Daniel Kehlmann : Ich und Kaminski

Ich und Kaminski
Ich und Kaminski Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2003 ISBN 3-518-41395-3, 174 Seiten, 18.90 € (D) Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2004 ISBN 3-518-45653-9, 174 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der eitle und eingebildete, aber nicht sonderlich erfolgreiche 31-jährige Kunstkritiker Sebastian Zöllner beabsichtigt, eine Biografie über den greisen Maler Manuel Kaminski zu schreiben, die er kurz nach dessen Tod veröffentlichen will, um von dem vermutlich für kurze Zeit neu auflebenden Interesse an dem Künstler zu profitieren. Aber der listige alte Mann bedient sich seinerseits des parasitären Journalisten ...
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Kritik

Der Roman "Ich und Kaminski" von Daniel Kehlmann ist eine witzige Realsatire auf den Kulturbetrieb und bietet ein leichtes, intelligentes Lesevergnügen.
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Sebastian Zöllner

Eigentlich hatte Sebastian Zöllner Künstler werden wollen, aber nachdem er bei der Aufnahmeprüfung für die Akademie durchgefallen war, fing er als Kunstkritiker bei einer Lokalzeitung an. Jetzt plant der Einunddreißigjährige, der sich als freier Mitarbeiter mit Beiträgen für mehrere Magazine über Wasser hält, eine Buchbiografie über Manuel Kaminski, der berühmt geworden war, als es hieß, er sei beim Malen seiner letzten Bilder bereits infolge einer Makula-Degeneration blind gewesen („painted by a blind man“). Vor fünfundzwanzig Jahren kaufte Kaminski ein abgelegenes Haus in den Schweizer Alpen und zog sich mit seiner Tochter dorthin zurück.

Schon seit zwei Wochen beschäftigt Zöllner sich mit dem Vorhaben. Er hatte sogar darüber nachgedacht, nach New York zu fliegen, um sich die Gemälde Kaminskis im Original anzusehen, aber das erschien ihm dann doch zu kostspielig, und wozu gibt es Bildbände?

Tatsächlich, ich war fast zwei Wochen lang unterwegs gewesen. Ich hatte noch nie soviel Zeit einer einzigen Sache gewidmet. (Seite 21)

Zöllner weiß bereits, dass Kaminski von Matisse gefördert wurde, Picasso zu seinen Freunden zählte und der Dichter Richard Rieming sein Ziehvater war. Rieming lebte nämlich zwei Jahre lang mit Kaminskis Mutter in Paris zusammen. Nach dem Tod seiner Mutter blieb Kaminski allein in Paris zurück. Ein Jahr nach Kriegsende verirrte er sich bei der Besichtigung der Salzmine von Clairance und wurde erst nach zwei Tagen gefunden. Daraufhin schloss er sich fast eine Woche lang ein – und fand in dieser Zeit zu einem völlig neuen Malstil: Er schuf visionäre Spiegelbilder, die er „Reflexionen“ nannte. Kaminski heiratete Adrienne Malle, die Besitzerin eines gut gehenden Papiergeschäfts. Aber sie verließ ihn nach vierzehn Monaten mit ihrer kleinen Tochter Miriam und ließ sich von ihm scheiden. Miriam Kaminski war dreizehn, als ihre Mutter starb. Seit ihrem 17. Lebensjahr kümmert sie sich um ihren Vater.

Mein Buch durfte nicht vor seinem Tod und nicht zu lange danach herauskommen, für kurze Zeit würde er im Mittelpunkt des Interesses stehen. Man würde mich ins Fernsehen einladen, ich würde über ihn sprechen, und am unteren Bildrand würde in weißen Buchstaben mein Name und Kaminskis Biograf eingeblendet sein. Das würde mir einen Posten bei einem der großen Kunstmagazine einbringen. (Seite 36f)

