Leo Tolstoi


Leo Tolstoi (eigentlich: Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi) wurde am 9. September 1828 (Gregorianischer Kalender; Julianischer Kalender: 28. August) auf dem Gut der Adelsfamilie in Jasnaja Poljana bei Tula in Zentralrussland geboren. Zwei Tage vor seinem zweiten Geburtstag starb seine Mutter. Mit neun Jahren wurde er Vollwaise. Zunächst kümmerte sich Tatjana Jergolskaja um ihn und seine drei Geschwister, 1841 übernahm eine reiche Tante (Schwester des verstorbenen Vaters) in Kasan die Vormundschaft. Drei Jahre später begann Leo Tolstoi an der Universität Kasan zu studieren, zunächst orientalische Sprachen, dann Jura, aber 1844 brach er das Studium ab.

In dieser Zeit führte er ein ausschweifendes Leben.

[Tolstoi zog es] zu Gerechtigkeit und Wahrheit. Aber auf diesem Weg gab es einen Teufel, der ihm begegnete. Die Leidenschaft für Frauen, die Gier nach Ruhm, Eitelkeit. (Graf Wladimir Tolstoi im Interview mit Harald Hordych, Süddeutsche Zeitung 19. Juni 2010)

Nicht zuletzt, um seinen Gläubigern zu entkommen, meldete Leo Tolstoi sich 1851 zum Militär und diente fünf Jahre lang in der zaristischen Armee. Er kämpfte im Krimkrieg.

1857 und 1860/61 bereiste Leo Tolstoi Westeuropa und traf sich dabei nicht nur mit Schriftstellern wie Charles Dickens und Iwan Sergejewitsch Turgenew, sondern vor allem auch mit fortschrittlichen Pädagogen wie Friedrich Fröbel und Adolph Diesterweg.

Am 23. September 1862, zwei Wochen nach seinem vierunddreißigsten Geburtstag, heiratete Leo Tolstoi die achtzehnjährige Sofja Andrejewna Behrs aus Deutschland. Mit ihr zeugte er dreizehn Kinder.

Mit dem monumentalen Roman „Krieg und Frieden“ schrieb Leo Tolstoi 1863 bis 1866 eines seiner bedeutendsten Werke. Es erschien 1868/1869. „Anna Karenina“ folgte 1878.

Leo Tolstoi bemühte sich, die Lage der dreihundertfünfzig Leibeigenen auf dem Stammgut der Familie in Jasnaja Poljana zu verbessern, und er gründete 1860 eine Dorfschule, die allerdings von den Behörden geschlossen wurde. Als er bei der Volkszählung 1882 mit dem Elend des Proletariats in Moskau konfrontiert wurde, setzte er sich dafür ein, die Landflucht durch Hilfen für die Bauern einzudämmen. Überhaupt engagierte sich der Gerechtigkeitsfanatiker dauerhaft für sozial Benachteiligte und besuchte politische Häftlinge im Gefängnis. Eine sozialistische Revolution kam für Leo Tolstoi jedoch nicht in Frage. Er dachte viel über den Sinn des Lebens nach und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Dabei distanzierte er sich von kirchlichen Institutionen ebenso wie von einigen Lehrsätzen des orthodoxen Glaubens – wie die unbefleckte Empfängnis oder die Dreieinigkeit – und übersetzte die Evangelien neu ins Russische. 1901 wurde er vom Heiligen Synod exkommuniziert.

Spätestens ab 1882 beobachtete ihn die Polizei argwöhnisch, und während Leo Tolstoi im Ausland als Schriftsteller gefeiert wurde, wurden einige seiner Werke in Russland verboten. Bei einer Hausdurchsuchung im Jahr 1908 wurden alle auffindbaren Manuskripte konfisziert.

Weil Sofja nicht damit einverstanden war, dass ihr Mann auf die Urheberrechte an seinen literarischen Werken verzichtete und sie nicht ihr, sondern dem russischen Volk vermachte, kam es zum Streit. Leo Tolstoi verließ mit seinem Arzt und seiner jüngsten Tochter die Familie und brach am 28. Oktober 1910 heimlich nach Süden auf.

Es ist […] nicht so, dass Tolstoi vor seiner zänkischen Ehefrau davongelaufen ist […] Tolstoi hatte ein Gefühl der Ausweglosigkeit, weil er glaubte, keinen Einfluss mehr auf das Leben um ihn herum nehmen zu können. Da waren die Tolstojaner, dann die Bittsteller, die aus aller Welt kamen, die Journalisten, die ihn überall fotografiert haben, sogar wenn er zum Klo ging. Dieser [Wladimir Grigoriewitsch] Tschertkow, der gefordert hat, dass er sich von seinem Eigentum lossagen soll. Er wurde wirklich in Stücke gerissen. Und er war ein alter Mann von 82. Der nur von einem geträumt hat: sich zurückzuziehen und in Frieden zu arbeiten. Er ist einfach fortgegangen, weil es unerträglich war. (Graf Wladimir Tolstoi a.a.O.)

