Marcel Reich-Ranicki

Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel als Sohn des jüdischen Ehepaars David und Helene Reich geboren. Sein Vater war Pole, seine Mutter stammte aus Deutschland. Marcel hatte zwei Geschwister: die dreizehn Jahre ältere Gerda (1907 – 2006) und den neun Jahre älteren Alexander Herbert (1911 – 1943). Als er alt genug war, wollte der Vater einen Hebräisch-Lehrer für Marcel engagieren, aber das ließ die Mutter nicht zu; sie entschied, dass der Junge Deutsch lernen sollte und meldete ihn deshalb in einer deutschsprachigen Schule in Wloclawek an.

David Reich hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine kleine Fabrik für Baumaterialien gegründet. In der Weltwirtschaftskrise ging das Unternehmen bankrott. Daraufhin wollte die Familie nach Berlin übersiedeln, wo Helenes wohlhabender Bruder Jakob Auerbach mit seiner Frau Else und den drei Kindern lebte. Marcel wurde 1929 mit der Eisenbahn vorausgeschickt. Die drei Kinder der Familie Auerbach wurden zu Hause von Privatlehrern unterrichtet, aber Marcel musste aus Kostengründen eine staatliche Volksschule besuchen. Im Frühjahr 1930 kam er aufs Gymnasium. Zunächst besuchte er das Werner von Siemens-Realgymnasium in Berlin-Schöneberg, dann das Fichte-Gymnasium in Wilmersdorf.

Mitte der Dreißigerjahre – als jüdische Schüler schon nicht mehr am Sportunterricht und an Klassenfahrten teilnehmen durften – lernte Marcel Reich die zwei Jahre jüngere Jüdin Angelika Hurwicz kennen. Die Tochter des Schriftstellers Elias Hurwicz träumte von einer Karriere als Schauspielerin, durfte jedoch wegen ihrer jüdischen Herkunft keine Theaterschule besuchen. Mit ihr konnte Marcel über sein Lieblingsthema sprechen: Literatur.

Nachdem er im Frühjahr 1938 die Reifeprüfung bestanden hatte, wollte er in Berlin Germanistik studieren, aber die Nationalsozialisten ließen das nicht zu. Am 28. Oktober 1938 wurde Marcel Reich festgenommen und nach Polen ausgewiesen.

Gerda wanderte mit ihrem Ehemann Gerhard Böhm, einem deutschen Juden, nach London aus, ebenso wie Jakob und Else Auerbach mit ihren Kindern. Aber David Reich, der inzwischen mit seiner Familie in Warschau lebte, wollte von Emigration nichts wissen. Er war überzeugt, dass England und Frankreich Hitler davon abhalten würden, Polen anzugreifen. Marcels Bruder Alexander verdiente inzwischen den Lebensunterhalt für die Familie. Er hatte in Berlin Zahnmedizin studiert und in der Warschauer Wohnung eine Praxis eingerichtet.

Hitler überfiel Polen am 1. September 1939. Soldaten der Wehrmacht, die bei Zahnärzten Gold vermuteten, plünderten die Wohnung der Familie Reich.

Am 21. Januar 1940 bat Helene Reich ihren Sohn Marcel, sich um ein gleichaltriges Mädchen in der Nachbarschaft zu kümmern. Die Zwanzigjährige war verzweifelt, denn sie hatte gerade ihren Vater tot vorgefunden; er hatte sich erhängt [Suizid], nachdem die jüdische Familie von den Deutschen enteignet und aus Lodz vertrieben worden war. Marcel Reich versuchte, Teofila („Tosia“) Langnas (1919 – 2011) zu trösten. Die beiden verliebten sich und wurden unzertrennlich.

Ab November 1940 pferchten die Deutschen mehr als 400 000 Juden hinter der 18 Kilometer langen und drei Meter hohen Mauer des Warschauer Gettos zusammen. Marcel Reich wurde dort von der jüdischen Kultusgemeinde („Judenrat“) als Schreiber und Übersetzer beschäftigt. Inmitten des Grauens – 50 000 Menschen starben an Hunger und Seuchen – ließen sich Marcel Reich und Teofila am 22. Juli 1942, dem Tag, an dem die Deutschen mit der Räumung des Warschauer Gettos anfingen, von einem Rabbi trauen.

