Daniel Kehlmann : Die Vermessung der Welt

Die Vermessung der Welt
Die Vermessung der Welt Originalausgabe: Rowohlt Verlag, Reinbek 2005 ISBN: 3-498-03528-2, 301 Seiten Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2008 ISBN: 978-3-499-24100-0, 303 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der auf dem Familienschloss Tegel aufgewachsene Naturforscher Alexander von Humboldt führte 1799 bis 1804 eine strapaziöse Expedition in Südamerika durch. Ganz anders der Mathematiker Carl Friedrich Gauß: Der Sohn eines Gärtners hatte nur mit einem Stipendium des Herzogs studieren können, und statt seine Wahlheimat Göttingen zu verlassen, sann er lieber in seiner Studierstube über mathematische Probleme nach.
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Kritik

"Die Vermessung der Welt" ist keine Doppelbiografie über Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, sondern ein lakonischer und ironischer, witziger und respektloser, einfallsreicher und unterhaltsamer Roman von Daniel Kehlmann.
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Alexander Freiherr von Humboldt und sein zwei Jahre älterer Bruder Wilhelm wurden als Jugendliche jeden Tag zwölf Stunden lang von fünfzehn sich abwechselnden Privatlehrern unterrichtet; Alexander in Chemie, Physik und Mathematik, Wilhelm in Sprachen und Literatur, beide in Griechisch, Latein und Philosophie. Dann begann Wilhelm auf Anordnung des für die Bildung der beiden Brüder verantwortlichen Majordomus Gottlob Johann Christian Kunthein ein Jurastudium an der Viadrina in Frankfurt an der Oder, und Alexander immatrikulierte sich dort für Kameralistik.

Als Wilhelm von Humboldt 1791 Caroline von Dacheröden heiratete, erschien sein zweiundzwanzigjähriger Bruder Alexander nicht zur Hochzeitsfeier, weil er keine Zeit hatte. Er wollte das Leben erforschen und schreckte auch vor schmerzhaften Selbstversuchen nicht zurück: Alexander von Humboldt traktierte sich mit elektrischem Strom und band sich einmal eine Woche lang einen Arm auf den Rücken, um sich mit Schmerzen vertraut zu machen. Weil er sich die angestrebten Forschungsreisen zunächst nicht leisten konnte, wurde er 1792 Bergassessor der preußischen Bergwerks- und Hüttengesellschaft. Doch eine Woche nach dem Tod seiner Mutter im November 1796 kündigte er seine Stellung und bereitete sich darauf vor, seinen Traum zu erfüllen.

Zunächst fuhr Alexander von Humboldt mit der Kutsche nach Weimar, wo ihn sein Bruder Wieland, Herder und Goethe vorstellte. Während eines einjährigen Aufenthalts in Salzburg besorgte er sich Messgeräte für die geplante Expedition in die Neue Welt. In Paris lernte er den vier Jahre jüngeren Franzosen Aimé Bonpland kennen. Mit ihm reiste er nach Madrid, wo er einen Monat warten musste, bis er eine Audienz bei dem Minister Manuel de Urquijo bekam, der Spanien anstelle des Königs regierte und mit der Königin schlief. Der Minister hielt Alexander von Humboldt für einen Arzt und ließ sich von ihm ein Potenzmittel verschreiben; als Gegenleistung genehmigte er die Reise in die Neue Welt. Aimé Bonpland wunderte sich darüber, dass er auf dem Empfehlungsschreiben als Assistent Humboldts bezeichnet wurde und wollte das ändern lassen, aber der Deutsche tat es als unbedeutendes Missverständnis ab und drängte zum Aufbruch.

Von La Coruña aus stachen sie in See und reisten nach Neuandalusien.

Dort schoss Aimé Bonpland am Eingang einer Höhle zwei exotische Vögel für die Sammlung, die sie während der Expedition anlegten. Weil sich die einheimischen Führer nicht ins Innere der Höhle wagten, mussten Humboldt und Bonpland sie allein erkunden. Als sie wieder herauskamen, waren die am Eingang zurückgebliebenen Führer dabei, die beiden Vögel zu grillen.

