Helmut Krausser : Alles ist gut

Alles ist gut
Alles ist gut Originalausgabe: Berlin Verlag, Berlin 2015 ISBN: 978-3-8270-1202-9, 238 Seiten ISBN: 978-3-8270-1202-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Bei Marius Brandt handelt es sich um einen erfolglosen neotonalen Komponisten in Berlin. Nachdem er uralte Notenblätter zugespielt bekam und angefangen hat, daraus abzukupfern, geschehen merk­würdige Dinge. Beispielsweise wird ein Dramaturg ermordet, der Marius seit drei Jahren auf eine Antwort warten ließ, und während der Uraufführung einer sieben Minuten langen Komposition von Marius Brandt in Hamburg kollabieren drei ältere Herren, von denen einer stirbt ...
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Kritik

Intelligent komponiert, witzig und höchst unterhaltsam ist der Roman "Alles ist gut". Helmut Krausser nimmt damit den Kulturbetrieb ebenso satirisch wie selbstironisch aufs Korn.
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Der neotonale Komponist Marius Brandt wohnt in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg und verdient seinen Lebensunterhalt zwischendurch als Taxifahrer. Seine „Glitzernde Finsternis“, ein Zyklus aus fünf neoimpressionistischen Kunstliedern, soll zwar in einem Tonstudio aufgenommen werden, und der Orchestermanager der Hamburger Kammersinfonie beauftragt ihn, für ein geplantes Konzert mit Werken mehrerer Komponisten eine siebenminütige Skizze zu schreiben, aber ein Honorar gibt es dafür nicht.

Tamara, eine junge Touristin aus Neuseeland, die im Hinterhaus eine illegale Ferienwohnung gemietet hat, bringt dem Komponisten ein paar uralte Notenblätter, die sie in der Bude des 81-jährigen polnischen Hausmeisters fand, der aufgrund ihrer Anzeige in die Psychiatrie eingewiesen worden war. Tamara hatte sich von ihm „sexually offended“ gefühlt.

Von Marius Brandts drei Opern wurde bisher noch keine aufgeführt. Weil der Dramaturg Winfried Bornstedter den Musiker seit drei Jahren auf eine Antwort warten lässt, passt Marius Brandt ihn ab, schaltet den mitgebrachten Ghetto­blaster ein und lässt eine seiner Kompositionen erklingen. Aber statt aufzuhorchen, ersucht Bornstedter ihn, das „Gedudel“ leiser zu stellen und geht weiter. Eine Woche später taucht Kommissar Nabel bei Marius Brandt auf: Winfried Bornstedter wurde ermordet. Man drückte ihm den Brustkorb ein. Er starb an einer Lungenquetschung. Die Polizei weiß inzwischen, dass der Dramaturg etwa sechzig Komponisten ebenso im Ungewissen ließ wie Marius Brandt und hält es für möglich, dass einer der frustrierten Musiker der Mörder ist.

Immerhin findet Marius eine neue Freundin. June stammt aus Aurora/Illinois und kam nach Deutschland, um Gesang zu studieren. Sie begleitet ihn auch zu dem Konzert mit Werken von Vladimir Martynov, Arvo Pärt und Marius Brandt in der Laeiszhalle in Hamburg. Heiner Holler dirigiert. Als Marius sein eigenes Werk hört, denkt er:

Überwältigend. Ich hatte gute Arbeit geleistet. Vor fünfzig Jahren wäre ich mit dieser Musik schlagartig weltberühmt geworden.

Das Konzert sorgt für Schlagzeilen, nicht wegen der Musik, sondern weil am Ende von Marius Brandts Stück drei ältere Herren kollabieren und einer von ihnen im Hamburger Asklepios-Klinikum stirbt. Gleich darauf weint June um ihren Kommilitonen Carl. Er starb ebenso wie Winfried Bornstedter an einer Lungenquetschung.

Völlig unerwartet bietet der in Berlin lebende weißrussische Kunstmäzen Vitali Baraschimow dem erfolglosen Komponisten Unterstützung an. Er fährt mit Marius zum Flughafen Cottbus-Drewitz, wo June bereits wartet. Sie werden nach Brest geflogen und von dort mit einem gepanzerten Kleinbus zu einem Privathaus gebracht, das Vitali Baraschimov dem Tonschöpfer für ein paar Wochen als Refugium zur Verfügung stellt:

„Ich werde Ihre Musik promoten, wenn Sie es mir erlauben. Ich habe ein eigenes Verlagshaus gegründet, das sich einzig Ihren Werken widmen wird. Und eine kooperierende Plattenfirma ist auch schon gefunden. Bald läuft eine Großaktion.“

Einen dicken Mann stellt der Weißrusse als seinen Sekretär vor: Helmut Krausser.

