Don Winslow : Missing. New York

Missing. New York
Originalausgabe: Missing. New York Alfred A. Knopf, New York 2014 Missing. New York Übersetzung: Chris Hirte Droemer Verlag, München 2014 ISBN: 978-3-426-30428-0, 395 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die fünfjährige Hailey Hansen wird In Lincoln/Nebraska entführt. Die Polizei geht bald davon aus, dass sie ermordet wurde, nimmt einen Verdächtigen fest und beendet die Ermittlungen. Damit findet sich der 34-jährige Detective Frank Decker nicht ab. Er hofft, dass Hailey noch lebt und er sie findet. Um weiter nach ihr suchen zu können, gibt er eine vielversprechende Karriere auf und quittiert den Dienst. Erst nach einem Jahr erhält er einen Hinweis, der vielleicht weiterhelfen könnte ...
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Kritik

Statt mit Action beeindruckt Don Winslow in dem Kriminalroman "Missing. New York" mit einem intelligenten Aufbau, unerwarteten Wendungen und einer klaren Sprache, in der immer wieder Sarkasmus und Sprachwitz aufblitzen.
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Frank Decker ist 34 Jahre alt und als Detective Sergeant bei der Polizei in Lincoln/Nebraska beschäftigt. Seine Ehe mit Laura, einer Wirtschaftsjuristin, die weit mehr als er verdient, steht vor dem Aus.

Als das fünfjährige dunkelhäutige Mädchen Hailey Marie Hansen beim Spielen mit ihrem Spielzeugpferd Magic aus dem Vorgarten verschwindet, leitet Frank Decker die Ermittlungen. Bei Cheryl Hansen, der Mutter des vermissten Kindes, handelt es sich um eine Weiße. Der Vater, ein Afroamerikaner namens Tyson Michael Garnett, hatte sie noch während der Schwangerschaft verlassen. Er kam vor drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben.

Keiner der Nachbarn hat etwas Verdächtiges beobachtet. Weil die Chancen, ein vermisstes Kind lebend zu finden, mit jeder Stunde drastisch sinken, nehmen Deckers Kollegen bald an, dass das Mädchen ohnehin tot ist und konzentrieren sich darauf, den angenommenen Mordfall aufzuklären. Decker dagegen gibt die Hoffnung nicht auf und tut alles, um das Leben des vermutlich entführten Kindes nicht zu gefährden.

Bevor er noch eine Spur von Hailey Hansen entdeckt, verschwindet Brittany Morgan, die achtjährige blonde Tochter des Versicherungsmanagers Jim Morgan und dessen Ehefrau Donna. Es dauert nicht lang, bis Brittany tot aufgefunden wird. Als mutmaßlicher Entführer und Mörder gilt Harold Gaines, der wegen sexuellen Missbrauchs einer sechsjährigen Nichte bereits eine Haftstrafe verbüßte. Aber mit dem Verschwinden Haileys scheint er nichts zu tun zu haben.

Da die Ressourcen der Polizei beschränkt sind, werden bald keine neuen Ermittlungen mehr durchgeführt. Aber damit findet Frank Decker sich nicht ab: Obwohl er gute Aussichten hätte, Nachfolger des Kripochefs Captain Bill Carter zu werden, quittiert er den Dienst und sucht allein weiter nach Hailey.

Erst ein Jahr nach Haileys Verschwinden reagiert eine Frau aus Jamestown/New York auf seine eigens eingerichtete Website. Drei Tage nach Haileys mutmaßlicher Entführung fiel Evelyn Jenkins an einer Tankstelle in Falconer/New York ein Mädchen auf, das mit einem Spielzeugpferd von der Toilette kam und so aussah wie Hailey Hansen.

