Leo Tolstoi : Die Kreutzersonate

Die Kreutzersonate
Manuskript: 1887/89 Erstausgabe: Die Kreutzersonate, 1890 Erste russische Ausgabe: Moskau 1891 Übersetzung: Raphael Löwenfeld Neudruck: Anaconda Verlag, Köln 2006 ISBN: 3-938484-1, 144 Seiten Übersetzung: Arthuir Luther Insel-Verlag, Berlin 2011 ISBN 978-3-458-36217-3, 146 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Leo Tolstoi schildert in der Novelle "Die Kreutzersonate" eine Ehe, in der aufgrund der rigiden moralischen Ansichten des Mannes keine vertrauensvolle Partnerschaft entstehen kann. Anhaltendes gegenseitiges Misstrauen vergiftet die Lebensgemeinschaft. Und der krankhafte Argwohn des Ehemanns gipfelt in einem finalen Eifersuchtsanfall ...
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Kritik

Die 1890 erschienene Erzählung schildert nicht nur das Scheitern einer Ehe und deren tragisches Ende, sie geht darüber hinaus auf den Moralkodex der russischen Gesellschaft ein.
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Während einer Zugfahrt verfolgt ein mit einem Iltispelz gekleideter grauhaariger Mann die Unterhaltung der anderen Fahrgäste mit Interesse. Die meisten sind der Meinung, dass „nur die Liebe die Ehe heiligt und dass die wahre Ehe nur die ist, die von der Liebe geheiligt wird“ (Seite 13). Ein Reisegast wendet jedoch ein, dass die meisten Eheleute „in der Ehe nur Paarung“ sähen und „das Resultat Betrug und Gewalt“ sei (Seite 16).

Mann und Frau lügen nur den Menschen vor, dass sie in der Einehe leben. Sie leben aber in Vielweiberei und Vielmännerei. Das ist schlecht, aber es geht noch; wenn aber, wie es am häufigsten der Fall ist, Mann und Frau die äußerliche Verpflichtung auf sich genommen haben, ihr ganzes Leben miteinander zu verleben, und schon vom zweiten Monat an einander hassen und wünschen, sich voneinander zu trennen, und dennoch zusammenleben, dann entsteht jene schreckliche Hölle, in welcher Trunk, Mord, Todschlag, Gift- und Selbstmord herrschen. (Seite 17f)

Ja, es gäbe wohl kritische Episoden im Eheleben, wendet ein mitreisender Advokat ein, um das aufgeregte Gespräch zu beenden.

Der Herr mit dem Iltispelz macht auf sich aufmerksam: Er sei ein solcher Mann mit einem kritischen Fall – er habe seine Frau getötet. Daraufhin breitet sich verlegenes Schweigen aus, und es schickt sich, dass die meisten Reisenden umsteigen.

Er heiße Posdnyschow, stellt sich der Grauhaarige dem noch verweilenden Passagier vor. Wenn er seine Gesellschaft trotzdem dulde, obwohl er nun wisse, mit wem er es zu tun habe, würde er ihm darlegen, wie er zum Mörder wurde.

Gutsbesitzer war er, außerdem Kandidat der Universität und Adelsmarschall, fängt Posdnyschow an. Bis zu seiner Heirat führte er ein leichtlebiges Leben, wie alle Männer in seinen Kreisen. Aus Rücksicht auf seine Gesundheit achtete er aber darauf, seine Ausschweifungen nicht zu übertreiben. Nach einem Kneipenabend landete er mit seinem Bruder, der ebenso unschuldig war wie er, in einem Bordell. Da war er fünfzehn und fühlte sich danach „beschmutzt“. Es verstörte ihn, dass er nicht dem natürlichen Zauber einer Frau erlegen war, sondern in dem Akt quasi ein nützliches und gesetzlich unterstütztes Erleichterungsmittel für die Gesundheit in Anspruch genommen hatte. Mit dieser Anschauung stand er allerdings allein, denn es herrschte die Meinung, dass derartige durch Aufsichtsbehörden überwachte Etablissements etwas Gutes seien. Selbst Mütter befürworteten solche öffentliche Häuser und die Wissenschaft sowieso.