Bei seiner Rückkehr in die Chaymas-Missionsstation wurde Alexander von Humboldt in seiner Kammer von einer nackten Fünfzehnjährigen erwartet, die vermutlich der Gouverneur geschickt hatte. Aber der Deutsche konnte nichts mit dem Mädchen anfangen, denn er war homosexuell. (Später wundert sich Alexander von Humboldt darüber, dass sein Bruder Wilhelm das Geheimnis schon in der Jugend durchschaut hatte.)

Auf dem Gipfel der Silla, eines Berges der Küstenkordilleren bei Caracas, entdeckten Humboldt und Bonpland versteinerte Muscheln. Weil das Meer bestimmt niemals diese Höhe erreicht hatte, schloss Alexander von Humboldt daraus auf eine Auffaltung des Gebirges.

Nachdem sie in Caracas vier verwegene Seeleute angeheuert hatten, brachen Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland zu einer monatelangen Schiffsreise auf, bei der sie den Orinoko erkundeten und den natürlichen Kanal zwischen dem Orinoko und dem Amazonas befuhren. Weil ihre Gesichter tagelang von Moskitos zerstochen wurden, konnten sich die Männer nicht rasieren. Während sie einmal in einer Missionsstation darauf warteten, dass zwei Indianer ihr Boot durch Stromschnellen bugsierten, besichtigten sie eine Grabhöhle mit Hunderten von Toten in unterschiedlichen Verwesungsstadien. Alexander von Humboldt zerrte mehrere Leichen aus den Körben, in denen man sie bestattet hatte, und brach Schädel von Wirbelsäulen; eine Kinderleiche und die Skelette von zwei Erwachsenen wickelte er in Tücher. Das Bündel mussten sie zu zweit zum Boot tragen, und die Seeleute nahmen es nur unter Protest an Bord.

Einmal erzählten die Männer sich gegenseitig Geschichten. Alexander von Humboldt kannte keine Geschichte, aber er zitierte das schönste deutsche Gedicht, frei ins Spanische übersetzt:

Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. (Seite 128)

In einer Indianersiedlung wurde aus Extrakten von Rinden und Blättern Curare gewonnen. Alexander von Humboldt fragte den Curare-Meister, ob man die Flüssigkeit trinken könne. Das habe noch niemand versucht, antwortete der Indianer, man tauche Pfeilspitzen ein, und selbst bei unscheinbaren Verletzungen wirke das Gift tödlich. Als Humboldt hörte, dass man die erlegten Tiere problemlos essen konnte, tauchte er den Zeigefinger ins Gift und leckte ihn ab. Die Aufregung war groß, aber der Forscher sank nur kurz auf die Knie und fühlte sich eine Weile benommen. Damit bewies er, dass Curare nur tödlich wirkt, wenn es in die Blutbahn gelangt.

[…] Tausende Pflanzen und Hunderte Tiere, manche lebend, die meisten tot, gesammelt, hatte mit Papageien gesprochen, Leichen ausgegraben, jeden Fluss, Berg und See auf seinem Weg vermessen, war in jedes Erdloch gekrochen und hatte mehr Beeren gekostet und Bäume erklettert, als sich irgend jemand vorstellen mochte. (Seite 19)

Sicherheitshalber ließ Alexander von Humboldt in Havanna das gesammelte Material aufteilen und auf zwei Schiffe verladen, die es zu seinem Bruder Wilhelm bringen sollten. Prompt sank eines der beiden Schiffe.

Ebenfalls in Havanna sperrte er ein Rudel Hunde mit zwei Krokodilen zusammen ein und beobachte das Blutbad. Danach meinte Alexander von Humboldt:

Natürlich hätten sie [die Hunde] ihm leid getan. Aber die Wissenschaft habe es verlangt, nun wisse man mehr über das Jagdverhalten der Krokodile. Außerdem seien es Mischlinge gewesen, unedel und ziemlich räudig. (Seite 169)

In Ecuador bestiegen Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland den Chimborazo. Sie schaffen es bis auf eine Höhe von 18 690 Fuß, dann musste sogar der Deutsche aufgrund des Sauerstoffmangels bzw. der Höhenkrankheit aufgeben.