„Der Schriftsteller? Im Ernst?“
„Sie kennen ihn? Das wird ihn freuen.“
„Ein paar seiner Bücher kenne ich. Wieso sollte jemand wie er als Ihr Sekretär arbeiten?“
„Weil ich ihn mir leisten kann, lieber Freund.“

Vitali Baraschimov berichtet, wie er Helmut Krausser kennenlernte:

Ich hatte seinen Roman Melodien mit Begeisterung gelesen. Nun stand dieser wunderbare Autor vor mir, verarmt, denn er hatte sein gesamtes Geld für Recherchen ausgegeben. Und diese Recherchen hätten einiges ans Licht gebracht, das ist eine lange Geschichte, die darin mündete, dass ein gewisses Lederbeutelchen, das mir nichts sagte, von einem gewissen Tralala, der mir nichts sagte, an einen gewissen Schubidu, der mir noch weniger sagte, weitergegeben wurde und schließlich bei einem gewissen Dmitry landete, der mir auch erst nichts sagte. Dieser Dmitry sei von der SS gefasst und in Ostpolen ermordet worden mit neunundsiebzig anderen, die meisten davon unschuldige Zivilisten. Und jetzt kommt’s: Krausser teilte mir mit, dass jener Dmitry, der mir nichts gesagt hatte, mein Großonkel Dmitry Apolinary gewesen ist. […] Ich stellte Krausser alle Geldmittel zur Verfügung, die er brauchte, und tatsächlich fand er nach und nach heraus, wer die einzelnen Mitglieder dieses SS-Tötungskommandos waren, wo ihre Nachkommen wohnten, und nach fünf Jahren Forschung in meinen Diensten übergab er mir das Lederbeutelchen.

Der Lederbeutel enthielt Notenblätter. Als Marius sie sieht, erschrickt er. Die Noten, die dem alten Jerzy gehört hatten, ließ er zwar in einem sicheren Versteck in Berlin zurück, aber er hat sie im Kopf und erkennt sie sofort wieder. Baraschimov möchte, dass Marius Brandt das Material in seine Opern einarbeitet – was dieser bereits getan hat – und ihm diese dann widmet.

In diesem Augenblick lässt der unsympathische dicke Deutsche den Weißrussen einfach so verschwinden und wendet sich an den Komponisten:

„Hallo, Marius. Ich bin Helmut Krausser. Gratuliere. Sie haben den finalen Sinn Ihres Daseins erreicht. […]
Hören Sie, Marius, Sie werden mich dafür verfluchen, aber ich muss Ihnen die Melodien leider abnehmen. […]
Es ging um die Große Transformation. Die Melodien waren in der Literatur geboren, und ich musste also hinein in die Literatur und sie herausholen zu uns, wo sie gebraucht werden. Ich habe eine Mission, und da ich selbst von Musik nicht genug verstehe, brauchte ich einen, sozusagen … Mittelsmann. Jemanden, den ich hineinschicken konnte in die Musik. Das waren Sie.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Helmut Krausser klärt Marius Brandt über die Geschichte der von Castiglio erfundenen und von Pasqualini pervertierten Noten auf. Eine Abschrift gelangte um 1690 nach Warschau, wo der Rabbi sie für schwarzmagisch hielt und deshalb beschloss, die Blätter zwar nicht zu zerstören, aber eine Aufführung der Musik zu verhindern. Sie wurden von Generation zu Generation vererbt und wegen ihrer Brüchigkeit nach hundert Jahren von Rabbi Mordechai Gershon abgeschrieben. Über viele Umwege gelangte der Lederbeutel mit den Notenblättern Ende Juni 1944 zwischen Lublin und Bychawa an den SS-Oberschützen Tilman K. Er nahm ihn einem von achtzig Partisanen ab, die man erhängt hatte, um Munition zu sparen. Nun liegen Beutel und Notenblätter vor Marius Brandt auf dem Tisch.