Was sind denn die Ärzte? – Priester der Wissenschaft. Wer verdirbt die jungen Leute, wer behauptet, es sei der Gesundheit zuträglich? – Sie! Wollte man nur ein Hundertstel der Bemühungen, die man zur Heilung der Syphilis aufwendet, an die Ausrottung der Ausschweifung wenden, es gäbe längst keine Syphilis mehr. Und nun macht man Anstrengungen nicht zur Ausrottung der Ausschweifung, sondern zu ihrer Förderung, zur Sicherung der Gefahrlosigkeit der Ausschweifung. (Seite 22)

Seit diesem Tag konnte er kein reines Verhältnis zu einer Frau mehr finden; er fühlte sich als gefallener Mann. Wie Morphiumsüchtige oder Trinker keine normalen Menschen seien, so könne man auch einen Mann, der mehrere Frauen zu seinem Genuss benutzt, nicht als normal bezeichnen: „Er ist ein in alle Ewigkeit verderbter Mensch, ein Gefallener.“ (Seite 25) Posdnyschow sah sich als gefallenen Mann. Das mag die Ursache seines späteren Verbrechens gewesen sein, sagt er.

Bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr dachte er nicht daran, eine Familie zu gründen. Dann fand er ein Mädchen, das „in seiner Reinheit ihm würdig erschien“. Es war eine der beiden Töchter eines früher reichen Gutsbesitzers, der aber inzwischen sein Vermögen verloren hatte.

Nach einer nächtlichen Kahnfahrt, während der er sich von ihrem Äußeren bezaubern ließ, stand für ihn fest, dass sie der „Gipfel an Vollkommenheit“ war, und am Tag darauf machte er ihr einen Antrag. Er war reich, sie arm; so konnte man ihm nicht vorwerfen, aus Habsucht zu heiraten. Und er war stolz auf seinen Vorsatz, auf „Vielweiberei“ nach der Ehe zu verzichten.

Die Flitterwochen stellten sich als eine Zeit der „Unbehaglichkeit, Scham und Langeweile“ heraus; schon bald kamen „Missmut und Qual“ hinzu. Als Posdnyschow sich nach der Ursache der trüben Stimmung seiner Frau erkundigte, brach sie in Tränen aus. Er war über ihre vermeintliche Launenhaftigkeit verstimmt, und es kam zu einem heftigen Streit.

Ich nannte es einen Streit, aber es war kein Streit. Es war nur die Offenbarung der Kluft, welche in Wirklichkeit zwischen uns bestand. Die Verliebtheit war mit der Befriedigung der Sinnenlust dahingeschwunden, und wir standen uns nun gegenüber in unserem wahren Verhältnis zueinander, als zwei einander völlig fremde Egoisten, die einer vom anderen so viel Genuss als möglich zu empfangen begehrten. (Seite 46)

Die Querelen hielten an, und Posdnyschow machte sich Vorwürfe, dass er ein „schweinisches Leben“ führte, weil er trotz der inzwischen gegenseitigen Abneigung mit seiner Frau weiterhin geschlechtlich verkehrte.

Die Tiere begatten sich nur dann, wenn sie Nachkommenschaft erzeugen können, und der gemeine Herr der Schöpfung immer, so oft es ihm Vergnügen macht. Und noch mehr! Er erhöht diese Affentätigkeit zum Gipfel der Schöpfung, zur Liebe. (Seite 52)

Die Frau (ihren Namen erfahren wir nicht) bekam ihr erstes Kind, das sie selbst nähren wollte. Die Ärzte empfahlen ihr aber wegen ihrer geschwächten körperlichen Konstitution davon abzusehen. Posdnyschow sah in dieser Verordnung keinen Sinn, zumal der Verzicht des Stillens in seinen Augen ihre „Gefallsucht“ förderte. Seine latente Eifersucht kam endgültig zum Ausbruch.

In acht Jahren brachte die Frau fünf Kinder zur Welt, die sie alle, mit Ausnahme des ersten, selbst stillte. Mit den Kindern kam eine weitere Unzufriedenheit in Posdnyschows Leben: Er empfand sie als Qual. Die fortwährende Angst, dass sie krank würden und die Überlegungen, ob sie die richtige Erziehung erhielten, belasteten das Eheleben erheblich.

Schon im vierten Jahr ihrer Ehe sahen beide ein, dass sie einander nicht verstanden. Sich darüber auszusprechen, versuchten sie aber nicht.