Bei der Besichtigung eines Tempels in Acapulco erzählte ihnen jemand, die Azteken hätten bei der Einweihung zwanzigtausend Menschen geopfert:

Einer nach dem anderen: Herz raus, Kopf ab. Die Reihen der Wartenden hätten bis zum Rand der Stadt gereicht. (Seite 201)

Nach dem Popocatepetl wollte Alexander von Humboldt in Mexiko unbedingt auch zum Krater des Vulkans Jorullo, denn er erwartete, auf diese Weise einen alten Streit mit seinem Lehrer Abraham Werner in Freiberg klären zu können: Während Humboldt von der Existenz vulkanisch entstandenen Gesteins überzeugt war, hatte Werner behauptet, alle Gesteine bestünden aus Ablagerungen (Neptunismus). Als Don Ramón Espelde, der Erstbesteiger des Jorullo, von dem Vorhaben erfuhr, bestand er darauf, die beiden „Laien“ hinaufzuführen. Beim Aufstieg mussten Humboldt und Bonpland immer wieder auf ihn warten, weil er nicht mit ihnen Schritt halten konnte. Dass der Deutsche sich dann auch noch in den Krater abseilte, fand Don Ramón Espelde verrückt.

Als man Humboldt wieder heraufzog, war er grün angelaufen, hustete erbärmlich, und seine Kleidung war angesengt. Der Neptunismus, rief er blinzelnd, sei mit diesem Tag zu Grabe getragen! (Seite 209)

„Vierzehn Kisten mit Gesteins- und Pflanzenproben […] vierundzwanzig Käfige mit Affen und Vögeln sowie einige Glasschatullen mit Insekten und Spinnentieren“ (Seite 210) hatten Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland dabei, als sie sich zuerst nach Havanna und von dort aus nach Philadelphia einschifften. US-Präsident Thomas Jefferson empfing Alexander von Humboldt in der neuen Bundeshauptstadt Washington. Wieder einmal stellte Aimé Bonpland beleidigt fest, dass sich niemand für ihn interessierte, sondern Humboldt den gesamten Ruhm erntete.

Zurück in Europa, brauchte Alexander von Humboldt sein ganzes Geld für die Druckkosten seiner in vierunddreißig Bänden veröffentlichten Reisedokumentation auf. Die Leser waren allerdings enttäuscht, denn Humboldt berichtete mehr von Vermessungen als von Reiseabenteuern. Auf Befehl des preußischen Königs, der nicht länger zulassen wollte, dass sein berühmtester Untertan im Ausland lebte, kehrte er 1827 von Paris nach Berlin zurück.

Im Jahr darauf nahm er sich vor, ein weltweites Netz von Beobachtungsstationen zu schaffen, um herauszufinden, wieviele Magnete es in der Erde gab. Dafür benötigte er einen Mathematiker, und den glaubte er in Carl Friedrich Gauß gefunden zu haben.

Gauß war der Sohn eines Gärtners und dessen Ehefrau, die weder lesen noch schreiben konnte. In der Schule in Braunschweig hatte er einen Lehrer – er hieß Büttner –, dem es Freude machte, den Schülern nahezu unlösbare Aufgaben zu stellen und sie dann wegen ihres Scheiterns zu verprügeln. So ließ er sie einmal alle Zahlen von 1 bis 100 zusammenzählen. Da erwartete er viele Rechenfehler. Während in der Klasse eifrig gerechnet wurde, schrieb Carl Friedrich Gauß einfach nur das Ergebnis auf seine Tafel: 5050. Büttner fragte nach den einzelnen Additionen, aber der Achtjährige erklärte ihm, er habe 50 mit 101 multipliziert, denn 1 plus 100 ergebe 101, ebenso wie 2 plus 99, 3 plus 98 und so weiter. Verblüfft lieh der Lehrer ihm ein anspruchsvolles Mathematik-Lehrbuch. Als Gauß es am nächsten Morgen zurückbrachte, meinte Büttner spöttisch, er solle nicht so rasch aufgeben, aber Gauß hatte das Buch bereits durchgearbeitet. Da sorgte Büttner dafür, dass der hochbegabte Junge dreimal in der Woche zu Hause von seinem jungen Assistenten Martin Bartels unterrichtet wurde, und nach einem Jahr erhielt Carl Friedrich Gauß eine Freistelle im Gymnasium in Braunschweig und einen Freitisch bei dem Göttinger Universitätsprofessor Hofrat Zimmermann.

