Bernhard Schlink : Der Vorleser

Der Vorleser
Der Vorleser Originalausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 1995 ISBN: 978-3-257-06065-2, 207 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 15-jährige Gymnasiast Michael Berg beginnt heimlich ein Liebesverhältnis mit der 36 Jahre alten Straßenbahnschaffnerin Hanna Schmitz. Nach ein paar Monaten ist sie plötzlich verschwunden. Während des Jura-Studiums verfolgt Michael einen KZ-Prozess – und erkennt zu seiner Überraschung in einer der Angeklagten Hanna. Die Frauen sind angeklagt, weil sie als KZ-Aufseherinnen an Selektionen beteiligt waren und nach der Evakuierung Häftlinge in einer von Bomben getroffenen Kirche verbrennen ließen ...
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Kritik

Mit seinem heftig umstrittenen Roman "Der Vorleser" schaffte es Bernhard Schlink als erster deutscher Schriftsteller auf Platz 1 der Bestsellerliste in der "New York Times".
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1958. Michael Berg, ein fünfzehnjähriger Gymnasiast, muss sich auf der Straße übergeben. Eine fremde Frau kommt ihm zu Hilfe, nimmt ihn mit in den Hof des Hauses, in dem sie wohnt, wäscht ihm das Gesicht und die Hand, die er sich vor den Mund gepresst hatte. Dann füllt sie zwei Eimer mit Wasser und schwemmt damit das Erbrochene fort. Noch am selben Tag diagnostiziert der Hausarzt der Familie Berg bei Michael eine Gelbsucht.

Als er fünf Monate später wieder in der Lage ist, das Haus zu verlassen, rät ihm seine Mutter, von seinem Taschengeld einen Blumenstrauß zu kaufen und sich bei der Frau zu bedanken. Michael findet heraus, dass sie Schmitz heißt und klingelt bei ihr. Während sie sich eine Weile unterhalten, bügelt sie. Als Michael aufsteht, um sich zu verabschieden, hält sie ihn zurück: Sie will ihn ein Stück begleiten und sich nur rasch umziehen. Weil die Türe angelehnt bleibt, sieht er sie im hellgrünen Unterkleid und beobachtet, wie sie Strümpfe anzieht. Das erregt ihn. Sie spürt seinen Blick und schaut ihm in die Augen. Da rennt er fort.

Eine Woche später besucht er sie erneut. Sie bittet ihn, Koks aus dem Keller zu holen. Weil er sich dabei schmutzig macht, lässt sie ihm ein Bad ein und fordert ihn auf, sich auszuziehen. Während er sich im warmen Wasser wäscht, klopft sie seine Sachen auf dem Balkon aus. Dann kommt sie mit einem Badetuch zu ihm.

Ich wandte ihr den Rücken zu, als ich mich aufrichtete und aus der Wanne stieg. Sie hüllte mich von hinten in das Tuch, von Kopf bis Fuß, und rieb mich trocken. Dann ließ sie das Tuch zu Boden fallen. Ich wagte nicht, mich zu rühren. Sie trat so nahe an mich heran, dass ich ihre Brüste an meinem Rücken und ihren Bauch an meinem Po spürte. Auch sie war nackt. Sie legte die Arme um mich, die eine Hand auf meine Brust und die andere auf mein steifes Geschlecht. (Seite 26)

Es ist für Michael die erste sexuelle Erfahrung mit einer Frau. Sie ist Straßenbahnschaffnerin. Michael schwänzt Schulstunden, um jeden Tag zu ihr laufen zu können. Bevor sie sich lieben, duschen sie jedes Mal. Nach einer Woche erkundigt Michael sich nach ihrem Vornamen. Sie heißt Hanna. Er fragt, woher sie komme. Hanna Schmitz wuchs in Siebenbürgen auf und kam mit siebzehn nach Berlin, wo sie als Arbeiterin bei Siemens anfing. Seit ein paar Jahren ist sie nun hier in der Stadt bei der Straßenbahn. Sie ist sechsunddreißig, mehr als doppelt so alt wie Michael.

Als Hanna erfährt, dass Michael mitunter die Schule schwänzt, verlangt sie von ihm, es zu unterlassen und sich anzustrengen, um das durch die Krankheit Versäumte nachzuholen. Sie möchte wissen, welche Lektüre seine Klasse im Deutschunterricht durchnimmt und lässt sich von da an jedes Mal etwas von ihm vorlesen, bevor sie mit ihm unter die Dusche und dann ins Bett geht.