…wir waren […] zwei Sträflinge, die einander hassen und die an eine Kette geschmiedet sind, die einander das Leben vergiften und sich alle Mühe geben, das nicht zu sehen. Ich wusste damals noch nicht, dass neunundneunzig Hundertstel aller Eheleute in ganz derselben Hölle lebten wie ich und dass es nicht anders sein kann. (Seite 67)

Die Erziehung der Kinder erforderte es, dass das Ehepaar in die Stadt übersiedelte. Das zog auch gesellschaftliche Verpflichtungen nach sich und lenkte etwas von der Krise ab. Nach zwei Jahren in der Stadt fühlte sich seine Frau gesundheitlich nicht wohl. Die Ärzte empfahlen ihr, keine weiteren Kinder zu gebären. Diese Anweisung zur Schwangerschaftsverhütung war nach Posdnyschows Auffassung der Auslöser für das spätere Fiasko.

Mir war das widerlich. Ich kämpfte dagegen an, sie aber bestand mit leichtsinniger Hartnäckigkeit auf ihrer Meinung, und ich fügte mich; die letzte Rechtfertigung des schweinischen Lebens – die Kinder – war nun fortgefallen, und das Leben wurde noch schmutziger. (Seite 69)

Nach weiteren zwei Jahren musste er zur Kenntnis nehmen, dass sich seine Frau mit ihrem Leben gut abgefunden hatte, und nicht nur das:

Das Mittel dieser Schurken von Ärzten fing sichtlich an zu wirken. Sie entwickelte sich physisch und wurde schön wie eine Spätsommerblüte. Sie fühlte das und beschäftigte sich mit ihrer Person. Sie entwickelte sich zu einer herausfordernden, die Männer beunruhigende Schönheit. Sie stand in der Vollkraft einer dreißigjährigen, nicht gebärenden, wohlgenährten und sinnlich erregten Frau. Ihr Anblick erregte Unruhe. (Seite 71)

Sie beschäftigte sich jetzt weniger mit den Kindern und fing wieder an, Klavier zu spielen. Als Begleitung auf der Geige fand Frau Posdnyschow einen Musiker, der auch Unterricht erteilte. Posdnyschow war nicht begeistert, als er hörte, wen sie sich ausgesucht hatte. Er kannte Truchatschewskij von früher. Der junge, hübsche, modisch gekleidete Musikant hatte eine Weile in Paris gelebt und fiel mit seiner gekünstelten Heiterkeit auf. Wäre nicht Truchatschewskij gekommen, wäre es ein anderer gewesen, der Anlass zu Eifersucht gegeben hätte, überlegte sich Posdnyschow.

Die ehelichen Auseinandersetzungen waren in gegenseitigen Hass umgeschlagen und die Situation wurde unerträglich. Sie hatten sich dann zwar in einem Waffenstillstand arrangiert, der auch eine Weile anhielt, aber ein Streit artete zuletzt dermaßen aus, dass Posdnyschows Frau sich körperlich bedroht fühlte und er ihr hinterherschrie, sie solle doch krepieren. Tief gekränkt verließ sie das Haus und blieb über Nacht fort. Erst am nächsten Vormittag erfuhr er von ihrer Schwester, dass sie bei ihr gewesen war. Am Nachmittag kehrte seine Frau zurück, um die Kinder abzuholen. Zu einer Aussprache war sie nicht bereit und schloss sich in ihr Zimmer ein. Nach einer Weile kam die älteste Tochter aufgeregt angerannt: die Mama sei ganz still. Diese lag regungslos auf dem Bett; sie hatte wohl Opium genommen. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, suchten sie in einer halbherzigen Versöhnung Trost. Der Groll bestand weiterhin.

Das war die Situation, in der Truchatschewskij zu den Posdnyschows kam. Die Frau und der Musiker fanden gleich Gefallen aneinander. Der Ehemann verhielt sich übertrieben liebenswürdig, um sich seine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Von Anfang an quälte ihn Eifersucht, die er mit Höflichkeit zu überspielen versuchte. Anlass für einen Verdacht lieferte ihm ein Besuch des Geigers während seiner Abwesenheit. Als der Hausherr vorzeitig zurückkam, hörte er hinter verschlossenen Türen seine Frau und Truchatschewskij wispern, und gleichzeitig Klaviergeklimper. Spielten sie nur Klavier, um ihr Liebesgeflüster zu übertönen? Als Posdnyschow ins Zimmer trat, kam es ihm vor, als ob sie aufschreckten. Mit spöttischem Lächeln, wie es dem Ehemann schien, erwähnte der Geiger, dass er Noten mitgebracht habe, um eine Beethoven’sche Sonate einzuüben, die sie den Gästen am Sonntag zum Vortrag bringen wollten.