Auf Empfehlung Zimmermanns gewährte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig Carl Friedrich Gauß eine Audienz. Er wollte Rechenkunststücke sehen. Enttäuscht nahm er zur Kenntnis, dass Gauß kein Rechengenie war, aber ein Stipendium gewährte er ihm dennoch.

Nachdem Gauß herausgefunden hatte, wie man ein regelmäßiges Siebzehneck konstruieren kann, veröffentlichte Zimmermann die Methode unter seinem eigenen Namen.

Einmal wurde Carl Friedrich Gauß von Zahnschmerzen zu einem Barbier getrieben. Der riss ihm einen Zahn, aber die Schmerzen ließen nicht nach, und es stellte sich heraus, dass der Barbier den falschen Zahn gezogen hatte. Gauß hätte lieber erst hundert Jahre später gelebt, denn er war überzeugt davon, dass es dann eine Methode zur vorübergehenden Betäubung von Nerven geben würde. Er glaubte an den technischen Fortschritt.

Aufgrund seiner vielfältigen Interessen fiel es Gauß nicht leicht, sich für ein Fachgebiet zu entscheiden. Doch mit neunzehn wählte er die Mathematik.

Während er nach der Promotion in Göttingen auf die Urkunde wartete, las er in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ einen Bericht des preußischen Diplomaten Wilhelm von Humboldt über die Forschungsreise seines Bruders Alexander zum Orinoko. Carl Friedrich Gauß fand das zwar eindrucksvoll, aber auch sinnlos, denn die Wahrheit konnte man doch auch hier an Ort und Stelle finden.

Nachdem Gauß mit vierundzwanzig die „Disquisitiones arithmeticae“ veröffentlicht hatte, reiste er zu Immanuel Kant nach Königsberg. Weil ihm das Geld für einen Gasthof fehlte, ging er nach der beschwerlichen Fahrt ungeachtet seiner Rückenschmerzen gleich zur Universität und ließ sich vom Pedell den Weg zu Kants Haus beschreiben.

Endlich hatte er die Adresse gefunden. Er klopfte, nach langem Warten öffnete ihm ein durch und durch staubiger alter Mann und sagte, noch bevor Gauß sich vorstellen konnte, der gnädige Herr empfange nicht.
[…] Gauß holte Empfehlungsbriefe von Zimmermann, Kästner, Lichtenberg und Pfaff hervor. Er bestehe darauf, dass diese Schreiben vorgelegt würden!
Der Diener antwortete nicht. Er hielt die Papiere verkehrt herum, ohne einen Blick darauf zu werfen.
[…] Der Diener überlegte […] Ach je, murmelte er dann, ging hinein und ließ die Tür offen.
Gauß folgte ihm zögernd durch einen kurzen und dunklen Flur in ein kleines Zimmer. Er brauchte einen Moment, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten und er ein verhängtes Fenster, einen Tisch, einen Sesel und darin einen in Wolldecken gewickelten reglosen Zwerg sehen konnte: wulstige Lippen, vorspringende Stirn, eine scharfe, dünne Nase. Die halbgeöffneten Augen wandten sich ihm nicht zu. Die Luft war so stickig, dass man kaum atmen konnte. Mit heiserr Stimme fragte er, ob das der Professor sei.
Wer sonst, sagte der Diener.
[…] Mit gedämpfter Stimme erklärte er sein Anliegen […] Ihm scheine nämlich, dass der euklidische Raum eben nicht, wie es die Kritik der reinen Vernunft behaupte, die Form unserer Anschauung selbst und deshalb aller möglichen Erfahrung vorgeschrieben sei, sondern vielmehr eine Fiktion, ein schöner Traum […] Nur eines sei sicher: Der Raum sei faltig, gekrümmt und sehr seltsam.
[…] Er ging zum Fenster, aber ein erschrockenes Quieken des Männchens ließ ihn stehenbleiben […] Als er gestikulierend aufsah, bemerkte er die Spinnweben an der Decke, mehrere Schichten davon, filzig ineinandergewoben […] Benötige er die Meinung […] des Mannes, welcher die Welt mehr über Raum und Zeit gelehrt habe als irgendein anderer. Er ging in die Hocke, sodass sein Gesicht auf gleicher Höhe mit dem des Männchens war. Er wartete. Die kleinen Augen richteten sich auf ihn.
Wurst, sagte Kant.
Bitte?
Der Lampe soll Wurst kaufen, sagte Kant […]
Der gnädige Herr sei müde, sagte der Diener. (Seite 95ff)