Am 20. November 1910 starb Leo Tolstoi im Bahnwärterhäuschen von Astapowo unweit von Jasnaja Poljana an einer Lungenentzündung. Zwei Tage später wurde er in Jasnaja Poljana begraben. Ungeachtet des anders lautenden Testaments wurden die Rechte an seinen literarischen Werke seiner Witwe Sofja Andrejewna Tolstaja (1844 – 1919) gerichtlich zugesprochen.

Michael Hoffman beschäftigt sich in dem Film „Ein russischer Sommer“ mit dem letzten Lebensjahr des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi.

Ein russischer Sommer – Originaltitel: The Last Station – Regie: Michael Hoffman – Drehbuch: Michael Hoffman, nach dem Roman „Ein russischer Sommer“ von Jay Parini – Kamera: Sebastian Edschmid – Schnitt: Patricia Rommel – Musik: Sergei Yevtushenko – Darsteller: Helen Mirren, Christopher Plummer, James McAvoy, Paul Giamatti, Kerry Condon, Anne-Marie Duff, Patrick Kennedy, John Sessions, Nenad Lucic, David Masterson, Tomas Spencer u.a. – 2009; 110 Minuten

Literatur über Leo Tolstoi

  • Christian Bartolf: Ursprung der Lehre vom Nicht-Widerstehen. Über Sozialethik und Vergeltungskritik bei Leo Tolstoi. Ein Beitrag zur Bildungsphilosophie der Neuzeit
    (Berlin 2006)
  • Maximilian Braun: Tolstoj. Eine literarische Biographie (Göttingen 1978)
  • Pietro Citati: Leo Tolstoi. Eine Biographie (Reinbek 1994)
  • Eberhard Dieckmann (Hg.): Russische Zeitgenossen über Tolstoi. Kritiken, Aufsätze, Essays 1855 – 1910 (Berlin 1990)
  • Anne Edwards: Die Tolstois. Krieg und Frieden in einer russischen Familie
    (Frankfurt/M 1988)
  • René Fülöp-Miller, Friedrich Eckstein (Hg.): Tolstois Flucht und Tod, geschildert von seiner Tochter Alexandra. Mit den Briefen und Tagebüchern von Leo Tolstoi, dessen Gattin, seines Arztes und seiner Freunde (Zürich 2008)
  • Horst-Jürgen Gerigk: Die Russen in Amerika. Dostojewskij, Tolstoj, Turgenjew und Tschechow in ihrer Bedeutung für die Literatur der USA (Hürtgenwald 1995)
  • Gustav Glogau: Leo Graf Tolstoi ein russischer Reformator. Ein Beitrag zur Religionsphilosophie (Schutterwald 1998)
  • Edith Hanke: Prophet des Unmodernen. Leo N. Tolstoj als Kulturkritiker in der deutschen Diskussion der Jahrhundertwende (Tübingen 1993)
  • Ursula Keller, Natalja Sharandak: Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs (Frankfurt/M / Leipzig 2009)
  • Geir Kjetsaa: Lew Tolstoi. Dichter und Religionsphilosoph (Gernsbach 2001)
  • Ulrich Klemm: Leo Tolstoi. Dicher, Christ, Anarchist (Hilterfingen 2008)
  • Janko Lavrin: Lev Tolstoj mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbek 1961)
  • Wilhelm Lettenbauer: Tolstoj. Eine Einführung (München 1984)
  • Jay Parini: Tolstois letztes Jahr (München 2009)
  • Werner H. Preuß (Bearb.): Leo N. Tolstoi. Ein Wegbereiter der modernen Erlebnispädagogik? (Lüneburg 2008)
  • Wolfgang Sandfuchs: Dichter – Moralist – Anarchist. Die deutsche Tolstojkritik 1880 – 1900 (Stuttgart 1995)
  • Viktor Schklowski: Leo Tolstoi. Eine Biographie (Wien 1981)
  • Robert Widl: Licht und Finsternis im Leben des Lew Tolstoi (Mühlacker 1994)
  • Magdalene Zurek: Tolstojs Philosophie der Kunst (Heidelberg 1996)
  • Stefan Zweig: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova, Stendhal, Tolstoi (Leipzig 1928)

© Dieter Wunderlich 2010

Sofja Tolstaja (Kurzbiografie)

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden
Leo Tolstoi: Anna Karenina (Verfilmung 2012)
Leo Tolstoi: Die Kreutzersonate

Michela Murgia - Accabadora
Michela Murgia räsoniert nicht, sondern inszeniert in einer wortkargen, vitalen Sprache eine packende Geschichte, die in einer archaischen Umgebung spielt. "Accabadora" ist eine Perle anspruchsvoller Literatur.
Accabadora