Während der Zugfahrt in die Schweiz schreibt Zöllner einen Verriss über die Braque-Biografie, die der Kunstkritiker Hans Bahring gerade veröffentlichte. In dem Dorf unterhalb der drei Berghäuser, von denen Kaminski eines bewohnt, hat Zöllner ein Zimmer in der Pension „Schönblick“ bestellt. Von dort aus geht er zu Fuß hinauf: Clure, Dr. Günzel, Kaminski lauten die Namen an den drei Türschildern. Kaminskis Tochter Miriam öffnet: eine unverheiratete Frau Mitte vierzig. Sie erwartete den Biografen erst in zwei Tagen und versucht, ihn wieder loszuwerden, weil sie und ihr greiser Vater Gäste haben, doch Zöllner lässt sich nicht davon abhalten, in die Gesellschaft zu platzen und merkt auch nicht, wie er die anderen mit der Schilderung seiner Erlebnisse in der Bahn nervt.

Am folgenden Tag hat Miriam Kaminski einen Termin außerhalb, erklärt sich aber bereit, Zöllners Fragen über ihren Vater nach ihrer Rückkehr zu beantworten. Mit dem Künstler selbst könne er nicht reden, meint sie, man müsse ihn schonen.

Bevor Zöllner das Haus verlässt, vereinbart er heimlich mit dem Hausmädchen Anna, dass sie ihm am nächsten Tag die Tür öffnet und dann für vierundzwanzig Stunden zu ihrer angeblich erkrankten Schwester fährt, damit Zöllner sich mit Kaminski allein unterhalten kann. 350 Mark verlangt Anna dafür.

Zurück in der Pension „Schönblick“, erhält Zöllner einen Anruf von Elke. Vor drei Monaten quartierte er sich bei ihr ein, angeblich nur für ein paar Tage. Nun hat sie seine Sachen gepackt und möchte, dass er sie nach seiner Rückkehr aus der Schweiz unverzüglich abholt, denn ihr neuer Freund Walter soll zu ihr ziehen.

Die Begegnung

Am nächsten Tag geht Zöllner wieder hinauf zu Kaminski und durchstöbert das gesamte Haus. In dem offenbar seit Jahren nicht mehr betretenen Atelier im Keller fotografiert er unvollendete Gemälde des Künstlers. Im Büro schaut er sich Abrechnungen an und liest Briefe. Dann stößt er auf Kaminski.

Im Lehnstuhl saß Kaminski. Er schien zu schlafen […] Seine Stirn bewegte sich, er drehte den Kopf, öffnete und schloss ganz schnell die Augen und sagte: „Wer ist das?“
„Ich“, sagte ich, „Zöllner. Ich hatte meine Tasche vergessen. Anna musste zu ihrer Schwester und fragte mich, ob ich bleiben könnte, kein Problem, und … ich wollte Ihnen nur Bescheid sagen. Falls Sie etwas brauchen.“
„Was soll ich brauchen?“, sagte er ruhig. „Die fette Kuh.“
Ich fragte mich, ob ich richtig gehört hatte.
„Fette Kuh“, wiederholte er. „Kochen kann sie auch nicht. Was haben Sie bezahlt?“
„Ich weiß nicht, was sie meinen. Aber wenn Sie Zeit für ein Gespräch …“
„Waren Sie im Keller?“
„Im Keller?“
Er tippte an seine Nase. „Das riecht man.“ (Seite 78f)

Um den alten Mann zum Sprechen zu bringen, klärt Zöllner ihn darüber auf, dass Therese Lessing, die Jugendliebe des Künstlers, nicht – wie dieser glaubt – gestorben sei, sondern in Norddeutschland an der Küste lebe. Kaminski will auf der Stelle zu ihr gebracht werden. Da Miriam den Zug genommen hat, soll Zöllner ihn mit dem Wagen chauffieren.