Marcel Reichs Eltern hatten wegen ihres Alters – David war 62, Helene vier Jahre jünger – keine Chance, der Deportation nach Treblinka zu entgehen, und es fehlte ihnen an Kraft, unterzutauchen. Sie wurden am 6. September 1942 abtransportiert und danach in den Gaskammern von Treblinka ermordet. Alexander überlebte die Eltern nur um ein Jahr: Die Deutschen erschossen ihn am 4. November 1943 im Kriegsgefangenen- und Arbeitslager Poniatowa bei Lublin.

Marcel und Teofila gelang am 3. Februar 1943 die Flucht aus dem Getto, und sie wurden im Juni von dem polnischen Schriftsetzer Bolek Gawin und dessen Frau Genia in einem Vorort Warschaus auf der rechten Seite der Weichsel versteckt. Eineinhalb Jahre später, am 30. Juli 1944, erreichten die sowjetischen Panzerspitzen die Vororte von Warschau. Zwei Tage später erhoben sich polnische Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzungsmacht. Die Rote Armee hielt sich zurück. Erst im September änderte die sowjetische Regierung ihre Haltung, aber da war es zu spät: Die Aufständischen konnten sich nicht mehr halten und kapitulierten am 2. Oktober. – 160 000 Polen und 2000 Deutsche waren beim Warschauer Aufstand ums Leben gekommen.

Ein jüdischer Rotarmist entdeckte Marcel und Teofila Reich bei Bolek und Genia im September 1944. Er riet ihnen, sich nach Lublin durchzuschlagen. Sie waren frei.

Marcel Reich meldete sich bei der polnischen Armee zum Dienst, begann, in der Postzensur zu arbeiten und brachte es am 1. Juli 1945 zum Leiter der Abteilung III des Hauptamtes für Zensur in Warschau. Er trat auch der „Polnischen Arbeiterpartei“ bei. 1946 arbeitete er vorübergehend bei der Polnischen Militärmission in Berlin, dann wurde er in Warschau im Außenministerium beschäftigt. Als polnischer Vizekonsul und Hauptmann des Auslands­nachrichten­dienstes kam er 1948 nach London, wo er sich statt Reich Ranicki nannte. Die später erhobenen Vorwürfe, er habe Exilpolen zur Rückkehr in die Heimat überredet, wo sie dann zum Tod verurteilt worden seien, blieben ungeklärt.

Am 30. Dezember 1948 gebar Teofila Reich den Sohn Andrzej Alexander. Ein Jahr später bat Marcel Ranicki um seine Abberufung aus London und kehrte nach Warschau zurück, wo er am 25. Januar entlassen und einige Wochen später wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der Partei ausgeschlossen und zwei Wochen inhaftiert wurde.

Danach kam Marcel Reich-Ranicki für einige Zeit beim Verlag des Verteidigungsministeriums als Lektor für deutsche Literatur unter, und von 1951 an lebte er als freier Publizist in Warschau. Bereits als Schüler hatte er leidenschaftlich gern gelesen und einige Theateraufführungen erlebt, aber jetzt machte er die deutsche Literatur zum Thema seines Lebens. Seine Buchkritiken und Essays erschienen in verschiedenen polnischen Zeitungen – mit Ausnahme in den Jahren 1953/54, als die Regierung ohne Begründung ein Publikationsverbot gegen ihn verhängte.

Von einer Studienreise in die Bundesrepublik Deutschland kehrte Marcel Reich-Ranicki im Sommer 1958 nicht mehr nach Polen zurück. Teofila, die sich mit ihrem Sohn nach London abgesetzt hatte, traf sich mit ihm in Frankfurt am Main. Dort ließen sie sich nieder. Heinrich Böll und Siegfried Lenz halfen Marcel Reich-Ranicki, hier Fuß zu fassen, und Hans Werner Richter lud ihn zur Teilnahme an einer Sitzung der „Gruppe 47“ ein. Weil ihn „Die Zeit“ am 1. Januar 1960 als Literaturkritiker einstellte, zog er nach Hamburg. Vierzehn Jahre lang schrieb er für die anspruchsvolle Wochenzeitung und eroberte sich in dieser Zeit den Ruf eines „Großkritikers“. Nebenbei verbrachte Marcel Reich-Ranicki 1968 und 1969 jeweils einige Zeit als Gastprofessor in den USA. Von 1971 bis 1975 war er ständiger Gastprofessor für neue deutsche Literatur in Stockholm und Uppsala. Vortragsreisen führten ihn 1972 bis ans andere Ende der Welt, nach Australien und Neuseeland.