In den Osterferien unternimmt Michael mit Hanna eine einwöchige Fahrradtour nach Wimpfen, Amorbach und Miltenberg. (Seinen Eltern log er vor, er sei mit seinem Freund Matthias unterwegs.) In den Gasthöfen tragen sie sich als Mutter und Sohn ein, um sich ein Zimmer teilen zu können. Das Geld dafür besorgte Michael sich durch den Verkauf seiner Briefmarken-Sammlung. In Amorbach steht Michael auf, während Hanna noch schläft, um sie mit einem Frühstück und einer Rose zu überraschen. Als er zurückkommt, schlägt sie ihm mit einem Gürtel ins Gesicht und ist schrecklich aufgebracht. Der Zettel, auf den er „Guten Morgen! Hole Frühstück, bin gleich wieder zurück“ geschrieben hatte, ist nicht mehr da. Ohne zu begreifen, was geschah, nimmt Michael alle Schuld auf sich, damit Hanna sich wieder mit ihm versöhnt. Er wird ihr hörig.

Der Sommer war der Gleitflug unserer Liebe. Oder vielmehr meiner Liebe zu Hanna; über ihre Liebe zu mir weiß ich nichts. (Seite 67)

Zu Beginn des neuen Schuljahres freundet Michael sich mit seiner Mitschülerin Sophie an. Er trifft sich mit ihr und gemeinsamen Freunden im Schwimmbad, kommt jedoch zumeist als Letzter, weil er vorher noch bei Hanna vorbeischaut. Den Grund verheimlicht er Sophie und den anderen, und als sie eines Tages überraschend im Schwimmbad auftaucht, geht Michael nicht zu ihr hin.

Am nächsten Tag war sie weg. (Seite 79)

Michael erkundigt sich nach ihr, aber bei der Straßen- und Bergbahngesellschaft hat sie aufgehört, obwohl man sie demnächst zur Fahrerin ausbilden wollte, und beim Einwohnermeldeamt ist nur bekannt, dass sie nach Hamburg gezogen ist. Eine Adresse hat sie nicht angegeben. Michael macht sich Vorwürfe, denn er ist überzeugt, dass sie verschwand, weil er sie im Schwimmbad verleugnet hatte.

Sophie muss für drei Jahre in ein Sanatorium, um eine Tuberkulose auszukurieren. Als sie zurückkommt, studiert Michael bereits Jura.

Sie fühlte sich einsam, suchte den Kontakt zu alten Freunden, und ich hatte es nicht schwer, mich in ihr Herz zu drängen. Nachdem wir zusammen geschlafen hatten, merkte sie, dass es mir nicht wirklich um sie zu tun war, und sagte unter Tränen: „Was ist mit dir passiert, was ist mit dir passiert.“ (Seite 84f)

Eine Gruppe von Studenten, zu der auch Michael gehört, soll 1965 einen KZ-Prozess verfolgen. Die Stadt, in der das Gerichtsverfahren stattfindet, ist mit dem Auto in einer Stunde zu erreichen. Unter den fünf angeklagten Frauen erkennt Michael überrascht Hanna Schmitz. Ein Pflichtverteidiger sitzt bei ihr.

Sie bestätigt, dass sie am 21. Oktober 1922 bei Hermannstadt geboren wurde, in Berlin bei Siemens beschäftigt war und sich freiwillig zur SS meldete, obwohl man ihr bei Siemens eine Beförderung zur Vorarbeiterin angeboten hatte. Bis Anfang 1944 war sie Aufseherin in Auschwitz und danach bis zum nächsten Winter in einem Lager bei Krakau.

Während der mehrtägigen Gerichtsverhandlung geht es um Selektionen, die von den Aufseherinnen in Auschwitz vorgenommen worden waren und um den Marsch mit den Gefangenen von Krakau nach Westen.

Während des Todesmarsches, bei dem innerhalb einer Woche die Hälfte der Frauen vor Erschöpfung gestorben war, wurden mehrere hundert Frauen in eine Dorfkirche gesperrt. Dort sollten sie übernachten. Die Wachmannschaften schliefen nebenan im Pfarrhaus. Alliierte Bomben trafen das Pfarrhaus und den Kirchturm. Der brennende Turm brach zusammen und durchschlug das Dach des Kirchenraums. Alles ging in Flammen auf, und die Eingeschlossenen verbrannten. Nur zwei von ihnen, eine Mutter und ihre Tochter, überlebten das Inferno. Die Tochter, die kürzlich ein Buch über die Ereignisse von damals schrieb, sagt als Zeugin aus, und ihre Mutter soll noch an ihrem Wohnort in Israel vernommen werden.