Hatte er wirklich vor, jetzt sofort, einfach so, zusammen mit mir …? Er musste verrückt sein. Andererseits: War das mein Problem? Natürlich, die Reise würde seine Gesundheit gefährden. Aber um so früher konnte das Buch erscheinen. (Seite 92)

Die Reise

Kaminski schläft nach kurzer Zeit im Auto ein. Als er wieder erwacht, verlangt er nach einem Frühstück. Zöllner hält vor einem Rasthaus, um Kaffee und Croissants zu besorgen. Als er wieder zurückkommt, sitzt ein Fremder im Fond.

„Das ist Karl Ludwig“, sagte Kaminski in einem Ton, als wäre jede weitere Frage überflüssig. (Seite 100)

Widerwillig findet Zöllner sich damit ab, dass sie einen Anhalter mitnehmen. Während er einige Zeit später eine Tankrechnung bezahlt und Kaminski die Toilette der Raststätte benutzt, klaut Karl Ludwig das Auto. Ein Taxi bringt Kaminski und Zöllner zu einem Hotel. Mitten in der Nacht ruft der Portier Zöllner an und beschwert sich darüber, dass dessen Reisegefährte eine Prostituierte aufs Zimmer kommen ließ. Zöllner geht hinüber. An Kaminskis Tür hängt ein Schild „bitte nicht stören“. Die Frau sitzt angezogen im Bett, Kaminski liegt mit dem Kopf in ihrem Schoß und redet. Zöllner nimmt Jana – so heißt sie – mit hinaus. Als er am nächsten Morgen wieder nach dem Künstler schaut, trifft er mit einem Kellner vom Zimmerservice zusammen, der gerade Kaminskis Bestellung bringt.

Da Kaminski behauptet, kein Geld bei sich zu haben, muss Zöllner alles bezahlen. Um Geld zu sparen, will er die nächste Nacht mit dem alten Mann in Elkes Wohnung verbringen. Er weiß, dass sie verreist ist, und sein Türschlüssel passt noch.

„Ich weiß nicht, ob ich richtig verstehe“, sagte Kaminski. „Aber ich habe das Gefühl, statt in meine Vergangenheit sind wir in Ihre geraten.“ (Seite 131)

Abends schleppt der Kunstkritiker den Maler zu der Vernissage von Alonzo Quilling in der Galerie Hochgart, denn er will die Chance nutzen, mit Manuel Kaminski gesehen zu werden.

Nach dem Aufwachen am nächsten Morgen findet er Kaminski in der Küche.

Kaminski saß im Schlafrock am Küchentisch und trug seine schwarze Brille. Vor ihm standen Orangensaft, Müsli, eine Schüssel mit Früchten, Marmelade, ein Korb mit frischem Gebäck und eine dampfende Kaffeetasse. Ihm gegenüber saß Elke. (Seite 146)

Elke gibt Zöllner eine Stunde Zeit, um ihre Wohnung zu verlassen. Er nimmt ihre Autoschlüssel und ihr Auto.

Endlich erreichen die beiden Männer den Ort, in dem Therese Lessing wohnt. Ein Fremder öffnet die Tür. Er heißt Holm und nennt seine Lebensgefährtin „Theschen“. Zöllner erhoffte sich eine bewegende Szene für sein Buch, aber die alte Frau im Lehnstuhl erinnert sich nur noch schwach an ihre Jugendliebe, und versehentlich sagt sie „Miguel“ statt Manuel. Nachdem sie Kaminski verlassen hatte, fuhr sie nach Norden, wurde Sekretärin, vermählte sich mit einem Mann namens Uwe und wurde Mutter von zwei Kindern: Maria und Heinrich. Zwei Jahre nachdem Uwe bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war, heiratete sie ein zweites Mal. Mit Bruno hatte sie ebenfalls zwei Kinder: Eva und Lore. Jetzt lebt sie mit Holm zusammen. Der betrieb früher eine kleine Fabrik für Kräuterprodukte.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Das Ende