Als Frau Posdnyschow mit ihrem Mann über die geplante Musikdarbietung sprechen wollte, behandelte er sie derart entwürdigend, dass sie sich beschwerte, er schimpfe „wie ein Fuhrknecht“. Daraufhin schrie er sie an, sie solle sich fortscheren „oder ich töte dich“. Als sie immer noch nicht gegangen war, schmetterte er Gegenstände von seinem Schreibtisch auf den Fußboden. Erst dann ging sie aus dem Zimmer. Nach einer Stunde wurde er von dem Hausmädchen gerufen, seine Frau habe einen Kollaps. Am nächsten Morgen ging es ihr wieder besser, und sie versöhnten sich „unter dem Einfluss der Empfindung, die wir Liebe nannten“ (Seite 93).

Der Musikvortrag – sie spielten die Kreutzersonate – gefiel nicht nur den Gästen; auch der Hausherr entspannte sich.

Nachdem der Besuch gegangen war, verabschiedete sich Truchatschewskij, der wusste, dass sein Gastgeber in zwei Tagen zu einer Konferenz fahren würde. Er hoffe, bei einer ähnlichen Gelegenheit wieder das Vergnügen eines Auftritts zu haben, schmeichelte er. Daraus schloss Posdnyschow, dass der Musiker während seiner Abwesenheit nicht mehr ins Haus kommen würde.

Beruhigt fuhr Posdnyschow zu der Versammlung. Zwei Tage danach erhielt er einen Brief seiner Frau, in dem sie ihm unter anderem beiläufig mitteilte, dass Truchatschewskij mit den versprochenen Noten bei ihr vorbeigekommen sei und sie aufgefordert habe, mit ihr zu musizieren; das hätte sie aber abgelehnt. Posdnyschow ärgerte sich, dass der Geiger seine Abwesenheit zu einem Besuch genutzt hatte, und außerdem schien es ihm, dass im Brief seiner Frau ein unbewusst gezwungener Ton lag. „Das wütende Tier Eifersucht brüllte in seiner Höhle.“ (Seite 99) Er versuchte sich abzulenken, was ihm aber nicht gelang. Deshalb reiste er vorzeitig ab.

Die Rückreise mit Eisenbahn und Kutsche dauerte wegen einiger unvorhersehbarer Störungen länger als üblich, und so hatte er viel Zeit über die Situation nachzudenken.

War es nicht entsetzlich, dass ich mir ein unzweifelhaftes, uneingeschränktes Recht auf ihren Körper zuerkannte, als wäre es mein Körper, dass ich aber zugleich fühlte, dass ich diesen Körper nicht in meiner Gewalt haben konnte, dass er nicht mein ist, dass sie über ihn verfügen kann, wie sie will, und dass sie über ihn nicht so verfügen wolle, wie ich will. Und ich kann ihm und ihr nichts tun. […] Und gegen sie kann ich noch weniger ausrichten. Wenn sie nichts getan hat, aber tun will – und ich weiß, dass sie will –, umso schlimmer, es wäre schon besser, sie hätte es getan, und ich wüsste es, damit nur die Ungewissheit nicht wäre. Ich hätte kaum sagen können, was ich wünschte. Ich wünschte, sie wollte nicht, was sie wollen musste. Es war vollkommener Wahnsinn! (Seite 106f)

Als Posdnyschow endlich in der Nacht nach Hause kam, brannte in den Zimmern noch Licht. Vom Diener erfuhr er, dass Truchatschewskij da war. Aus einem Raum hörte er Stimmen und Besteckklappern. Ohne noch etwas unternommen zu haben warf er sich schluchzend in seinem Arbeitszimmer aufs Sofa. Er hatte Herzschmerzen und fürchtete zu sterben. Oder sollte er sich lieber selbst töten? Nein, diesen Gefallen wird er ihr nicht tun. Er hätte sie seinerzeit umbringen sollen, als er bei seinem damaligen Wutanfall Sachen zerschlug, ging es ihm durch den Kopf.