Die Buchautorin erinnert sich, dass Hanna immer wieder junge, schwache und zarte Frauen bevorzugt behandelte und jeweils einige Abende zu sich holte, bevor sie ins Vernichtungslager gebracht wurden. Man vermutete, dass Hanna lesbisch war. Erst später erfuhr die Zeugin, dass die jungen Frauen Hanna vorlesen mussten.

Michael überlegt, warum Hanna zarte Frauen aussuchte.

Frag sie, dachte ich. Frag sie, ob sie die schwachen und zarten Mädchen gewählt hat, weil sie die Arbeit auf dem Bau ohnehin nicht verkrafteten, weil sie ohnehin mit dem nächsten Transport nach Auschwitz kamen und weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte […] Aber der Anwalt fragte Hanna nicht, und sie sprach nicht von sich aus. (Seite 113)

Ein in den Akten der SS gefundener handschriftlicher Bericht spielt bei der Verhandlung eine wichtige Rolle. Die Angeklagten beteuern, er entspreche nicht den Tatsachen, und eine von ihnen behauptet, Hanna habe ihn geschrieben. Hanna leugnet das zunächst, doch als ein Staatsanwalt verlangt, den Bericht mit ihrer Handschrift zu vergleichen, gibt sie zu, die Verfasserin zu sein.

Bei einem Spaziergang begreift Michael plötzlich, dass es sich bei Hanna um eine Analphabetin handelt. Deshalb konnte sie in Amorbach seinen Zettel nicht lesen, und das war auch der Grund dafür, dass sie sich gern vorlesen ließ. Damit sie damals bei Siemens in Berlin nicht auffiel, vermied sie die Beförderung und meldete sich zur SS. Aus dem gleichen Grund floh sie später nach Hamburg, weil sie bei der Ausbildung zur Straßenbahnfahrerin bloßgestellt worden wäre.

Michael glaubt, ein ungerechtes Urteil verhindern zu müssen, aber dann überlegt er sich, dass Hanna offenbar unter allen Umständen ihre Lebenslüge aufrechterhalten möchte und dafür eine längere Haftstrafe in Kauf nimmt. Sie schämt sich weniger für ihr Verhalten als SS-Aufseherin als für ihre Bildungslücke. Hat er ein Recht, gegen ihren Willen zu ihren Gunsten einzugreifen? Ratsuchend wendet er sich an seinen Vater, der im „Dritten Reich“ als Philosophie-Dozent entlassen worden war und sich als Lektor eines Verlags für Wanderkarten und –bücher durchgeschlagen hatte.

Er belehrte mich über Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als Subjekt und darüber, dass man ihn nicht zum Objekt machen dürfe. (Seite 136)

Während Vertreter des Gerichts die überlebende Zeugin in Israel befragen, fährt Michael per Anhalter zum Konzentrationslager Struthof-Natzweiler im Elsaß. Ein Autofahrer, der ihn mitnimmt, versucht ihm zu erklären, dass die Offiziere damals nicht aus persönlichem Antrieb mordeten, sondern Befehle ausführten.

Michael bittet dann doch um einen Termin beim Vorsitzenden Richter, um diesen darüber aufzuklären, dass Hanna Schmitz den Bericht unmöglich geschrieben haben kann, aber der Richter erzählt ihm von seinem eigenen Studium und gibt ihm gute Ratschläge. Dann verabschiedet er Michael, bevor dieser sein Anliegen vorgebracht hat.

Hanna Schmitz wird als einzige der Angeklagten zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt; die anderen kommen mit zeitlich befristeten Strafen davon.

Während des Referendariats heiratet Michael seine Kommilitonin Gertrud, die bereits ein Kind von ihm erwartet. Während Gertrud nach dem Referendariat als Richterin anfängt, kümmert ihr Mann sich um die Tochter Julia, doch als das Mädchen in den Kindergarten kommt, kann er die Berufsentscheidung nicht länger verschieben.

Ich tat mich schwer. Ich sah mich in keiner der Rollen, in denen ich beim Prozess gegen Hanna Juristen erlebt hatte. Anklagen kam mir als ebenso groteske Vereinfachung vor wie Verteidigen, und Richten war unter den Vereinfachungen überhaupt die groteskeste. Ich konnte mich auch nicht als Verwaltungsbeamten sehen; ich hatte als Referendar auf dem Landratsamt gearbeitet und dessen Zimmer, Korridore, Geruch und Bedienstete grau, steril und trist gefunden.
Das ließ nicht mehr viele juristische Berufe übrig, und ich weiß nicht, was ich gemacht hätte, wenn ein Professor für Rechtsgeschichte mir nicht angeboten hätte, bei ihm zu arbeiten. Gertrud sagte, das sei eine Flucht, eine Flucht vor der Herausforderung und Verantwortung des Lebens, und sie hatte Recht. Ich floh und war erleichtert, fliehen zu können. (Seite 171f)

Als Julia fünf Jahre alt ist, lassen Michael und Gertrud sich scheiden.

