Minette Walters : Der Außenseiter

Der Außenseiter
Originalausgabe: Disordered Minds Macmillan, London 2004 Der Außenseiter Übersetzung: Mechthild Sandberg-Ciletti Wilhelm Goldmann Verlag, München 2005 ISBN: 3-442-31078-4, 512 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als 1970 die Großmutter des 21-jährigen Howard Stamp ermordet wurde, hielt ihn das Gericht für den Mörder und verurteilte ihn zu lebenslanger Haft. In der Gefängniszelle erhängte er sich 1973. 30 Jahre später stößt der Anthropologe Jonathan Hughes auf den Fall, wundert sich über die lückenhafte Beweisführung und beginnt mit eigenen Nachforschungen ...
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Kritik

"Der Außenseiter" ist nicht nur ein spannender Psychothriller, sondern zugleich ein bestürzendes Sozialdrama, das Minette Walters ruhig, sachlich und nüchtern aus verschiedenen Perspektiven und v.a. in lebendigen Dialogen entwickelt.
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Dr. Jonathan Hughes behauptet zwar gern, sein Vater sei Iraner und die Familie seiner Mutter stamme aus Nordafrika, oder er sei der Sohn eines indischen Rechtsanwalts und einer ugandischen Ärztin, aber in Wirklichkeit waren sein Vater ein Straßenkehrer aus Jamaika und seine Mutter ein chinesisches Dienstmädchen aus Hongkong. Jonathan wurde 1968 in London geboren. 1992 promovierte er in Oxford und später wurde er Dozent für europäische Anthropologe an der Universität London. Nach „Das Rassenstereotyp“ (1995) und „Ausgrenzung“ (1997) veröffentlichte er 2002 unter dem Titel „Kranke Seelen“ eine Studie über Justizirrtümer, in der es unter anderem um den Mordfall Grace Jefferies 1970 in Bournemouth geht.

Die siebenundfünfzigjährige Witwe Grace Jefferies wurde am Freitag, den 5. Juni 1970, in ihrem Haus tot aufgefunden. Sie war mit zahlreichen Messerstichen getötet worden, während sie offenbar versucht hatte, über die Treppe ins Obergeschoss zu entkommen. Grace hatte 1928 im Alter von fünfzehn Jahren eine Stelle als Dienstmädchen angetreten und war im Jahr darauf mit einer Tochter niedergekommen. 1939 heiratete sie den dreiundvierzig Jahre alten Seemann Arthur Jefferies, der ihre Tochter Wynne adoptierte, aber nach drei Jahren Ehe ums Leben kam. Wynne Jefferies lernte als Sechzehnjährige den Landarbeiter Fred Stamp kennen, der sie schließlich zur Frau nahm. Doch die Ehe scheiterte nach kurzer Zeit. 1970, als ihre Mutter ermordet wurde, verdiente Wynne den Lebensunterhalt für sich und ihren geistig zurückgebliebenen zwanzig Jahre alten Sohn Howard als Packerin in der Werkzeugfabrik „Brackham & Wright“ in Bournemouth. Der rothaarige Howard Stamp war ein Außenseiter wie seine menschenscheue Großmutter Grace, denn er hatte eine Gaumenspalte wie sie und wurde deshalb von allen gehänselt. Er wehrte sich jedoch nicht, sondern richtete seine Aggressionen gegen sich selbst, indem er sich immer wieder mit Rasierklingen in die Arme schnitt. Während Wynne kaum Kontakt mit ihrer Mutter hatte, hielt Howard sich gern bei seiner Großmutter auf.