Zurück in Braunschweig, machte Carl Friedrich Gauß einer Bekannten namens Johanna zum zweiten Mal einen Heiratsantrag und richtete ein Fläschchen Curare her, um sich im Fall einer erneuten Absage das Leben zu nehmen [Suizid]. Dass sie seinen Antrag annahm, konnte er kaum glauben. Zwei Tage vor der Hochzeit ritt Gauß nach Göttingen und traf sich noch einmal mit Nina, die aus Sibirien stammte und ihm von allen Huren in der Stadt am liebsten war. Während er in der Hochzeitsnacht Johanna entkleidete, begriff er plötzlich, wie man Messfehler der Planetenbahnen approximativ korrigieren kann. Das musste er erst einmal aufschreiben, bevor er mit seiner Braut weitermachte.

Zimmermann drängte Herzog Carl Wilhelm Ferdinand, in Braunschweig eine Sternwarte zu bauen und Carl Friedrich Gauß mit der Leitung zu betrauen. Als der Herzog Gauß bei einer Audienz darüber unterrichtete, zeigte dieser sich unbeeindruckt und verlangte nicht nur einen Professorentitel, sondern auch eine Verdoppelung des Gehalts. Säuerlich meinte der Herzog, über den Titel werde sich reden lassen. – Einige Zeit später erkundigte sich Carl Friedrich Gauß ungeduldig und verärgert über den Stand der Angelegenheit. Da wies man ihn darauf hin, dass inzwischen Krieg war. Das hatte Gauß noch gar nicht mitbekommen. Als Herzog Carl Wilhelm Ferdinand in der Schlacht bei Jena und Auerstedt tödlich verwundet wurde, zerschlug sich das Projekt.

Daraufhin folgte Carl Friedrich Gauß einem Ruf nach Göttingen, wo die Universität eine Sternwarte baute und man ihn zum Direktor ernannte. Sehr zu seinem Missfallen musste er in Göttingen auch Vorlesungen halten. Allerdings konnte er Nina jetzt wieder häufiger besuchen.

Als Gauß einmal von einer Vorlesung nach Hause kam, warteten der Arzt, eine Hebamme und die Schwiegereltern auf ihn.

Alles habe er versäumt, sagte die Schwiegermutter. Wohl wieder den Kopf in den Sternen gehabt!
Er habe ja nicht einmal ein anständiges Fernrohr, sagte er bedrückt. Was denn passiert sei?
Es sei ein Junge.
Was für ein Junge denn? Erst als er ihrem Blick begegnete, verstand er. Und er wusste sofort, dass sie ihm das nie verzeihen würde. (Seite 154)

Der Sohn wurde auf den Namen Joseph getauft. Einige Zeit später gebar Johanna eine Tochter, die den Namen Wilhelmina erhielt. Während der dritten Schwangerschaft seiner Frau reiste Gauß nach Bremen, um mit seinem Kollegen Friedrich Wilhelm Bessel die Jupitertabellen durchzugehen. Bessel drängte Gauß, mit ihm ans Meer zu fahren. Dann musste Gauß auch noch mit ihm nach Weimar reisen und dort im Hoftheater die Aufführung eines Stückes von Voltaire („Candide“) besuchen. Das lange Sitzen fiel Gauß schwer, weil ihn nach der viertägigen Kutschfahrt Rückenschmerzen plagten. Außerdem hatte er ohnehin nichts übrig für Belletristik und Theater.