In den Nächten nach der Trennung kann Michael nicht schlafen. Wenn er ein Buch in die Hand nimmt, fallen ihm die Augen zu, aber wenn er es weglegt und das Licht ausmacht, ist er wieder wach. Deshalb beginnt er, laut zu lesen und nimmt sich auf Tonband auf. Zuerst liest er die Odyssee, dann Erzählungen von Schnitzler und Cechov. Die Kassetten schickt er Hanna zusammen mit einem Abspielgerät ohne Begleitbrief ins Gefängnis. Sie hat inzwischen acht Jahre dort verbracht.

Vier Jahre später erhält er von ihr einen kurzen schriftlichen Dank: Offensichtlich hat sie lesen und schreiben gelernt. Darüber freut er sich, aber er schickt ihr keinen einzigen Brief, nur immer weiter Kassetten mit Lesungen.

Als Hanna siebzehn Jahre ihrer Strafe verbüßt hat, erhält Michael ein Schreiben von der Gefängnisleiterin. Sie rechnet damit, dass Hanna in einem Jahr begnadigt wird, und weil er der einzige Kontakt Hannas außerhalb der Haftanstalt ist, fragt sie ihn, ob er ihr eine Wohnung und eine Arbeitsstelle vermitteln könne.

Freunde von Michael sind bereit, Hanna für eine geringe Miete eine Einliegerwohnung zu überlassen, und ein griechischer Änderungsschneider hat Arbeit für sie.

Einen Gefängnisbesuch schiebt Michael auf, bis er erfährt, dass Hanna in einer Woche entlassen werden soll. Er erschrickt darüber, wie stark sie gealtert ist und dass er den typischen Geruch einer Greisin an ihr wahrnimmt. Am Tag vor der Entlassung telefoniert er noch einmal mit ihr. Als er am nächsten Morgen kommt, um sie abzuholen, sagt man ihm, dass sie sich erhängt habe. Die Gefängnisleiterin zeigt ihm ihre Zelle. Im Bücherregal stehen Werke von Primo Levi, Ellie Wiesel, Tadeusz Borowski, Jean Améry neben den autobiografischen Aufzeichnungen von Rudolf Höss [„Kommandant in Auschwitz“], Hannah Arendts Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen“ und Büchern über Konzentrationslager [„Der SS-Staat“]. Die Leiterin erklärt Michael, Hanna habe sich selbst das Lesen beigebracht.

„Sie hat mit Ihnen lesen gelernt. Sie hat sich in der Bibliothek die Bücher geliehen, die Sie auf Kassette gesprochen haben, und Wort um Wort, Satz um Satz verfolgt, was sie gehört hat.“ (Seite 195)

Hanna hinterläßt etwas Geld. Das soll Michael der Zeugin geben, die das Buch über den Brand in der Kirche schrieb. Sie soll entscheiden, welchem Zweck es dienen soll.

Als Michael an einer Tagung in Boston teilnimmt, setzt er sich mit der Frau in Verbindung, besucht sie in New York und bietet ihr das Geld an. In ihrem Auftrag und in Hannas Namen spendet er es dann der Jewish League Against Illiteracy.

Zehn Jahre später schreibt er das Buch, das wir gerade gelesen haben.

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Bernhard Schlink nennt zwar nicht den Ort, in dem der Protagonist seines Romans „Der Vorleser“ aufwächst, aber es handelt sich wohl um Heidelberg. Die Gerichtsverhandlung lässt sich in Frankfurt am Main lokalisieren (wo 1963 bis 1965, 1965/66 und 1967/68 drei Auschwitzprozesse stattfanden).

Die Frage nach der Schwere von Hannas moralischer Schuld lässt sich nicht beantworten, denn wir erfahren kaum etwas über ihr Verhalten als Aufseherin in Auschwitz und Krakau bzw. während des Todesmarsches. Bedenklich ist die Relativierung des Holocaust in „Der Vorleser“ durch die Verbindung mit einem anderen Verbrechen, nämlich den Missbrauch eines 15-Jährigen durch eine erwachsene Frau. Dazu kommt, dass Hanna sich lieber als Massenmörderin verurteilen lässt, als ihren Analphabetismus zuzugeben. Die Tatsache, dass Bernhard Schlink ihren Analphabetismus in „Der Vorleser“ herausstellt, legt den (falschen) Schluss nahe, dass die nationalsozialistischen Verbrecher ungebildet gewesen seien und das Bildungsbürgertum nichts damit zu tun gehabt habe.