Sujay Guptha, der Besitzer der Tankstelle, sucht Frank Decker die Kreditkartenbelege der fraglichen Zeit heraus. Neun Minuten vor Evelyn Jenkins bezahlte Clayton Welles aus New York City mit einer Kreditkarte. Jackie Cerrone, den Mann, der damals Nachtschicht hatte, wurde inzwischen wegen Diebstahls entlassen, aber Decker spürt ihn auf, und der Drogensüchtige erinnert sich an das Mädchen, weil es sich auf dem Parkplatz übergab. Er kennt sogar die Erwachsenen, mit denen das Kind unterwegs war: das Althippiepaar John und Gail Benson. Sie leben auf einer Farm in Bearsville bei Monkeytown westlich von Woodstock.

Frank Decker beobachtet die Farm, bis das Hippie-Paar mit dem Wagen wegfährt. Daraufhin durchsucht er nicht nur die Wohnräume, sondern auch die Scheune. Zwar stößt er auf eine illegale Hanfplantage, aber er findet nichts, was auf die Anwesenheit eines Kindes hinweist.

Das Mädchen hört Schritte und einen Mann, der nach Hailey ruft, aber es hat inzwischen gelernt, dass es Mandy heißt. Außerdem hat es Angst vor einem bösen Mann, der nach Hailey sucht. Mandy wagt deshalb kaum zu atmen.

Nachdem Frank Decker davon ausgehen muss, dass John und Gail Benson nichts mit Hailey Hansens Entführung zu tun haben, fährt er nach New York und sucht das Büro des erfolgreichen Modefotografen Clayton („Clay“) Welles auf. Der sei nicht da, heißt es am Empfang. Decker wendet sich an ein Model, das zwar älter ist als Hailey Hansen, aber der Gesuchten verblüffend ähnlich sieht. Als die 21-jährige Shea Davies erfährt, dass Frank Decker nach einem vermissten Mädchen sucht, nimmt sie ihn mit in die Hamptons, wo Clay Welles das Wochenende verbringt. Der Fotograf Mitte 40, der auch Sheas Liebhaber ist, besitzt dort ein Cottage.

Clay Welles sagt sofort, er wisse nichts von dem Mädchen an der Tankstelle in Falconer und fragt nicht einmal nach einem Foto. Decker entgeht nicht, dass Welles von einem Mädchen spricht, obwohl er nach einem Kind fragte.

Alle hier waren entweder Models oder Ex-Models oder werdende Models oder hätten Models werden können, wenn sie nicht schon Schauspieler oder Schauspielerinnen, Filmemacher oder Schriftsteller oder Choreografen, Tänzer oder Sterneköche oder einfach nur so stinkreich gewesen wären.

Im Verlauf des Abends wird Frank Decker von einer Dame Anfang 40 angesprochen: Addie Van Wyck ist die Vorsitzende der Stiftung „Modefotografen gegen Krebs“. Ebenso wie der Gastgeber besitzt sie ein Cottage in den Hamptons. Während der Woche wohnt sie in einem Penthouse in der Fifth Avenue.

Zurück in seinem billigen Hotel in New York, trifft Decker auf Detective Sergeant Andy Russo von der Mordkommission des NYPD, der freimütig zugibt, dass Clay Welles ihn beauftragte, den Fremden zu überprüfen.

Decker legt es darauf an, Welles zu provozieren. Zu diesem Zweck setzt er sich in eine Modenschau, bei der Shea auftritt. Als sie ihn erblickt, stolpert sie auf dem Laufsteg und Welles starrt den Ex-Polizisten wütend an. Bei einer Sponsorengala fragt Decker den Fotografen laut nach Hailey Hansen. Eine Antwort erwartet er nicht, und er wundert sich auch nicht darüber, dass man ihn hinauswirft. Im Hotel schlagen ihn zwei Kerle zusammen, die ihn wissen lassen, dass sie der Massarano-Mafiafamilie angehören und im raten, unverzüglich aus New York zu verschwinden.