Er glaube, flüsterte Bessel, Goethe sei heute in seiner Loge.
Gauß fragte, ob das der Esel sei, der sich anmaße, Newtons Theorie des Lichts zu korrigieren. (Seite 158)

In der Pause stellte sich Wilhelm von Humboldt dem berühmten Mathematiker vor. Er sei gerade aus Rom gekommen, erzählte er, und auf der Durchreise nach Berlin, wo man ihn zum Direktor der Unterrichtssektion im Innenministerium machen wolle. Carl Friedrich Gauß fragte ihn nach seinen Forschungsreisen. Da verwechsle er ihn mit seinem Bruder Alexander, meinte Wilhelm von Humboldt daraufhin säuerlich.

Als Gauß endlich nach Göttingen zurückkam, lagen Johanna und das Neugeborene im Sterben.

Weil er nicht wusste, wie man einen Haushalt führt und Kinder aufzieht, überlegte er, ob er Nina heiraten sollte, aber dann entschloss er sich, Johannas bester Freundin einen Antrag zu machen, und Minna, die kaum Chancen auf dem Heiratsmarkt hatte, sagte zu.

Da Gauß seine Frau nicht ausstehen konnte, war er froh, einen Auftrag für die Vermessung des Königreichs Hannover bekommen zu haben, denn auf diese Weise musste er viel reisen und brauchte Minna nicht so oft zu sehen.

Im September 1828 verließ Carl Friedrich Gauß erstmals seit zwanzig Jahren wieder einmal das Königreich Hannover und folgte widerwillig einer Einladung Alexander von Humboldts zum Deutschen Naturforscherkongress in Berlin.

Humboldt kam persönlich zur Kutsche, um Gauß und dessen Begleiter, seinen fünfzehnjährigen Sohn Eugen, zu begrüßen, und er hatte Louis Daguerre mitgebracht, einen Pionier der Fotografie, der den Augenblick auch gleich festhalten wollte. Man benötige dafür inzwischen nur noch eine Belichtungszeit von fünfzehn Minuten, erklärte Humboldt seinem Gast. Während die Gruppe bewegungslos verharrte, näherte sich ein Gendarm, der glaubte, es handele sich um eine verbotene Menschenansammlung. Da reichte es Gauß: Er riss sich los – und ruinierte die Aufnahme. Der Augenblick war verloren.

Während Carl Friedrich Gauß nach seiner Ankunft in Berlin sechzehn Stunden schlief, stand Alexander von Humboldt am nächsten Morgen wie immer um 5 Uhr auf und fing eifrig mit seinen Tätigkeiten an.

Napoleon habe ihn gehasst, erklärte Humboldt seinem Gast, weil er zusammen mit Aimé Bonpland mehr erreicht habe als dreihundert napoleonische Wissenschaftler in Ägypten.

Bei seiner einzigen Audienz, erzählte Humboldt, habe der Kaiser ihn gefragt, ob er Pflanzen sammle. Er habe bejaht, der Kaiser habe gesagt, ganz wie seine Frau. (Seite 217)

Gauß behauptete, seinetwegen habe Napoleon auf den Beschuss Göttingens verzichtet.

Einig waren die beiden Gelehrten sich in ihrer Abneigung gegenüber Literatur. Alexander von Humboldt sagte dazu:

Bücher ohne Zahlen beunruhigten ihn. Im Theater habe er sich stets gelangweilt. (Seite 221)

Künstler vergäßen zu leicht die Aufgabe: das Vorzeigen dessen, was sei. Künstler hielten Abweichungen für eine Stärke, aber Erfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfälsche die Welt […] Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde. (Seite 221)

Den Darwinismus lehnte Alexander von Humboldt ab:

Die zweitgrößte Beleidigung des Menschen sei die Sklaverei. Die größte jedoch die Idee, er stamme vom Affen ab. (Seite 238)

Aimé Bonpland habe sich nach der Rückkehr von der Forschungsreise in Paris nicht mehr zurechtgefunden, berichtete Alexander von Humboldt: Ruhm, Alkohol und Frauen. Zeitweise sei Bonpland für die kaiserlichen Ziergärten verantwortlich gewesen und habe Orchideen gezüchtet, aber nach Napoleons Sturz sei er wieder in die Neue Welt gereist. In einem der Bürgerkriege habe er auf die Falschen gesetzt und stehe deshalb jetzt in Paraguay unter Hausarrest. Nicht einmal Simón Bolívar habe etwas für ihn tun können.