1973 kehrte Marcel Reich-Ranicki nach Frankfurt am Main zurück, wo er die Leitung der „Redaktion für Literatur und literarisches Leben“ der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) übernahm. Im selben Jahr wurde er Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln und im Jahr darauf Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1979 hielt er sogar in China Vorträge.

Als Marcel Reich-Ranicki sich 1988 aus Altersgründen aus der Leitung des Literaturteils der FAZ zurückziehen musste und nur noch die wöchentliche „Frankfurter Anthologie“ redigierte, fand er in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ ein neues Wirkungsfeld. Der temperamentvolle Medienstar bewies, dass Literaturkritik unterhaltsam sein kann. Mit außergewöhnlichem Erfolg wurden in der Zeit vom 25. März 1988 bis 14. Dezember 2001 siebenundsiebzig Folgen des „Literarischen Quartetts“ ausgestrahlt. Zwischendurch ging er 1990 als Gastprofessor nach Düsseldorf und ein Jahr später nach Karlsruhe. 1999 veröffentlichte er seine Autobiografie „Mein Leben“.

Gewiss, Bühnen hatte es für Marcel Reich-Ranicki viele gegeben, die Tagungen der Gruppe 47 ebenso wie unzählige öffentliche Veranstaltungen. Aber es war – erst nach seiner Pensionierung als „Literaturchef“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – das Fernsehen, das ihn zu einem Helden der Öffentlichkeit werden ließ, und wenn er Bestseller schuf oder verhinderte (keiner konnte das so wie er), dann waren die Form des Urteils, der Witz, die Pointe, aber auch die Schmähung und das Indiskrete etwas, das die Menschen ebenso bewegte wie der Inhalt des Urteils. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 19. September 2013)

Weniger erfolgreich als mit „Das Literarische Quartett“ war Marcel Reich-Ranicki 2002 mit seiner Sendung „Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen“.

Innerhalb von vierzig Jahren – von 1960 bis 2000 – hat Marcel Reich-Ranicki angeblich achtzigtausend Bücher rezensiert. (Willi Winkler, Süddeutsche Zeitung, 2. Juni 2000) Seit Friedrich Nicolai (1733 – 1811) hat niemand so viel Einfluss auf den deutschen Buchmarkt ausgeübt wie der „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, der mehrmals betonte, dass er nicht die Autoren, sondern die Leser beeinflussen wolle. Auf das Verhältnis von Schriftstellern zu Literaturkritikern angesprochen, soll er einmal darauf hingewiesen haben, dass die Vögel nichts von Ornithologie verstehen, aber auch noch kein Ornithologe einem Vogel das Fliegen beibringen konnte.

Nachdem er bereits 2001 in einem „Spiegel“-Gespräch einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ entwickelt hatte, gab Marcel Reich-Ranicki 2002 im Insel-Verlag unter dem Titel „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ das erste von bislang drei Buchpaketen heraus.

Für einen Eklat sorgte Marcel Reich-Ranicki, als er am 11. Oktober 2008 den Deutschen Fernsehpreis unter Hinweis auf das niedrige Niveau des Fernsehprogramms zurückwies.

Marcel Reich-Ranicki starb 18. September 2013.

Literatur über Marcel Reich-Ranicki

  • Thomas Anz: Marcel Reich-Ranicki (München 2004)
  • Gerhard Gnauck: Wolke und Weide. Marcel Reich-Ranickis polnische Jahre (Stuttgart 2009)
  • Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben (Stuttgart 1999)
  • Teofila Reich-Ranicki und Hanna Krall: Es war der letzte Augenblick. Leben im Warschauer Ghetto. Aquarelle und Texte (Stuttgart / München 2000)
  • Gunter Reus: Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle (Darmstadt 2020)
  • Frank Schirrmacher: Marcel Reich-Ranicki. Sein Leben in Bildern. Eine Bildbiographie (München 2001)
  • Uwe Wittstock: Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens (München 2005)

© Dieter Wunderlich 2009 / 2013
Hauptquellen:
Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
Dror Zahavi: Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben

Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben
Dror Zahavi: Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben

Marcel Reich-Ranicki: Kanon
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C. S. Forester - Tödliche Ohnmacht
C. S. Forester setzt in dem aus Majories Perspektive erzählten Rachedrama "Tödliche Ohnmacht" auf die Ausleuchtung der psychischen Vorgänge und eine sorgfältige, alle Sinne ansprechende Inszenierung.
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