Aus Furcht vor einer Bloßstellung scheut Hanna vor engeren persönlichen Bindungen zurück; das gilt auch für die sexuelle Beziehung der 36-Jährigen mit dem weniger als halb so alten Gymnasiasten Michael Berg. Erst als sie lesen und schreiben lernt, befreit sie sich aus ihrer Unmündigkeit. Die Lektüre von Büchern ermöglicht es ihr, das eigene Verhalten im „Dritten Reich“ einzuordnen. Vielleicht hängt damit ihr Suizid zusammen. Entscheidender ist vermutlich der Gedanke, dass sie nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis Michael zur Last fallen und von ihm abhängig sein würde, weil sie nach der langen Haft nicht ohne ihn zurechtkäme.

Hanna raubte Michael die Unschuld und ließ ihn dann wortlos sitzen. Er wurde dadurch geprägt und kommt nicht von ihr los. Das Trauma erklärt seine Gefühlskälte und seine Unfähigkeit zu persönlichen Bindungen. Daran scheitert seine Beziehung mit Sophie und später seine Ehe mit Gertrud. Aber er empfindet auch nichts mehr für Hanna, als er sie wiedersieht.

Bernhard Schlink entwickelt „Der Vorleser“ konsequent aus der Perspektive des Ich-Erzählers Michael Berg. Auch über Hanna erfahren wir nur, was Michael weiß und über sie denkt. Dieser Ich-Erzähler schildert das Geschehen aus großem zeitlichen Abstand, aus seiner Erinnerung. Passagen, in denen Michael Berg sich in die Situation des Schülers bzw. Studenten zurückversetzt, wechseln mit Kommentaren und Reflexionen des Fünfzigjährigen.

Ein zentrales Motiv im ersten Teil des Romans „Der Vorleser“ ist Wasser. Es ist ein Symbol der Reinigung von Schuld.

„Der Vorleser“ ist ein ernstes, etwas konstruiert wirkendes Lehrstück in drei Teilen und insgesamt 46 Kapiteln. Bernhard Schlink bevorzugt einfache Wörter und kurze Sätze. Der erste Absatz von „Der Vorleser“ lautet beispielsweise:

Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. Die Krankheit begann im Herbst und endete im Frühjahr. Je kälter und dunkler das alte Jahr wurde, desto schwächer wurde ich. Erst mit dem neuen Jahr ging es aufwärts. Der Januar war warm, und meine Mutter richtete mir das Bett auf dem Balkon. Ich sah den Himmel, die Sonne, die Wolken und hörte die Kinder im Hof spielen. Eines frühen Abends im Februar hörte ich eine Amsel singen. (Seite 5)

Bei Hanna Schmitz handelt es sich zwar um eine NS-Verbrecherin, aber sie lässt sich von Michael regelmäßig vor dem Koitus aus Büchern vorlesen, die zur Schullektüre gehören. Das ist gefährlich nah am Klischee „vom Schäferhund liebenden und abends Geige spielenden KZ-Kommandanten“ (Willi Winkler, Süddeutsche Zeitung, 30. März 2002) und missfiel besonders einigen britischen Kulturrepräsentanten, die sich 2002 öffentlich darüber äußerten. Sie unterstellten Bernhard Schlink, dass er die Aufarbeitung der Vergangenheit für sinnlos halte und zitierten als Beleg folgende Passage aus „Der Vorleser“:

Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen? Zu welchem Ende? […] dass einige wenige verurteilt und bestraft und dass wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden – das sollte es sein? (Seite 99f)

Jeremy Adler brandmarkte „Der Vorleser“ als „Kulturpornografie“:

[…] eine Erzählung, die logisch unmöglich, historisch falsch und moralisch pervers ist (Jeremy Adler, Übersetzung: Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 20. April 2002)

Gabriel Josipovici kritisierte das Buch als „schlecht geschrieben, sentimental und moralisch empörend“.

Trotz dieser Verrisse schaffte es Bernhard Schlink mit „Der Vorleser“ als erster deutscher Schriftsteller auf Platz 1 der Bestsellerliste in der „New York Times“. Oprah Winfrey lud ihn 1999 in ihre Sendung ein. Und Stephen Daldry verfilmte den Roman: „Der Vorleser“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Stephen Daldry: Der Vorleser

Bernhard Schlink: Liebesfluchten
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