Schrecklich, sagte Gauß. Aber wer sei der Kerl eigentlich? Er habe nie von ihm gehört. (Seite 225)

Auf dem Deutschen Naturforscherkongress wurde Carl Friedrich Gauß von dreihundert Menschen erwartet. Das war ihm äußerst lästig. Obwohl Alexander von Humboldt den König angekündigt hatte, stahl Gauß sich davon und fuhr in sein Quartier zurück. Der König sei enttäuscht gewesen, hielt Humboldt ihm einige Stunden später vor, aber Gauß bedauerte nur, das erlesene Buffet versäumt zu haben.

Während die beiden Gelehrten disputierten, traf die Nachricht ein, Eugen Gauß sei verhaftet worden.

Ein Berliner Student hatte ihm von der Bildungsreform vorgeschärmt, die von Wilhelm von Humboldt durchgeführt worden war und hatte ihn mit zu einer verbotenen Versammlung genommen. Alle fünfzig Studenten, die daran teilgenommen hatten, waren verhaftet worden.

Trotz der späten Stunde ließ Gauß sich von Humboldt überreden, gleich noch zum Gendarmeriekommandanten Vogt zu fahren. Den trafen sie zwar nicht an, aber seine Frau verriet den beiden Besuchern, dass er bei einem Medium war, um herauszufinden, wo seine verstorbene Großmutter ihr Geld versteckt hatte. Die Gelehrten fuhren zu der angegebenen Adresse und redeten mit Vogt, doch als Gauß den Eindruck bekam, dass der Gendarmeriekommandant bestochen werden wollte, fing er Streit mit ihm an, und als Vogt ihn zum Duell forderte, meinte er nur:

So weit komme es noch, dass er sich von einem Stinkmolch totschießen lasse! (Seite 259)

Für seinen Sohn Eugen konnte er danach nichts mehr tun. Der musste Preußen verlassen und setzte sich nach Amerika ab.

Alexander von Humboldt folgte 1829 einer Einladung des Zaren, der seinen Bruder Wilhelm auf dem Wiener Kongress kennen gelernt hatte, und bereiste zusammen mit dem Mineralogen Gustav Rose das russische Reich.

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In den sechzehn Kapiteln seines Buches „Die Vermessung der Welt“ erzählt Daniel Kehlmann abwechselnd aus dem Leben der beiden grundverschiedenen Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß, die sich auf dem Deutschen Naturforscherkongress 1828 in Berlin ein einziges Mal begegnet waren. (Gauß hatte vom 14. September bis 3. Oktober 1828 als Gast bei Humboldt logiert.)

Dabei strebte Daniel Kehlmann keine Doppelbiografie an, sondern einen an Eckpunkten der Wissenschaftsgeschichte festgemachten Roman mit einer fiktiven Handlung. In einer lockeren Mischung aus schlaglichtartig beleuchteten Fakten und eigenen Einfällen, überlieferten und selbst erfundenen Anekdoten entwirft er zwei pointierte Porträts und erweckt sie zum Leben. „Die Vermessung der Welt“ ist eine lakonische und ironische, witzige und respektlose, einfallsreiche und unterhaltsame Mischung aus Abenteuerroman und historischem Roman mit vielen komischen Situationen, die Daniel Kehlmann aus der Diskrepanz zwischen Genie und Realität, Größe und Alltag entwickelt. Für diesen Zweck karikiert er allerdings die beiden Hauptfiguren als schrullige, lebensfremde Originale: Alexander von Humboldt als fanatischen Sammler und Empiristen, Carl Friedrich Gauß als weltverachtenden Mathematiker, der Reisen schon wegen ihrer Unbequemlichkeit hasst, beide als lieblos und egomanisch, Humboldt als homosexuell, Gauß als Freier der Huren von Göttingen. Nebenbei prangert Daniel Kehlmann den Obrigkeitsstaat an und plädiert für die Freiheit des Denkens und Handelns. Ganz im Sinne der Aufklärung lässt er Gauß auf eine bessere Welt durch den technischen Fortschritt hoffen.