Gefunden wurde Grace Jefferies‘ Leiche am 5. Juni 1970, weil dem Briefträger aufgefallen war, dass sie ihre Vorhänge tagelang nicht aufgezogen hatte. Aus irgendeinem Grund hatte der Mörder das Innere des Hauses regelrecht verwüstet. Weil Zeugen aussagten, Howard Stamp sei am Mittwoch, den 3. Juni, um 14.30 Uhr, aus dem Haus seiner Großmutter gerannt, wurde er unter Mordverdacht festgenommen und verhört. Am 7. Juni legte er ein Geständnis ab, das er kurz darauf allerdings widerrief. Nach erster Einschätzung des Pathologen war Grace Jefferies am 1. Juni 1970 gestorben. Das deckte sich auch mit der Aussage des Briefträgers, doch während des Prozesses gab der Mediziner den 3. Juni als Todestag an, und der Briefträger behauptete, mit „mehrere Tage“ eigentlich nur zwei Tage gemeint zu haben. Für die Polizei stand von Anfang an fest, dass Howard seine Großmutter ermordet hatte; andere Spuren oder Hinweise wurden erst gar nicht weiter verfolgt. Im August 1971 verurteilte das Gericht Howard Stamp wegen Mordes zu lebenslanger Haft, und zwar aufgrund von Zeugenaussagen und Indizien, darunter vor allem ein rotblondes Haar in der Badewanne der Toten. Nach zwei Jahren erhängte er sich in seiner Gefängniszelle.

In seinem Bericht weist Jonathan Hughes auf Widersprüche in der Beweisführung hin. Unter den Briefen, die er nach der Veröffentlichung seines Buches erhält, ist auch ein Schreiben von George Gardener, einer sechzigjährigen Stadträtin von Bournemouth, die seit fünfzehn Jahren recherchiert, von Howard Stamps Unschuld überzeugt ist und versucht, den Fall an die Öffentlichkeit zu bringen. Jonathan verabredet sich mit ihr und fährt am 13. Februar 2003 mit dem Zug von London nach Bournemouth.

Das Treffen soll im Pub „Crown and Features“ stattfinden. Jonathan ist entsetzt über die Schäbigkeit der Gaststätte. George Gardener ist noch nicht da, und der Wirt – Roy Trent – lässt den Gast erst einmal zehn Minuten warten, bevor er auftaucht und ihn sogleich als „Bimbo“ beschimpft. Aufgebracht verlässt Jonathan den Pub. Kurz darauf hält George Gardener mit ihrem klapprigen Kleinauto neben ihn und überredet ihn, mit ihr zurück in den Pub zu kommen, wo ihnen der Wirt einen Raum im Obergeschoss zur Verfügung stellt und sich bei Jonathan entschuldigt.

Als George vierzehn war, starb ihre Mutter an Brustkrebs, und sie ist selbst nun auch wegen eines Karzinoms in Behandlung. Ihr Vater war Briefträger und ist seit fünfzehn Jahren tot. George hat zwar an Fernuniversitäten Abschlüsse in Psychologie und Kriminologie gemacht und als Externe an der Universität Sussex in Verhaltensforschung promoviert, aber sie schlägt sich als Hilfskraft in einem Pflegeheim durch. Die Mitgliedschaft im Stadtrat ist ehrenamtlich.

Jonathan, der am Tag zuvor erst von einer Beerdigung in den USA zurückkam, unter Jetlag leidet, sich miserabel fühlt und seine Verärgerung noch nicht überwunden hat, findet George unausstehlich, und ihr missfällt der arrogant wirkende Farbige ebenso. Sie nimmt an, dass es ihm nicht um Howard Stamps Rehabilitation, sondern nur um den Vorschuss für ein neues Buch geht und weigert sich deshalb, ihm ihre umfangreichen Notizen zur Verfügung zu stellen.

Nach dem frustrierenden Treffen geht Jonathan zum Bahnhof Branksome. Dort muss er sich an die Wand des Gebäudes lehnen, weil ihm übel ist und er schrecklich schwitzt. (Später wird ein blutendes Magengeschwür bei ihm diagnostiziert.) Reisende, die befürchten, bei dem arabisch aussehenden, seine Aktenmappe an sich pressenden Mann könne es sich um einen Attentäter handeln, alarmieren den Bahnhofsvorsteher. Unvermittelt wird Jonathan von einer Frau angesprochen. Sie warnt ihn vor zwei Polizeibeamten in Zivil, die ihn angeblich observieren, weil sie eine Bombe in seiner Tasche vermuten. Um den Verdacht zu zerstreuen, solle er so mit ihr reden, als seien sie verabredet gewesen. Sie öffnet seine Mappe, nimmt demonstrativ ein paar Unterlagen heraus, steckt sie wieder hinein und erklärt Jonathan, auf diese Weise zeige sie, dass er keine Bombe bei sich habe.

