnt die 22-jährige Elsie Cameron den vier Jahre jüngeren Mechaniker Norman Thorne als festen Freund. Als er 1921 arbeitslos wird, rückt die von ihr ersehnte Hochzeit in die Ferne. Sie überredet ihn, eine Hühnerfarm zu gründen, aber damit verschuldet er sich. 1924 verliebt Norman sich in eine junge, unkomplizierte Schneiderin, die bald anfängt, die Nächte mit ihm auf der Farm zu verbringen. Verzweifelt versucht Elsie, die Eheschließung mit einer vorgetäuschten Schwangerschaft zu erzwingen ...
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Kritik

"Der Schrei des Hahns" ist eine packende Mischung aus Psychothriller und Tatsachenroman. Minette Walters erzählt die verstörende Geschichte knapp und sachlich, stringent und schnörkellos.
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Schneeschwere Wolken verdunkelten den Himmel an dem Tag, an dem Elsie Cameron das erste Mal mit Norman Thorne sprach. Vielleicht hätte Elsie die düstere Stimmung als Vorzeichen kommender Ereignisse nehmen sollen. Aber wie hätte sie ahnen sollen, dass ein Mann, den sie in der Kirche kennenlernte, sie vier Jahre später an einem Ort namens Blackness Road in Stücke hacken würde? (Seite 9)

Mit diesen Sätzen beginnt Minette Walters ihren Roman „Der Schrei des Hahns“.

Elsie Cameron – „klein, reizlos, zweiunzwanzig Jahre alt, mit abgekauten Fingernägeln und dicken Brillengläsern“ (Seite 9) – arbeitet bei einer kleinen Firma in London als Stenotypistin.

Elsie machte den Männern Angst. Sie war zu heftig in ihren Gefühlen, zu vereinnahmend, zu verkrampft. (Seite 11)

In der Methodistenkirche in Kensal Rise, einem Stadtviertel im Norden Londons, fällt ihr im Winter 1920/21 ein vier Jahre jüngerer Mann auf, und beim Hinausgehen tritt sie ihm absichtlich in die Ferse, damit sie ihn ansprechen kann. Er heißt Norman Thorne. Als er acht Jahre alt war, starb seine Mutter. Mit sechzehn meldete er sich zum Royal Naval Air Service, aber der Erste Weltkrieg endete drei Wochen nach seiner Ankunft in Belgien, und er kam nicht mehr an die Front. Inzwischen hat er eine Stelle als Mechaniker bei Fiat Motors in Wembley.

Elsie und Norman verabreden sich mehrmals, und die Zweiundzwanzigjährige träumt bereits von einer Hochzeit, doch im Sommer 1921 wird Norman entlassen. Als Arbeitsloser ist Norman nicht in der Lage, eine Familie zu gründen. Er könne doch eine Hühnerfarm anlegen, meint Elsie. Ohne lang darüber nachzudenken, leiht Norman sich von seinem Vater Geld für ein Grundstück an der Blackness Road in Crowborough, Sussex. Mr Thorne unterstützt das Vorhaben seines Sohnes schon deshalb, weil er darauf hofft, dass die Beziehung des jungen Paares durch die Trennung endet.

Am 22. August 1921 übernimmt Norman das Grundstück und beginnt mit dem Bau der Hühnerfarm, die er nach John Wesley, dem Begründer der methodistischen Bewegung, nennt. Jeden Freitagabend kehrt er mit dem Fahrrad nach Kensal Rise zurück, und samstags geht er mit Elsie aus. Sobald die ersten Hühner auf der Wesley-Farm eingetroffen sind, muss er allerdings auch am Wochenende auf der Farm bleiben, wo er notdürftig in einer selbst errichteten Hütte ohne Heizung wohnt.

Im Sommer 1922 besucht Elsie ihn an den Wochenenden und übernachtet in einem Zimmer bei dem Ehepaar Cosham in der Blackness Road. Immer wieder drängt sie ihn, sie zu heiraten. Vergeblich versucht Norman, ihr seine Lage zu erklären: Weil die Metzger bereits feste Lieferanten haben, bleibt er auf Eiern und Geflügel sitzen. Immer wieder muss er geschlachtete Hühner vergraben. Finanzielle Probleme machen ihm zu schaffen, und er verschuldet sich bei Futtermittelherstellern.

Schließlich gibt er Elsies Drängen nach, bittet Mr Cosham, die Hühner an den Weihnachtsfeiertagen zu füttern, fährt nach London und verlobt sich am 25. Dezember 1922 mit seiner Freundin. Für den Ring, den er ihr ansteckt, musste er sich 5 Pfund leihen.

Am 30. Januar 1923 teilt Elsie ihm in einem Brief mit, man habe ihr gekündigt. Nachdem sie neun Jahre lang im selben Unternehmen beschäftigt war, wechselt sie nun im Verlauf von fünf Monaten dreimal die Stelle und bleibt dann arbeitslos.