Statt den Rat zu befolgen, folgt Decker dem Mafia-Paten und seinen beiden Bodyguards beim Saint Rosalia Festival, entreißt dann einem der beiden Schlägertypen die Pistole und richtet sie auf Johnny Massarano, während er nach Hailey Hansen fragt. Massarano ist ein Mafioso der alten Schule und will mit Kinderhandel nichts zu tun haben. Als er hört, dass es so etwas in seinem Umfeld geben soll, erlaubt er Decker ausdrücklich, der Sache weiter nachzugehen und sieht großzügig darüber hinweg, dass ihn der Ex-Bulle mit einer Waffe bedrohte.

Als Frank Decker noch davon ausging, dass die Bensons das Mädchen entführt haben könnten, bat er seine frühere Kollegin Willie Shaw in Lincoln, mehr über die beiden Althippies herauszufinden. Nun ruft sie ihn zurück und teilt ihm mit, dass John Benson 2009 mit Harold Gaines im Gefängnis von Lewisburg saß. Decker ärgert sich. Offenbar hatte er auf der Farm etwas übersehen und vergeudete nun wertvolle Zeit in New York!

Er eilt nach Bearsville. Die Bensons haben die Farm offensichtlich überstürzt verlassen. Das Abendessen steht noch auf dem Tisch. Jemand muss sie gewarnt haben. Ist das Kind bei ihnen? Lebt Hailey noch? Diesmal fällt Decker die Öffnung eines Lüftungsrohrs auf, und als er nach dem anderen Ende sucht, entdeckt er im Hühnerstall eine Bodenklappe, unter der sich ein Verlies befindet, in dem Hailey vermutlich gefangen gehalten wurde.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Er ruft den FBI-Agenten John Tomacelli an und drängt ihn herauszufinden, wer am Vorabend auf der Farm anrief. Es gab nur einen Anruf – von Sheas Handy!

Decker rast nach New York zurück. Shea liegt in ihrem Apartment auf dem Fußboden. Sie hat Wodka getrunken und in selbstmörderischer Absicht Schlaftabletten geschluckt. Ob sie die Fahrt ins Krankenhaus überlebt, ist zunächst nicht sicher.

Shea behauptete, eigentlich Jennifer zu heißen und nannte Bob und Helen Davies als Namen ihrer Eltern. Nachprüfungen ergeben jedoch, dass es keine dieser Identitäten gegeben hat. Da begreift Decker, dass Shea als Kind ebenso wie Hailey entführt wurde. Er findet heraus, dass ihr richtiger Vorname Anna lautet und ihre Mutter DeVonne King heißt. Anna King wurde 1999 als siebenjähriges Kind in Camden/New Jersey entführt.

Decker ahnt, dass Clay Welles ihr Handy benutzte, um die Bensons zu warnen.

Es stellt sich heraus, dass Clay Welles, Addie Van Wyck und Johnny Massarano Teilhaber eines von Madeleine Chandler betriebenen exklusiven Bordells in New York sind. Der Mafia-Pate weiß womöglich nicht, dass Kunden bei Addie Van Wyck für 1,5 Millionen Dollar ein Kind bestellen können, das dann eigens entführt und über einen längeren Zeitraum an eine neue Identität gewöhnt wird.

Decker bringt die Vorsitzende der Stiftung „Modefotografen gegen Krebs“ dazu, den Bensons mitzuteilen, dass es einen neuen Kaufinteressenten für das Mädchen gebe, das sie eigentlich für Clay Welles entführt hatten, der damit Shea ersetzen wollte, die ihm zu alt geworden war. Decker nimmt an, dass Welles das Kind bei dem Treffen an der Tankstelle in Falconer begutachtete und abnickte.

Um die Befreiung Haileys nicht zu gefährden, handelt Decker weiter allein, statt die Polizei einzuschalten.