Am Hauptbahnhof von Bournemouth merkt Jonathan, dass seine Brieftasche nicht mehr in der Aktentasche ist. Pass, Fahrschein, Geld und eine Opernkarte fehlen. Die Frau muss sie ihm gestohlen haben. Außer sich vor Zorn rennt Jonathan auf dem Bahnsteig herum und überlegt, was er tun soll. Dabei rempelt er andere Reisende an. Es kommt zu lautstarken Auseinandersetzungen, und als Polizeibeamte auftauchen, beschimpft Jonathan sie als „Faschistenschweine“. Daraufhin wird er abgeführt.

Weil Jonathan keine Ausweispapiere bei sich hat, muss sein Freund und Literaturagent Andrew Spicer eigens aus London kommen, um für ihn zu bürgen. Sergeant Fred Lovatt ruft im „Crown and Features“ an und erfährt von Roy Trent, dass die Brieftasche des Besuchers am Boden gelegen habe; sie müsse ihm aus dem Jackett gerutscht sein. Jonathan kann sich allerdings genau daran erinnern, dass er die Brieftasche in seine Aktenmappe legte, als er das Jackett auszog. Als Andrew mit Jonathan zu dem Pub fährt und hineingeht, um die Brieftasche zu holen, während sein mitgenommener Freund im Auto sitzen bleibt, kommt eine Frau über die Treppe herunter, die abrupt stehen bleibt, als sie merkt, dass Roy Trent nicht allein ist. Sie sieht genauso aus, wie Jonathan die Diebin beschrieb!

Andrew ruft George an und fragt sie, ob sie gesehen habe, wie Jonathan seine Brieftasche in die Aktenmappe legte. Die Stadträtin bestätigt es und erfährt auf diese Weise von dem Diebstahl und der Frau, die Andrew in dem Pub sah.

Am 2. April 2003 meldet sie sich bei Andrew. Sie bedauert ihr abweisendes Verhalten und würde nun doch gern mit Jonathan zusammenarbeiten.

Inzwischen hat sie herausgefunden, dass Roy Trent mit einer Frau verheiratet war, auf die Jonathans und Andrews Beschreibung passt: Priscilla („Cill“) Fletcher Hurst. Und als sie noch einmal in Zeitungen von 1970 blätterte, stieß sie auf Meldungen über eine Dreizehnjährige, die in der Nähe des Tatorts gewohnt hatte und am 30. Mai 1970 – also wenige Tage vor Grace Jefferies‘ Ermordung – verschwunden war: Priscilla („Cill“) Trevelyn. Offenbar waren damals Gerüchte kursiert, Cill sei von drei Vierzehnjährigen vergewaltigt worden. Die Polizei hatte auch drei Verdächtige verhört, die Ermittlungen aber nach einiger Zeit ergebnislos eingestellt. Die Vermisste ist offenbar bis heute nicht wieder aufgetaucht.

George weiht Jonathan in die Ergebnisse ihrer jahrelangen Nachforschungen ein. Darunter ist auch die Aussage einer Nachbarin der Ermordeten, die Howard am 3. Juni kommen sah, und zwar um 14 Uhr. Vor Gericht hieß es, er sei um 14.30 Uhr aus dem Haus gerannt. In einer halben Stunde konnte Howard unmöglich seine Großmutter mit zahlreichen Messerstichen ermorden, das Haus verwüsten und sich das Blut in der Badewanne abwaschen. Die Nachbarin wunderte sich damals, dass sie vor Gericht nicht als Zeugin aufgerufen wurde, aber sie war froh darüber, denn die Befragungen durch die Polizei hatten sie ohnehin bereits eingeschüchtert. George besitzt eine von der inzwischen verstorbenen Zeugin unterschriebene Aussage.