Sie bestürmt Norman weiterhin, sie endlich zu heiraten. Des Öfteren geraten sie darüber in Streit. Elsie lässt sich zwar von Norman ausziehen und anfassen, mehr jedoch nicht, denn sie möchte als Jungfrau in die Ehe gehen. Sie ist eifersüchtig, verdächtigt Norman, sich mit anderen Frauen zu treffen und sein Geld an Prostituierte zu verschwenden.

Norman fragt seinen Vater, was er tun solle. Der rät ihm, die Beziehung zu beenden. Aber das wagt Norman nicht, denn er möchte dem Mädchen nicht weh tun. Außerdem sprach sie bereits mehrmals davon, dass sie sich das Leben nähme, wenn er sie verlassen würde, und ihr Vater drohte, ihn wegen des gebrochenen Eheversprechen zu verklagen.

Bei einer Tanzveranstaltung an Pfingsten 1924 in Crowborough lernt Norman Bessie Coldicott kennen, eine junge und hübsche, lebensfrohe und unkomplizierte Schneiderin. Sie gehen des Öfteren miteinander aus. Als Bessie erfährt, dass eine junge Frau auf der Wesley-Hühnerfarm zu Besuch war, und Norman danach fragt, behauptet er, es handele sich um eine Bekannte aus London, aber die Beziehung sei längst beendet.

Elsie wäre nun bereit, sich Norman hinzugeben, aber er hält sich zurück, denn er begreift, dass sie schwanger werden möchte, um die Heirat zu erzwingen.

Anfang September besucht Bessie ihren neuen Freund erstmals auf der Farm. Norman hat eigens sauber gemacht und frische Bettwäsche gekauft. Bessie ist von der Hütte angenehm überrascht und kommt von da an fast jeden Abend zu ihm. Sie schlafen auch miteinander.

Elsie, die inzwischen vom Arzt Sedativa verordnet bekam, schreibt Norman am 16. November 1924, sie bekomme ein Kind und ihr Vater bestehe deshalb auf einer Hochzeit noch vor Weihnachten. In seinem Antwortbrief bezweifelt Norman, dass sie schwanger ist und weist darauf hin, dass sie noch keinen Koitus miteinander hatten. Sie verabreden sich am 24. November in einer Teestube in Groombridge. Der Arzt habe ihr erklärt, dass es bei Zärtlichkeiten auch ohne Koitus zu Schwangerschaften kommen könne, behauptet Elsie und droht Norman erneut mit Selbstmord.

Am Abend fragt er Bessie, ob eine Frau allein vom Anfassen eines Penis schwanger werden könne. Sie hält das für unmöglich. Daraufhin schreibt Norman seiner Verlobten am 25. November, sie könne nicht von ihm schwanger sein und er werde keine Hochzeitsvorbereitungen treffen.

Am 27. November teilt Norman Elsie mit, er treffe sich seit einiger Zeit fast jeden Abend mit einer anderen Frau. Am nächsten Tag verlangt Elsie in einem Brief von ihm, die andere Beziehung sofort zu beenden und sie endlich zu heiraten.

Unerwartet taucht sie am 30. November auf der Wesley-Hühnerfarm auf und prügelt hasserfüllt auf ihn ein. Nur als verheiratete Frau werde sie wieder gehen, droht sie. Um sie loszuwerden, beteuert Norman, der Bessie auch an diesem Abend erwartet, die andere Frau habe er längst vergessen und wiederholt sein früher gegebenes Eheversprechen. Auf diese Weise gelingt es ihm, sie zur Rückkehr nach London zu überreden.

Abends gesteht er Bessie die Wahrheit. Sie weiß bereits Bescheid, denn sie fand vor einigen Wochen in seiner Hütte Elsies Briefe.

Norman ersucht seinen Vater, mit Elsie zu reden, aber Mr Thorne ist der Meinung, dass er den Mut dazu selbst aufbringen müsse. Er rät seinem Sohn, auf Zeitgewinn zu setzen, denn wenn sich herausstelle, dass Elsie eine Schwangerschaft vortäuschte, könne er die Verlobung ohne schlechtes Gewissen lösen. – Sein Vater sei mit einer überstürzten Eheschließung nicht einverstanden, schreibt Norman am 3. Dezember.

Zwei Tage später, am Freitag, den 5. Dezember 1924, geht Elsie zum Friseur und kündigt für den nächsten Tag ihre Hochzeit an.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Am 10. Dezember erhält Norman ein Telegramm von Donald Cameron, der sich Sorgen macht, weil er von Elsie nichts mehr hörte, seit sie am Freitag nach Sussex fuhr. Norman telegrafiert zurück, sie sei nicht bei ihm. Daraufhin meldet Donald Dameron seine Tochter als vermisst, und am 12. Dezember kommt Constable Beck zur Wesley-Hühnerfarm, um der Sache nachzugehen, aber die Gesuchte ist nicht da.