Es ist ein kluges, unterhaltsames, flüssig erzähltes Buch, reich an Anekdoten und immer wieder sehr komisch […] Daniel Kehlmann präsentiert seinen Lesern eine Idylle aus der heroischen Zeit der deutschen Wissenschaft, aus Verhältnissen, in denen die Wissenschaft noch unkompliziert und die Aufklärung ein Projekt zur Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit war. Alexander von Humboldt gibt in dieser Geschichte den kosmopolitischen, weltoffenen, tüchtigen Deutschen, und Carl Friedrich Gauß liefert dazu den Gegenpart aus der Typenkomödie, den skurrilen Professor. Das Erzählen von Theorie ist das Anliegen dieses Buches, Bildung in leichter, unakademischer, unterhaltsamer Form. Dieser Anspruch hat zur Folge, dass Daniel Kehlmann mit seinem Stoff umgeht wie das „Klassik Radio“ mit den symphonischen Werken des neunzehnten Jahrhunderts: Er spielt die schöne Melodie und den langsamen Satz, mit viel Vibrato und lustigen Einlagen, und eine Abneigung gegen alles Abstrakte ist dabei nicht zu übersehen. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 29. Januar 2007)

Bemerkenswert ist, dass Daniel Kehlmann alle Dialoge in seinem Roman „Die Vermessung der Welt“ in indirekter Rede geschrieben hat.

„Die Vermessung der Welt“ gibt es auch in einer Hörbuch-Version, gelesen von Ulrich Matthes (5 CDs, ca. 345 Minuten). Außerdem wurde unter der Regie von Alexander Schuhmacher eine Hörspiel-Version aufgenommen (3 CDs, ca. 185 Minuten).

Detlev Buck verfilmt den Roman „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann. Der Film soll am 25. Oktober 2012 ins Kino kommen.

Originaltitel: Die Vermessung der Welt – Regie: Detlev Buck – Drehbuch: Detlev Buck und Daniel Kehlmann, nach dem Roman „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlman – Kamera: Slawomir Idziak – Schnitt: Dirk Grau – Musik: Enis Rotthoff – Darsteller: Albrecht Abraham Schuch, David Kross, Florian David Fitz, Jeremy Kapone, Karl Markovics, Michael Mertens, Katharina Thalbach u.a. – 2012; ? Minuten

Daniel Kehlmann wurde 1975 als Sohn des Filmregisseurs Michael Kehlmann in München geboren. Seit seinem sechsten Lebensjahr wohnt er in Wien. Dort studierte er Philosophie und Literaturwissenschaft. (Seine Dissertation über Immanuel Kant ist noch nicht fertig.) 1997 debütierte Daniel Kehlmann als Schriftsteller mit dem Roman „Beerholms Vorstellung“. Es folgten „Mahlers Zeit“ (1999) und „Der fernste Ort“ (2001). Den internationalen Durchbruch schaffte Daniel Kehlmann 2003 mit „Ich und Kaminski“. Den Erfolg steigerte er noch mit „Die Vermessung der Welt“. 2013 veröffentlichte Daniel Kehlmann den Roman „F“.

2008 wurde Daniel Kehlmann mit dem Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck ausgezeichnet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2012

Carl Friedrich Gauß (Kurzbiografie)
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Daniel Kehlmann: Der fernste Ort
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Daniel Kehlmann: Mein Algorithmus und ich
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Thea Dorn - Mädchenmörder
Mit "Mädchenmörder. Ein Liebesroman" parodiert Thea Dorn einen Road-Novel-Thriller über einen Serienmörder. Zugleich kritisiert sie auf satirische Weise die Sensationsgier der Medien und spielt mit dem Voyeurismus der Leser. Das ist recht unterhaltsam.
Mädchenmörder