Ungläubig schüttelt er den Kopf:

„Lieber Herr Krausser, entschuldigen Sie, wenn ich ein Spielverderber bin. Bei allem Respekt für Ihr Buch, aber das ist doch nur, und ich meine dieses ’nur‘ nicht abschätzig, aber es ist ein – Roman?! Diese Melodien aus dem 16. Jahrhundert haben Sie erfunden, die gab es nie wirklich. Krantz und Täubner und Castiglio und Pasqualini sind Romanfiguren!“

Helmut Krausser erwidert:

„Woher können Sie die letzte Gewissheit beziehen, daß Sie“, er deutete pistolenartig, also mit Zeige- und Mittelfinger auf mich, „nicht auch nur eine Romanfigur sind? […]
Ich habe Ihnen im April die Melodien vorbeibringen lassen. Tamara und Jerzy sind meine Geschöpfe. Der reale Jerzy, Ihr exhibitionistischer Hausmeister, war keine Minute seines Lebens im Warschauer Ghetto. Dort nicht und auch nicht bei der Schlacht in Janów Lubelski oder bei sonst einem Gemetzel. […]
SIE existieren nicht. Nicht wirklich. Ja, schauen Sie nicht wie ein Auto, es ist so. Es gibt Sie nicht. Mich, lieber Marius, gibt es. Gucken Sie bei Wikipedia nach.“

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Beim Protagonisten des Romans „Alles ist gut“ handelt es sich um einen erfolglosen Komponisten. Das ist selbstironisch, weil Helmut Krausser selbst Opern geschrieben hat, die noch niemals aufgeführt wurden. Mit „Alles ist gut“ nimmt er zugleich den Kulturbetrieb und die Entscheidungsträger satirisch aufs Korn.

Immer wieder nutzt Helmut Krausser eine Gelegenheit, um über Musik zu räsonieren oder ein Thema unter musikalischen Gesichtspunkten anzugehen, aber das wirkt an keiner Stelle aufgesetzt. So schreibt er beispielsweise über von Frauen vorgetäuschte Orgasmen:

Andere Männer hätten den Unterschied womöglich nicht bemerkt. Aber ein Komponist spürt die organische, tripelfugenartige Abfolge der komplexen Rhythmen, die Verkürzung der Metren, die Übergänge von Sechzehntelkeuchern zum Zweiunddreißigstelwinseln, dann die Klimax, verschärft von Triolen und Quintolen mit synkopierten Beckenbewegungen der Lust darunter, bis alles ins große Finale mündet, in den gewaltigen Schlußakkord, von jetzt völlig wilden, unregelmäßig gesetzten Bassfiguren durchwoben. Drüber die Fanfaren, die Blitze im Gehirn. Und das Gleiten ins Meer der Ruhe, in die lange Fermate am Ende, der Triumph der Befriedigung, während ein durchgedrehtes Kontrafagott noch ein paar akustische Fähnchen der Begeisterung hisst.

Mit dem neuen, höchst unterhaltsamen Buch knüpft Helmut Krausser an seinen 1993 veröffentlichten Roman „Melodien“ an, und wieder geht es um die geheimnisvolle Macht der Musik.

Kunstvoll ist der verschachtelte Aufbau von „Alles ist gut“: Da tritt zunächst der Ich-Erzähler Marius Brandt auf. Am Ende spielt auch Helmut Krausser selbst als Figur mit und entlarvt Marius Brandt als seine Schöpfung. Parallel zur Geschichte des erfolglosen Komponisten entwickelt der Autor mit großer Fabulierlust die fulminante Geschichte der Notenblätter, die eine magische Wirkung entfalten. Und dann geistert auch noch ein Kobold-Paar durchs Buch: Banshee, eine zwergwüchsige Frau mit langen grünen Haaren, und der Fettkloß Bapfo. Die beiden verstimmen in der Bottroper Oper durch Zauberkraft die Geigen, sodass der Dirigent zunächst befürchtet, er habe schlechtes Kokain erwischt. Als Banshee und Bapfo Feuer legen, glaubt das an Exzesse des Regietheaters gewöhnte Publikum, es gehöre zur Inszenierung. Aber das Opernhaus brennt nieder.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Berlin Verlag

Helmut Krausser (kurze Biografie)

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Christoph Poschenrieder - Mauersegler
Christoph Poschenrieder beschäftigt sich in seinem Roman "Mauersegler" mit den Themen Altern, Pflege­bedürftig­keit, Sterbehilfe und Tod. Weil er es augenzwinkernd tut, handelt es sich keineswegs um eine erschütternde Lektüre.
Mauersegler