Über die frühere Journalistin Bronwen Sherrard, die 1970 in den „Bournemouth Evening News“ über das Verschwinden von Cill Trevelyn geschrieben hatte, findet George heraus, dass die Vermisste mit einer Mitschülerin namens Louise („Lou“) Burton eng befreundet gewesen war. In der Annahme, es handele sich um Louises Eltern, klingelt George bei William und Rachel Burton. William („Billy“) ist jedoch nicht der Vater, sondern der jüngere Bruder von Louise. 1985 heiratete er Rachel Jennings, die zwei Jahre später von den Zwillingen Paula und Jules entbunden wurde. Seit zwanzig Jahren hörten weder er noch seine Eltern etwas von Louise, und die Familie vermutet, dass sie nach Australien auswanderte.

Hilda Brett, die von 1968 bis 1973 die von Cill Trevelyn und Louise Burton besuchte Schule leitete, ist inzwischen über achtzig und lebt in einem Altenheim, aber sie erinnert sich im Gespräch mit George und Jonathan, dass Louise ein mageres, rothaariges, intrigantes Mädchen war, das ihre Freundin Cill um deren Aussehen und Beliebtheit beneidete. Sie weiß auch noch die Namen der drei Jungen, die 1970 wegen der angeblichen Vergewaltigung Cills von der Polizei vernommen wurden: Roy Trent, Micky Hopkinson und Colley Hurst. Einer von ihnen – Colley Hurst – war rothaarig.

Roy Trent, der Besitzer des Pubs „Crown and Features“! Es stellt sich heraus, dass George bei der missglückten Verabredung mit Jonathan am 13. Februar Roy Trent telefonisch gebeten hatte, dem Besucher aus London auszurichten, sie verspäte sich aufgrund einer Autopanne. Der Wirt sagte Jonathan nichts davon und legte es offenbar darauf an, ihn zu vertreiben, bevor George auftauchte. George und Jonathan vermuten, dass es sich bei Roys Exfrau Priscilla um eines der beiden verschwundenen Mädchen handelt, entweder um Cill Trevelyn, oder aber auch um Louise Burton, die aus irgendeinem Grund den Vornamen ihrer vermissten Freundin angenommen hat.

Durch die Begegnung mit George Gardener erinnert Billy Burton sich an längst verdrängte Ereignisse. Er war zehn Jahre alt, als Cill und seine Schwester Lou am 4. Mai 1970 mit ihm die Schule schwänzten und mit drei ebenfalls die Schule schwänzenden Jungen in den Colliton Park von Bournemouth gingen.

Ein toller Park war es nicht, ein Stück verdorrtes Gras am Colliton Way, knapp einen Morgen groß, auf dem die Leute aus der Gegend morgens und abends ihre Hunde ausführten. Tagsüber war kaum einer hier, von den paar Schulschwänzern abgesehen, die hinten bei den Bäumen herumlungerten. Die Polizei schaute selten vorbei, was damit zu tun hatte, dass zwischen den jungen Leuten und dem einzigen Eingang eine freie Strecke von etwa hundert Metern lag. Bis zwei übergewichtige Polizisten es schafften, dorthin zu kommen, waren die Jugendlichen längst fort. Sie sprangen einfach über die niedrige Umzäunung in die dahinter liegenden Gärten. Da es daraufhin von den Anliegern jedes Mal Beschwerden hagelte, zog die Polizei, die ein ruhiges Leben schätzte, es vor, die Schüler in Ruhe zu lassen.