Am nächsten Morgen – dem vereinbarten Zeitpunkt des „Verkaufs“ im Bordell – dringt Decker in die Räume ein. John und Gail Benson liegen tot in einer Badewanne; sie wurden mit Kopfschüssen umgebracht. Madeleines Leiche findet er in einem anderen Raum. Nachdem Decker die beiden Mafiosi ausgeschaltet hat, die ihn im Hotel zusammenschlugen, ruft er nach Hailey, erhält jedoch keine Antwort. Erst als er es mit „Magic“ probiert, schreit Hailey. Andy Russo hat sie in seiner Gewalt. Der korrupte Polizist zerrt das Kind aufs Dach des Hauses hinauf, und als Decker mit einer Pistole auf ihn zielt, hält Russo es über die Dachkante. Aber dann lässt er Hailey aufs Dach fallen und stürzt sich selbst in die Tiefe.

Nach über einem Jahr kann Frank Decker das entführte Mädchen der Mutter Cheryl Hansen zurückbringen.

Addie Van Wyck wird verhaftet und angeklagt. Clay Welles kann nichts nachgewiesen werden. Seine Leiche treibt einige Zeit später im Pool. Es sieht nach einem Suizid mit Schlaftabletten aus, aber Frank Decker ahnt, dass Johnny Massarano auf diese Weise wiederherstellen wollte, was er unter seiner Ehre versteht.

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In dem Kriminalroman „Missing. New York“ prangert Don Winslow eine Gesellschaft an, in der es nicht nur Nachfrage und Angebot für Menschenhandel gibt, sondern sogar für Kinderhandel. Außerdem wirft er der Polizei in den USA vor, sich zu wenig um die Rettung entführter Kinder zu kümmern. Im Zweifel, so Don Winslow, würden die Ermittler einen Fall aufzuklären versuchen, auch wenn sie dabei das Leben eines möglicherweise noch lebenden Kindes stärker gefährden.

„Missing. New York“ beginnt mit seitenlangen Erläuterungen der Polizeiarbeit. Da ist schon etwas Bildungshuberei dabei, aber wie immer sind diese Informationen hochinteressant, denn Don Winslow hat gründlich recherchiert und konzentriert sich auf bedeutsame Details.

Action gibt es lange nicht, und auch dann nur wenig. „Missing. New York“ ist kein reißerischer Thriller. Don Winslow überzeugt stattdessen mit einem intelligenten Aufbau und einer klaren, lakonischen Sprache, auch wenn nicht alle Entwicklungen glaubwürdig sind. Mehrere unerwartete Wendungen sorgen für Spannung. Und immer wieder funkeln Sarkasmus und Sprachwitz auf.

Das Wort überlässt er dem Protagonisten Frank Decker als Ich-Erzähler, aber Don Winslow schiebt hin und wieder kursiv gedruckte Passagen aus der Perspektive des entführten Mädchens Hailey Hansen ein. Und das ermöglicht ihm beispielsweise folgenden Kunstgriff: Während Frank Decker eine Farm durchsucht, hört ihn das eingesperrte Kind, aber er verlässt das Gelände wieder, ohne Hailey entdeckt zu haben und fährt in der Annahme, die Vermisste sei nicht da, weiter nach New York, um eine andere Spur zu verfolgen. Als Leser würden wir ihn am liebsten zurückhalten.

Mit der Eröffnungsszene von „Missing. New York“ greift Don Winslow auf Seite 371 vor, aber bis auf diese Ausnahme folgt die Darstellung der Chronologie der Ereignisse.

Eine Fortsetzung der Reihe über Frank Decker erschien 2016 unter dem Titel „Germany“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Droemer Verlag

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Obwohl Kazuo Ishiguro zunächst den Eindruck erweckt, "Als wir Waisen waren" sei eine Detektivgeschichte, geht es in Wirklichkeit nicht um Kriminalfälle, sondern um eine zu spät erkannte Lebenslüge. Ungeachtet des tragischen Inhalts habe ich den Roman mit großem Vergnügen gelesen.
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