Dann griff er sich einen Dolch von der Wand und schlich sich auf Strümpfen hinüber zu den beiden. Er riss die Tür auf, und zu seiner „qualvollen Wonne“ schaute er in ihre entsetzten Mienen. Truchatschewskij sprang auf, und bei seiner Frau meinte er darüber hinaus einen Ausdruck von Erbitterung oder Ärger über das gestörte tête-à-tête bemerkt zu haben. Dann schien es ihm, als ob sie überlegte, sich mit Leugnen herauszureden. Posdnyschow stand noch in der Tür mit dem Dolch hinter dem Rücken, als Truchatschewskij versuchte, in gleichgültigem Ton zu erklären, sie hätten gerade musiziert. Die ertappte Frau wiederholte den Satz wie ein Echo. Posdnyschow stürzte sich auf sie in der Absicht, ihr einen Stich in die Brust zu versetzen. Truchatschewskij fiel ihm in den Arm und die Handgreiflichkeiten zwischen den beiden Männern wurden immer heftiger. In seiner rasenden Wut schlug der Ehemann auf seine Frau ein und traf sie mit dem Ellbogen im Gesicht. Sie ließ sich aufs Sofa fallen und griff nach seiner Hand, um ihn zu beschwichtigten: Sie schwor ihm, es sei nichts Unrechtes vorgefallen, er möge sich doch beruhigen. Aber er war in seiner Raserei nicht mehr aufzuhalten, packte ihren Hals und würgte sie. Es gelang ihr nicht, sich loszureißen, und er stieß mit dem Dolch zu.

Es war nicht so, erklärt Posdnyschow dem Mitreisenden, dass er, wie allgemein behauptet werde, bei diesem Wutanfall nicht gewusst hätte, was er tat. Er handelte mit klarem Bewusstsein und könne sich jetzt noch erinnern, wie er den Widerstand des Korsetts fühlte und dann das Eindringen der Klinge in weiches Fleisch.

Die Verwundete konnte noch nach dem Hausmädchen rufen. Dann stürzte sie blutüberströmt zu Boden. Posdnyschow ging aus dem Zimmer und holte sich einen Revolver. Zu einem Selbstmord war er jedoch nicht fähig.

Der herbeigeeilte Arzt überredete ihn, zu seiner sterbenden Frau zu gehen. Eigenartigerweise rührte ihn am meisten ihr blau geschlagenes Gesicht, das von seinem Hieb herrührte. Jetzt, an ihrem Sterbebett, nahm er sich vor, würde er ihr großmütig verzeihen. Seine Frau wendete sich an ihn: Es sei ihm zwar gelungen, sie zu töten, aber die Kinder überlasse sie ihm nicht; ihre Schwester werde sie zu sich nehmen. Als er sie so geschunden daliegen sah, erschienen ihm seine Eifersucht und die erlittenen Kränkungen bedeutungslos, und er bat sie um Verzeihung. In ihren Fieberfantasien nahm sie ihn nicht mehr wahr und stöhnte nur noch, dass sie ihn hasse. – Ein paar Stunden später starb sie.

Vorher hatte die Polizei Posdnyschow schon ins Gefängnis gebracht. Nach drei Tagen führte man ihn an den Sarg, und erst da begriff er, dass seine Tat durch nichts gutzumachen war. Während der elf Monate, in denen er auf ein Gerichtsurteil warten musste, dachte er an nichts anderes.

Zum Schluss seines Bekenntnisses schluchzt Posdnyschow und verrät seinem ins Vertrauen gezogenen Reisegefährten seine Erkenntnis:

[…] wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß, es wäre etwas ganz anderes gewesen. Ich hätte sie nicht geheiratet, um nichts in der Welt, und nie hätte ich geheiratet! (Seite 123)

Dann legt er sich auf die Holzbank und deckt sich mit einem Plaid zu.

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Die Novelle „Die Kreutzersonate“ von Leo Tolstoi wurde zuerst 1890 in deutscher Übersetzung (von Raphael Löwenfeld) veröffentlicht. In Russland erschien sie erst im Jahr darauf.