Solange sie im Park waren, so die Überlegung, klauten sie wenigstens nicht, da war es gescheiter, ein Auge zuzudrücken und anderswo für Recht und Ordnung zu sorgen. Schuleschwänzen stand bei den eher zynisch denkenden Ordnungshütern weit unten auf der Skala der Vergehen […]

Die hartnäckigsten Schulschwänzer waren drei Jungen. Sie konnten sehr gewinnend und großzügig sein, solange niemand ihren Führungsanspruch in Frage stellte, kam jedoch jemand ihnen in die Quere, waren sie äußerst gewalttätig. Das verlieh ihnen eine starke Anziehungskraft für unzufriedene Kinder, die Großzügigkeit mit Zuneigung verwechselten und Grausamkeit mit Aufmerksamkeit und von denen keines begriff, wie krank diese Jungen waren. Wie sollten sie auch, wenn noch nicht einmal die Jungen selbst es wussten, die, kaum des Lesens und Schreibens mächtig, ihr Leben im Griff zu haben glaubten. (Seite 9f)

Während eine gestohlene Flasche Wodka unter den Jugendlichen kreiste, provozierte Cill vor allem Roy so lange, bis er und seine Freunde über sie herfielen und sie nacheinander vergewaltigten. Billy begriff kaum, was da geschah und verfiel in eine Art Schockstarre. Lou unternahm auch nichts, und für das dünne Mädchen interessierten die Jungen sich ohnehin nicht. Cills Beine waren danach voller Blut. Inzwischen weiß Billy, dass die damals Dreizehnjährige nicht nur vergewaltigt, sondern dabei auch defloriert wurde.

Cill, die sich einbildete, sie kenne sich aus, war die Naivere von beiden. Während Lou wie ein angegriffener Käfer augenblicklich in eine Art Totenstarre fiel und so für die erregten Jugendlichen alle Verlockung verlor, wehrte sich Cill wie eine Wilde und bekam die ganze Grausamkeit des Überfalls zu spüren. Immer wieder schrie sie Billy an, er solle weglaufen und Hilfe holen, aber der Kleine, ganze zehn Jahre alt und betrunken dazu, zog nur den Kopf ein. (Seite 13)

Zwei Wochen später, am 29. Mai 1970, gerieten die früheren Freundinnen Cill und Louise in Streit und prügelten sich in der Schule. Am Tag darauf verschwand Cill. Lou erzählte den Polizisten, die aufgrund der Vermisstenanzeige in der Nachbarschaft herumfragten, von der Vergewaltigung, nannte jedoch keine Namen und verschwieg auch, dass ihr kleinerer Bruder alles mit angesehen hatte. So kam es, dass die Polizei zwar Roy Trent, Micky Hopkinson und Colley Hurst verhörte, aber den Fall bald wieder zu den Akten legte, zumal als es den Mord an Grace Jefferies aufzuklären galt. Weil Lou aufgrund der Ereignisse völlig verstört war, zogen die Eltern mit ihr und Billy nach Boscombe. Dort suchte der Vater, Robert Burton, sich eine neue Arbeitsstelle. Eileen und und ihre Tochter Lou färbten sich die roten Haare dunkel, und das Mädchen nannte sich Daisy. Mit sechzehn brach sie die Schule ab, wurde Friseuse und heiratete früh. Sie wurde heroinabhängig und verdiente das erforderliche Geld als Prostituierte. Seit zwanzig Jahren hat Billy nichts mehr von ihr gehört. Als George ihn nach einer Frau namens Priscilla Fletcher Hurst befragte und ihm ein Foto von ihr zeigte, kam ihm der Gedanke, es könne sich um seine Schwester handeln. Er fährt zu der angegebenen Adresse in einer besonders teuren Gegend in Bournemouth und legt sich dort auf die Lauer, bis eine Frau in einem schwarzen BMW vorfährt, die zwar mehr wie Cill Trevelyn als wie seine Schwester aussieht, die er jedoch an ihrem Gang sofort erkennt. Er spricht sie an und bemerkt aus der Nähe ein Hämatom in ihrem Gesicht. Lou scheint panische Angst vor ihrem Mann zu haben, aber als Billy sich nicht vertreiben lässt, verabredet sie sich widerstrebend mit ihm.

Billy erzählt Lou alias Priscilla, dass ihn die Stadträtin George Gardener nach ihr gefragt und so auf ihre Spur gebracht habe. Lou scheint sich darüber nicht zu wundern. (Tatsächlich hatte sie George und Jonathan im „Crown and Features“ beobachtet und Jonathan im Bahnhof den Pass abgenommen, um an seine Adresse zu kommen.)

Der Detektei WCH in London, von der Billy weiß, dass sie vor Jahren im Auftrag von Jean und David Trevelyn nach Cill suchte, weil er in diesem Zusammenhang nach dem Verbleiben seiner Schwester befragt wurde, teilt er in einer E-Mail mit, wo Louise Burton alias Priscilla Fletcher Hurst zu finden sei. Daraufhin beginnt eine Mitarbeiterin der Detektei, Sasha Spencer, mit neuen Ermittlungen und stößt dabei am 15. Mai auf George Gardener, bei der zufällig auch gerade Jonathan Hughes zu Besuch ist. Am 26. Mai ist Sasha mit Priscilla Fletcher Hurst in deren Haus verabredet. Auf die Vorgänge am 4. Mai 1970 im Colliton Park von Bournemouth angesprochen, leugnet Louise alias Priscilla, dass Cill damals vergewaltigt wurde.

„Also, von Vergewaltigung kann keine Rede sein. Cill war ja ganz geil auf Sex mit Roy, sie kriegte ihren Rock nicht schnell genug hoch … Erst als Micky und Colley auch noch mitgemacht haben, hat sie angefangen, sich zu beschweren. Lieber Gott, die Jungs waren ganze vierzehn, hatten keinerlei sexuelle Erfahrung und waren stockbesoffen vom Wodka. Mindestens zwei von ihnen haben abgespritzt, bevor sie überhaupt drin waren.“ (Seite 429f)

Als unerwartet Roy Trent durch den Hintereingang kommt, rastet Louise aus und schlägt mit einem Aschenbecher auf ihn ein. Sasha will eingreifen, wird aber von der Rasenden umgestoßen. Zum Glück hören Kollegen der Detektivin über einen in ihrer Brille eingebauten Sender, was im Haus los ist, dringen durch die von Sasha absichtlich nur angelehnte Haustür ein und alarmieren die Polizei.

Louise und Roy werden festgenommen und noch am selben Tag getrennt verhört.

Louise sagt aus, sie sei von ihrem elften Lebensjahr an von ihrem Vater missbraucht worden und habe versucht, Cill von ihm fernzuhalten, weil sie wusste, dass ihm die aufreizend gekleidete und früh entwickelte Mitschülerin gefiel. Ihr Vater sei ihr Idol gewesen, bis er anfing, Cill zu begrabschen, wenn sie zu Besuch kam. Sie gibt zu, eifersüchtig auf ihre Freundin gewesen zu sein und deshalb ihre ein Jahr älteren Freunde Roy, Micky und Colley überredet zu haben, Cill am 4. Mai 1970 im Park einen Schrecken einzujagen. Eine Vergewaltigung sei jedoch nicht geplant gewesen.

Als am Samstag, den 30. Mai 1970, Jean Trevelyn bei ihrer Mutter anrief und nach Cill fragte, habe Louise sich gedacht, dass die Vermisste bei Grace Jefferies sein könnte. Bei der einsamen alten Dame hatten sie nämlich häufig ferngesehen. Louise lief hin und sah wie erwartet durch ein Fenster Cill, die gerade ein Eis aß. Ohne sich zu zeigen, rief sie Roy an und verriet ihm, wo Cill sich aufhielt. Der überredete sie, Cill nach Einbruch der Dunkelheit ins Freie zu locken. Die drei Jungen wollten Cill einschüchtern, damit sie nichts von der Vergewaltigung verriet. Abends ging Louise also noch einmal hin und brachte Cill dazu, das Haus zu verlassen. Roy, Micky und Colley warteten bereits. Was die Jungen mit Cill machten, habe sie nicht gesehen, weil sie sofort wieder nach Hause gelaufen sei. Erst am Montag habe Roy ihr gesagt, Cill sei ihnen entwischt. Am Dienstag, den 2. Juni, schlich Louise sich noch einmal durch den Garten an das Haus von Grace Jefferies heran, um durch die Terrassentür zu schauen. Aber da sei Blut am Fenster gewesen, und im Inneren habe es wie nach einer Schlacht ausgesehen. Erschrocken sei sie davongelaufen.

1974 heiratete sie Micky Hopkinson. Der starb 1986 nach mehreren Gefängnisaufenthalten an einer Überdosis Heroin. Kurz vor seinem Tod habe er ihr gestanden, so Louise weiter, was an jenem Samstagabend passiert war. Er bedrohte Cill mit einem Messer, Roy stopfte ihr ein Taschentuch als Knebel in den Mund, und sie fesselten ihr die Hände auf den Rücken. So schubsten sie Cill bis zum Neubaugebiet, ohne unterwegs von Passanten angehalten zu werden. Dort vergewaltigen sie Cill nochmals. Als sie merkten, dass Cill an ihrem Knebel erstickt war, warfen sie die Tote in eine der Baugruben und deckten sie mit Schutt zu. Kurz darauf wurden die Gruben gefüllt, ohne dass jemand die Leiche bemerkte.

Während ihrer Ehe sei sie selbst drogensüchtig geworden, und Micky habe sie auf den Strich geschickt, damit sie die erforderlichen Mittel beschaffte. Außerdem erpresste Micky Geld von seinem Schwiegervater, von dem er wusste, dass er Louise missbraucht hatte. Roy, der sie damals mit Drogen versorgt hatte, sei nach Mickys Tod ihr Zuhälter gewesen und habe sie 1992 geheiratet. Roys erste Frau, Robyn Hapgood, starb 1988 ebenfalls an einer Überdosis Heroin. Deren Sohn Peter war damals zwölf. Sechs Jahre später kam er erstmals ins Gefängnis. Nicholas („Colley“, „Nick“) Hurst wurde 1996 von zwei Polizisten, die ihn angeblich mit einem bewaffneten Drogendealer verwechselten, mit dem Kopf voraus gegen einen Lampenpfosten gerammt und anschließend noch drei Stunden lang ohne medizinische Hilfe auf dem Revier festgehalten. Weil er dabei einen irreversiblen Hirnschaden erlitt und als Folge sein Gedächtnis verlor, sprach man ihm eine Entschädigung von 200 000 Pfund Sterling zu. Roy habe damals die Chance erkannt, an viel Geld zu kommen, deshalb Colley bei sich aufgenommen und sich im Juni 2001 von Louise scheiden lassen. Dann brachte er sie zusammen mit Colley in einer vom Pub mit Videokameras überwachten Villa in dem noblen Stadtteil Sandbanks unter. Die Entschädigung wurde im Oktober 2001 überwiesen, und im Monat darauf heirateten Louise und Colley.

Als Roy mit der Aussage seiner Exfrau konfrontiert wird, bezeichnet er sie als komplette Lüge. Er behauptet, Louise habe ihn und seine Freunde zweimal dazu angestiftet, etwas gegen Cill zu unternehmen: Einmal am 4. Mai im Park und nochmals am 30. Mai 1970. Außerdem wirft er ihr vor, seinen damals siebzehnjährigen Sohn mit Sex und Drogen verdorben zu haben.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Am 29. Juli 2003 sucht George Roy in Begleitung eines Sergeanten mit Namen Wyatt im Gefängnis Winchester auf, während Jonathan im Auto wartet. Roy kann zunächst nicht glauben, dass George ihm helfen will. Er gibt zu, sich nur zum Schein mit ihr angefreundet zu haben, weil sie durch seinen Stammgast Jim Longhurst wusste, dass er Howard Stamp gekannt hatte. So konnte er sie und ihre Nachforschungen besser im Auge behalten. Er leugnet inzwischen nicht mehr, dass Cill Trevelyn am 30. Mai 1970 bei der erneuten Vergewaltigung durch ihn und seine Freunde starb. Sergeant Wyatt versichert ihm, das werde vor Gericht gewiss nicht als Mord, sondern als Körperverletzung mit Todesfolge gewertet. Die Ermordung von Grace Jefferies streitet Roy nach wie vor ab und beteuert, weder er noch Micky oder Colley seien jemals in deren Haus gewesen.