Ein Zeitungsbericht über die verschwundene Sechsundzwanzigjährige veranlasst zwei Blumenzüchter aus Crowborough, sich bei der Polizei zu melden und auszusagen, dass sie am 5. Dezember eine Frau wie die beschriebene zur Wesley-Hühnerfarm gehen sahen. Daraufhin wird diese von mehreren Polizisten durchsucht.

Bessie folgt dem Rat ihres Vaters und schreibt Norman, sie könne sich erst wieder mit ihm treffen, wenn die Angelegenheit geklärt sei, denn sie wolle nicht ins Gerede kommen.

Am 14. Januar 1925 verhaftet Chief Inspector Gillan von Scotland Yard den jungen Hühnerzüchter. Annie Price, eine Nachbarin, gab nämlich inzwischen zu Protokoll, sie habe Elsie Cameron am 5. Dezember durch das Tor der Farm gehen sehen. Norman meint, das könne nicht sein, er habe an diesem Tag keinen Besuch bekommen. Gillan lässt alles noch einmal durchsuchen und den Boden umgraben. Man findet billigen Schmuck und eine kaputte Damenarmbanduhr. Am nächsten Tag wird Elsies Reisetasche ausgegraben.

Zehn Stunden später erklärt Norman Thorn sich bereit, ein Geständnis abzulegen. Elsie überraschte ihn am 5. Dezember mit einem Besuch und wollte auf der Farm übernachten. Sie gerieten in Streit. Am Abend fuhr Norman zum Bahnhof, um – wie versprochen – Bessie und deren Mutter vom Zug abzuholen und nach Hause zu bringen. Sie hatten den Tag in Brighton verbracht. Gegen Mitternacht kam er zurück. Elsie hing leblos und unbekleidet an einem Stück Wäscheleine, die sie um einen Dachbalken der Hütte geworfen hatte. Zuerst wollte Norman einen Arzt rufen, aber Elsie war tot, und niemand hätte ihm geglaubt, dass sie sich selbst das Leben genommen hatte. Um die Leiche besser vergraben zu können, zerstückelte Norman sie. Die Kleidung verbrannte er.

Norman wird ins Staatliche Gefängnis in Lewes gebracht.

Da es weder an Elsies Hals noch an dem Dachbalken aus weichem Kieferholz Spuren einer Wäscheleine gibt, hält man Norman für einen Mörder.

Der Obduktion zufolge war Elsie Cameron nicht schwanger. Sie scheint nicht durch Erhängen gestorben, sondern einem Schock erlegen zu sein. Das meint zumindest Dr. Robert Brontë, der medizinische Gutachter der Verteidigung. Er vermutet, dass Elsie ihren Verlobten erschrecken wollte. Als sie ihn zurückkommen hörte, stieg sie auf einen Stuhl und legte sich eine vorbereitete Schlinge um den Hals. Dabei erlitt sie aufgrund des Karotissinusreflexes einen tödlichen Schock und kippte nach vorn.

Der angesehene Pathologe Sir Bernard Spilsbury erklärt dem Gericht jedoch, es habe sich um Mord gehandelt.

Die Geschworenen sprechen Norman Thorne am 16. März 1925 schuldig. Am 22. April wird er gehängt. Elsie Cameron hätte an diesem Tag ihren 27. Geburtstag gefeiert.

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„Der Schrei des Hahns“ – eine Mischung aus Psychothriller und Tatsachenroman – basiert auf einer wahren Begebenheit, dem sogenannten „Hühnerfarmmord“ im Dezember 1924 in der Blackness Road in Crowborough, East Sussex. Minette Walters rekonstruiert, was gewesen sein könnte. Dabei hält sie es für wahrscheinlich, dass Elsie Cameron am Borderline-Syndrom litt und aufgrund des Karotissinusreflexes einem Schock erlag.

Knapp und sachlich, stringent und schnörkellos erzählt Minette Walters die verstörende Geschichte wie ein unbeteiligter Beobachter. Sie leuchtet in menschliche Abgründe, unterlässt jedoch moralische Wertungen. Umso intensiver fühlt sie sich in die beiden Protagonisten ein und lässt uns nachvollziehen, wie es zu Elsies grauenvollem Tod kam. Eingestreute Briefe und ein polizeiliches Protokoll verstärken den Eindruck der Authentizität.

Den packenden Roman „Der Schrei des Hahns“ von Minette Walters gibt es auch als ungekürztes Hörbuch, gelesen von Nina Petri (Regie: Bernadette Joos, Köln / Hamburg 2008, 2 CDs).

Auf Tatsachen basieren zum Beispiel auch die Kriminalromane „Kaltblütig“ von Truman Capote, „Tannöd“ und „Kalteis“ von Andrea Maria Schenkel.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

Minette Walters (Kurzbiografie)

Minette Walters: Im Eishaus
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.