Während einer Eisenbahnfahrt, die als Rahmenhandlung dient, unterhalten sich Reisegäste darüber, worauf sich eine glückliche Ehe gründet. Ein mitreisender alter Herr, er heißt Posdnyschow, meldet sich ebenfalls zu Wort und gibt ungefragt zu verstehen, dass er seine Frau tötete. Nachdem die meisten Fahrgäste ausgestiegen sind, vertraut er seinem Gegenüber seine Geschichte an. In seinen jungen Jahren führte er, wie alle anderen Männer auch, ein ausschweifendes Leben. Als er allerdings in einem Bordell seine Unschuld verlor, kam er sich erbärmlich vor. Er wollte eigentlich keine Familie, aber dann lernte er eine schöne Frau kennen und heiratete sie im Alter von dreißig Jahren. Im Grunde lehnte er die Geschlechtlichkeit ab, denn er wollte kein „schweinisches Leben“ führen. Schon während der Flitterwochen kam es zu Streitigkeiten, die in den nächsten Jahren immer heftiger wurden und zu gegenseitigem Hass führten. Die Frau bekam fünf Kinder, die Posdnyschow aber auch nur als Qual empfand. Als der Dreißigjährigen aus Gesundheitsgründen nahegelegt wurde, keine Kinder mehr zu gebären, veränderte der Ratschlag der Ärzte ihre Lebensweise, und Posdnyschow beobachtete mit zunehmender Eifersucht, wie seine Gattin aufblühte und sich persönlichen Neigungen widmete. So nahm sie auch wieder ihr Klavierspiel auf und musizierte zusammen mit einem jungen Geiger. Diese gemeinsamen Musikstunden hielt Posdnyschow für sinnliche Schwelgereien, und er unterstellte seiner Frau ein Verhältnis mit dem jungen Mann. Weil er sich wegen eines Briefes seiner Frau beunruhigte, der ihn auf einer mehrtägigen Konferenz erreichte, reiste er vorzeitig zurück. In seinem Haus traf er dann tatsächlich den vermeintlichen Liebhaber an. In einem rasenden Eifersuchtsanfall tötete er seine Frau mit einem Dolch.

Neben der eigentlichen Handlung schweift die Erzählung in Exkursen des Protagonisten ab, in denen er anhand seiner eigenen Eindrücke den allgemeinen sittlichen Werteverfall zu verstehen versucht. Das Manuskript der „Kreutzersonate“ entstand 1887 bis 1889, und so ist vielleicht auch zu erklären, dass der Autor auf die emotionale Befindlichkeit der Ehefrau, von der wir übrigens keinen Namen wissen, nicht ausführlicher eingeht. Immerhin fügt sich die Frau nicht klaglos in ihr Schicksal und begehrt hin und wieder auf. Und als die Kinder größer sind, widmet sie sich wieder ihren eigenen Interessen.

In einem Nachwort zur Ausgabe der „Kreutzersonate“ von 1900, das Tolstoi aufgrund zahlreicher Anfragen von Lesern verfasste, die ihn um eine deutlichere Erklärung seiner Ansichten baten, legt er seinen Moralkodex in komprimierter Form dar.

Jay Parini schrieb über das letzte Lebensjahr Tolstois den biografischen Roman „The Last Station. A Novel of Tolstoi’s Last Year“ (1990; „Tolstojs letztes Jahr“, Übersetzung: Barbara Rojahn-Deyk, C. H. Beck, München 2008, 357 Seiten, ISBN 978-3-406-57034-6). Das Buch wurde von Michael Hoffman verfilmt:

Ein russischer Sommer – Originaltitel: The Last Station – Regie: Michael Hoffman – Drehbuch: Michael Hoffman, nach einem Roman von Jay Parini – Kamera: Sebastian Edschmid – Schnitt: Patricia Rommel – Musik: Sergey Yevtushenko – Darsteller: Helen Mirren, Christopher Plummer, Paul Giamatti, James McAvoy, John Sessions, Patrick Kennedy, Kerry Condon, Anne-Marie Duff, Tomas Spencer, Christian Gaul, Wolfgang Häntsch u.a. – 2009; 110 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2010
Textauszüge: © Anaconda Verlag

Leo Tolstoi (Kurzbiografie)
Leo Tolstoi: Krieg und Frieden
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Sofja Tolstaja: Eine Frage der Schuld
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Carl Amery - Die Wallfahrer
In dem Roman "Die Wallfahrer" beschäftigt sich Carl Amery mit katholischer Tradition, bayrischer Geschichte, Ökologie und Science Fiction. Auch stilistisch ergibt sich eine breites Spektrum.
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