Am Ende sind George und Jonathan überzeugt, dass Grace Jefferies am Montag, den 1. Juni 1970, von Louise ermordet wurde, damit die alte Frau, die nicht nur von der Vergewaltigung erfahren, sondern auch miterlebt hatte, wie Cill von Louise aus dem Haus gelockt worden war, nichts verraten konnte. Louise hatte nämlich am Samstag davor beobachtet, was mit ihrer früheren Freundin im Neubaugebiet geschehen war und deshalb gewusst, was auf dem Spiel stand.

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Der farbige Londoner Anthropologe Jonathan Hughes hält sich immer wieder für ein Objekt des Rassenhasses und fühlt sich als Außenseiter, zumal, als nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 arabisch aussehende Männer wie er überall auf Misstrauen stoßen und von der Polizei häufiger als andere Engländer kontrolliert werden. Beim Schreiben eines Buches über Justizirrtümer stößt er auf den dreißig Jahre zurückliegenden Fall eines Zwanzigjährigen, der seine Großmutter umgebracht haben soll. Howard Stamp war ebenfalls ein Außenseiter, nicht aufgrund seiner Hautfarbe, sondern weil er sich wegen einer Lippenspalte und seiner Debilität nur schwer verständlich machen konnte. Nahezu alle Figuren in dem komplexen Roman „Der Außenseiter“ von Minette Walters sind traumatisiert oder haben zumindest eine aktuelle Lebenskrise noch nicht überwunden. „Der Außenseiter“ ist nicht nur ein spannender Psychothriller, sondern zugleich ein Sozialdrama, in dem es um Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt, Drogenmissbrauch, Alkoholkrankheit, Rassismus, soziale Unterschiede, polizeiliche Übergriffe und anderes mehr geht.

Minette Walters beginnt den Roman „Der Außenseiter“ mit der Vergewaltigung einer Dreizehnjährigen durch drei ein Jahr ältere Schüler. Dann verstößt sie bewusst gegen alle Regeln, Leserinnen und Leser zu fesseln und zitiert 45 Seiten lang aus einer fiktiven wissenschaftlichen Studie und den ebenso erdachten Zuschriften, die Jonathan Hughes, einer der Protagonisten, auf die Veröffentlichung hin bekam. Später fügt sie Polizeiprotokolle, Briefe und E-Mails in den Text mit ein. Damit setzt Minette Walters den Stil: Präzise und detailliert, ruhig, sachlich und nüchtern. Mit dem Anthropologen Jonathan Hughes und der Stadträtin George Gardener stellt sie zwei grundverschiedene Charaktere nebeneinander und zeichnet sie ebenso eindringlich wie alle anderen Figuren. Sympathieträger sind übrigens nicht darunter. Aus deren subjektiven Erinnerungen und Lügen sowie Nachforschungen von Jonathan, George und einer Privatdetektivin baut Minette Walters in „Der Außenseiter“ das Geschehen Stück für Stück und vorwiegend aus lebendigen Dialogen auf.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

Minette Walters (Kurzbiografie)

Minette Walters: Im Eishaus
Minette Walters: Die Bildhauerin
Minette Walters: Die Schandmaske
Minette Walters: Dunkle Kammern (Verfilmung)
Minette Walters: Wellenbrecher
Minette Walters: Der Nachbar
Minette Walters: Fuchsjagd
Minette Walters: Der Schrei des Hahns
Minette Walters: Der Schatten des Chamäleons

Dieter Wunderlich - Göring und Goebbels
Am Beispiel der beiden grundverschiedenen Charaktere Hermann Göring und Joseph Goebbels veranschaulicht Dieter Wunderlich, wie es zu den grauenvollen Verbrechen der Nationalsozialisten kommen konnte.
Göring und Goebbels

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.