Enttäuscht verabschiedet Zöllner sich und verlässt mit Kaminski das Haus. Auf der Straße wartet Miriam. Während ihr Vater sich ins Auto setzt, verlangt sie in Elkes Namen die Autoschlüssel und droht Zöllner mit einer Anzeige wegen Diebstahls von zwei Fahrzeugen und Entführung eines entmündigten Greises. Außerdem kündigt sie an, ihm ihre eigenen Flug- und Taxikosten in Rechnung zu stellen. Miriam hatte Therese bereits vor zehn Jahren besucht. Um ihren Vater zu schonen, ließ sie ihn jedoch in dem Glauben, seine Jugendliebe sei längst gestorben. Ob ihr Vater den Vertrag erwähnt habe, fragt Miriam. Zöllner weiß nicht, was sie meint. Da klärt sie ihn darüber auf, dass Kaminski für eine Artikelserie stundenlange Gespräche mit Hans Bahring geführt und einen Exklusivvertrag abgeschlossen hat.

„Ich will ans Meer“, raunt Kaminski dem Mann zu, für den gerade eine Welt zusammenbricht. Zöllner hat Miriam die Autoschlüssel noch nicht ausgehändigt. Miriam kann bloß noch gegen die Scheibe schlagen, als er losfährt. Am Strand schleudert Zöllner sein Diktafon und die Tonbandaufnahmen in die Wellen, dann reißt er Seite für Seite aus seinem Notizblock und wirft sie hinterher. Zum Schluss drückt er Kaminski, der sich inzwischen hingesetzt hat, die Schlüssel für Elkes Wagen in die Hand und geht allein vom Wasser weg, „gegen den Widerstand des Sandes“.

So viele Entscheidungen. Der Himmel war niedrig und weit, allmählich löschten die Wellen meine Spuren aus. Die Flut kam. (Seite 174)

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Der eitle und eingebildete, aber nicht sonderlich erfolgreiche junge Kunstkritiker Sebastian Zöllner beabsichtigt, eine Buchbiografie über den greisen Maler Manuel Kaminski zu schreiben, die er kurz nach dessen Tod veröffentlichen will, um von dem vermutlich für kurze Zeit neu auflebenden Interesse an dem Künstler zu profitieren. Zöllner versucht, sich das Leben und Sterben einer anderen Person zunutze zu machen, so wie er sich in der Wohnung einer Bekannten eingenistet hat. Aber der listige alte Mann bedient sich seinerseits des parasitären Journalisten, um der Aufsicht seiner Tochter zu entkommen und sich quer durch Deutschland an die See bringen zu lassen.

Dieses seltsame Spannungsverhältnis vom Biografen zu seinem lebenden Objekt, diese gegenseitige Manipulation hat mich interessiert. Außerdem wollte ich etwas über einen Maler machen und so haben sich beide Ideen verbunden. (Daniel Kehlmann)

„Ich und Kaminski“ ist ein Schelmenstück und eine witzige Realsatire auf den Kulturbetrieb, den Daniel Kehlmann als Jahrmarkt der Eitelkeiten und der Bedeutungshuberei darstellt. Obwohl Daniel Kehlmann den Protagonisten Sebastian Zöllner aus der Ich-Perspektive erzählen lässt, gelingt es ihm, dem Leser die peinliche Diskrepanz zwischen dessen Wahrnehmung bzw. Selbstüberschätzung und der Realität zu vermitteln. Das allein macht den Roman schon lesenswert. Dazu kommen aber noch der spiegelbildliche Plot, die lebendige Darstellung der gut beobachteten Charaktere und die Komik der Situationen, in die Zöllner und Kaminski geraten. „Ich und Kaminski“ ist eine leichte, vergnügliche und intelligente Lektüre.

Wolfgang Becker verfilmte den Roman von Daniel Kehlmann: „Ich und Kaminski“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Susann Pásztor - Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
Sterben. Tod. Das sind Tabuthemen. Susann Pásztor hat darüber einen Roman geschrieben. Obwohl es um ein düsteres Thema geht, ist "Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster" keine deprimierende Lektüre. Dezent hat Susann Pásztor auch Humor und Tragikomik eingebaut. Und sie betont die ermutigenden Aspekte.
Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster