Marcel Reich-Ranicki : Mein Leben
Inhaltsangabe
Kritik
Marcel Reich-Ranicki wurde am 2. Juni 1920 in Wloclawek an der Weichsel als drittes Kind des Polen David Reich und seiner deutschen Ehefrau Helene geboren. Beide waren Juden. David Reich hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine kleine Fabrik für Baumaterialien gegründet.
Die Katastrophe ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie hatte zwei Gründe: die große Wirtschaftskrise und meines Vaters Mentalität. Er war solide und anspruchslos, gütig und liebenswert. Nur hatte er leider den falschen Beruf gewählt, denn von kaufmännischen Fähigkeiten konnte bei ihm nicht die Rede sein: Er war ein Geschäftsmann und Unternehmer, dessen Geschäfte und Unternehmungen in der Regel wenig oder nichts einbrachten. Natürlich hätte er dies früher oder später einsehen sollen, er hätte sich nach einer anderen Tätigkeit umschauen müssen. Aber hierzu fehlte ihm jegliche Initiative. Fleiß und Energie gehörten nicht zu seinen Tugenden. Charakterschwäche und Passivität bestimmten auf unglückselige Weise seinen Lebensweg. (Seite 22f)
Als die Familie nach dem Bankrott des Vaters 1929 nach Berlin übersiedelte, wo Angehörige von Helene sie unterstützen wollten, sagte eine der Lehrerinnen an der deutschsprachigen Volksschule in Wloclawek beim Abschied zu Marcel: „Du fährst in das Land der Kultur.“ (Seite 25) – Aber dieses Land zeigte zunehmend düstere Facetten.
In Berlin kam Marcel im Alter von zehn Jahren aufs Gymnasium. Zunächst besuchte er das Werner von Siemens-Realgymnasium in Berlin-Schöneberg, dann das Fichte-Gymnasium in Wilmersdorf, wo er im Frühjahr 1938 die Reifeprüfung bestand. Studieren durfte er jedoch wegen seiner jüdischen Herkunft nicht. Er begann also eine kaufmännische Lehre bei der Exportfirma von Juan Casparius in Charlottenburg. Lange dauerte die Ausbildung nicht, denn am 28. Oktober 1938 wurde er festgenommen und nach Polen ausgewiesen.
Die Endlösung war noch nicht beschlossen, ja man kannte dieses Wort noch nicht. Aber zu den Willkürakten, die den Juden den Alltag zur Hölle machten, kamen sogleich systematische Aktionen der Behörden hinzu. Deutsche Bürokraten waren am Werk, fleißige Schreibtischtäter. Sie verfolgten mit anderen Mitteln die gleichen Ziele wie jene, die die Juden, wo immer sie sie fanden, überfielen, ausraubten und peinigten. Unentwegt gab es im Generalgouvernement Polen neue Gesetze und Verfügungen, neue Anordnungen und Verordnungen, Erlasse und Weisungen. Wozu alle diese Maßnahmen in Wirklichkeit dienen sollten, haben wir damals weder gewusst noch geahnt, und wir hätten es, hätte uns jemand hierüber informiert, mit Sicherheit nicht geglaubt. (Seite 199)
Kam einem Juden ein uniformierter Deutscher entgegen, dann hatte er ihm sofort Platz zu machen. Die Anordnung war unmissverständlich. Nicht geklärt war hingegen die Frage, wie sich ein Jude darüber hinaus angesichts eines Deutschen zu verhalten hatte: Sollte er ihm etwa den deutschen Gruß entbieten? Ich habe dies einmal nicht getan und wurde prompt von dem Soldaten, der nicht älter war als ich, geprügelt. Ein andermal habe ich, um der zu befürchtenden Züchtigung vorzubeugen, einen Soldaten sehr wohl gegrüßt […] Doch der junge Herrenmensch brüllte mich wütend an […] und schlug kräftig auf mich ein. (Seite 201)
Ab November 1940 pferchten die Deutschen mehr als 400 000 Juden hinter der 18 km langen und 3 m hohen Mauer des Warschauer Ghettos zusammen. Marcel Reich wurde dort von der jüdischen Kultusgemeinde („Judenrat“) als Übersetzer beschäftigt. Inmitten des Grauens – 50 000 Menschen starben an Hunger und Seuchen – ließen sich Marcel Reich und Teofila („Tosia“) Langnas (* 12. März 1919) am 22. Juli 1942, dem Tag, an dem die Deutschen mit der Räumung des Warschauer Ghettos anfingen, von einem Rabbi trauen.
[…] am 5. September [1942] gab es wieder eine an allen Mauern plakatierte Anordnung: Sämtliche noch im Ghetto lebenden Juden hatten sich am nächsten Tag um zehn Uhr morgens auf den Straßen eines genau bezeichneten Bezirks […] zu stellen: „zur Registrierung“. Man sollte Lebensmittel für zwei Tage mitbringen und Trinkgefäße. Die Wohnungen durften nicht verschlossen werden. Was jetzt stattfand, nannte man die „große Selektion“: 35 000 Juden, somit weniger als zehn Prozent der Bewohnerzahl des Ghettos vor Beginn der „Umsiedlung“, erhielten gelbe „Lebensnummern“, die auf der Brust zu tragen waren – es waren vorwiegend die „nützlichen“ Juden, diejenigen, die in den deutschen Betrieben arbeiteten oder im „Judenrat“. Tausende bekamen keine „Lebensnummern“, ließen sich aber von der angedrohten Todesstrafe nicht beirren: Sie hielten sich irgendwo im Ghetto verborgen. Alle anderen, es waren Zehntausende, wurden von der „Registrierung“, von der „großen Selektion“ direkt zu den Zügen nach Treblinka abgeführt […]
Tosia und ich hatten, da ich als Übersetzer noch gebraucht wurde, die begehrten „Lebensnummern“ erhalten […]
Meine Eltern hatten schon ihres Alters wegen – meine Mutter war 58 Jahre alt, mein Vater 62 – keine Chance, eine „Lebensnummer“ zu bekommen, und es fehlten ihnen Kraft und Lust, sich irgendwo zu verbergen. Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mussten. Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig. Sie war sorgfältig gekleidet: Sie trug einen hellen Regenmantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte. Ich wusste, dass ich sie zum letzten Mal sah […] (Seite 258ff)
Während Marcels Eltern in den Gaskammern von Treblinka umkamen, gelang ihm und Teofila am 3. Februar 1943 die Flucht aus dem Ghetto, und sie wurden im Juni von dem polnischen Schriftsetzer Bolek und dessen Frau Genia in einem Vorort Warschaus auf der rechten Seite der Weichsel versteckt. Sein neun Jahre älterer Bruder Alexander Herbert wurde am 4. November 1943 im Kriegsgefangenen- und Arbeitslager Poniatowa bei Lublin erschossen. Seiner Schwester Gerda und seinem Schwager Gerhard Böhm war es 1939 gelungen, nach London zu emigrieren.
Die sowjetischen Panzerspitzen erreichten am 30. Juli 1944 die Vororte von Warschau. Zwei Tage später erhoben sich polnische Widerstandskämpfer gegen die deutsche Besatzungsmacht. Die Rote Armee hielt sich zurück. Erst im September änderte die sowjetische Regierung ihre Haltung, aber da war es zu spät: Die Aufständischen konnten sich nicht mehr halten und kapitulierten am 2. Oktober. – 160 000 Polen und 2000 Deutsche waren beim Warschauer Aufstand ums Leben gekommen.
Marcel Reich meldete sich bei der polnischen Armee zum Dienst, begann, in der Postzensur zu arbeiten und brachte es am 1. Juli 1945 zum Leiter der Abteilung III des Hauptamtes für Zensur in Warschau. Er trat auch der „Polnischen Arbeiterpartei“ bei. 1946 arbeitete er vorübergehend bei der Polnischen Militärmission in Berlin, dann wurde er in Warschau im Außenministerium und im Auslandsnachrichtendienst beschäftigt. Als polnischer Vizekonsul kam er 1948 nach London, wo er sich statt Reich Ranicki nannte. Am 30. Dezember 1948 wurde sein Sohn Andrzej Alexander geboren. Ein Jahr später bat er um seine Abberufung aus London und kehrte nach Warschau zurück, wo er am 25. Januar entlassen und einige Wochen später wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der Partei ausgeschlossen und zwei Wochen inhaftiert wurde.
Danach kam Marcel Reich-Ranicki für einige Zeit beim Verlag des Verteidigungsministeriums als Lektor für deutsche Literatur unter, und von 1951 an lebte er als freier Publizist in Warschau. Bereits als Schüler hatte er leidenschaftlich gern gelesen und einige Theateraufführungen erlebt, aber jetzt machte er die deutsche Literatur zum Thema seines Lebens. Seine Buchkritiken und Essays erschienen in verschiedenen polnischen Zeitungen – mit Ausnahme in den Jahren 1953/54, als die Regierung ohne Begründung ein Publikationsverbot gegen ihn verhängte.
Von einer Studienreise in die Bundesrepublik Deutschland kehrte Marcel Reich-Ranicki im Sommer 1958 nicht mehr nach Polen zurück. Er und Teofila siedelten sich mit ihrem Sohn in Frankfurt am Main an. Heinrich Böll und Siegfried Lenz halfen Marcel Reich-Ranicki, hier Fuß zu fassen, und Hans Werner Richter lud ihn zur Teilnahme an einer Sitzung der „Gruppe 47“ ein. Weil ihn „Die Zeit“ am 1. Januar 1960 als Literaturkritiker einstellte, zog er nach Hamburg. Vierzehn Jahre lang schrieb er für die anspruchsvolle Wochenzeitung und eroberte sich in dieser Zeit den Ruf eines „Großkritikers“. Nebenbei verbrachte Marcel Reich-Ranicki 1968 und 1969 jeweils einige Zeit als Gastprofessor in den USA. Von 1971 bis 1975 war er ständiger Gastprofessor für neue deutsche Literatur in Stockholm und Uppsala. Vortragsreisen führten ihn 1972 bis ans andere Ende der Welt, nach Australien und Neuseeland.
1973 kehrte Marcel Reich-Ranicki nach Frankfurt am Main zurück, wo er die Leitung der „Redaktion für Literatur und literarisches Leben“ der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) übernahm. Im selben Jahr wurde er Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln und im Jahr darauf Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1979 hielt er sogar in China Vorträge.
Als Marcel Reich-Ranicki sich 1988 aus Altersgründen aus der Leitung des Literaturteils der FAZ zurückziehen musste und nur noch die wöchentliche „Frankfurter Anthologie“ redigierte, fand er in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ ein neues Wirkungsfeld. Der temperamentvolle Medienstar bewies, dass Literaturkritik unterhaltsam sein kann. Mit außergewöhnlichem Erfolg wurden in der Zeit vom 25. März 1988 bis 14. Dezember 2001 siebenundsiebzig Folgen des „Literarischen Quartetts“ ausgestrahlt. Zwischendurch ging er 1990 als Gastprofessor nach Düsseldorf und ein Jahr später nach Karlsruhe. 1999 veröffentlichte er seine Autobiografie „Mein Leben“.
Weniger erfolgreich als mit „Das Literarische Quartett“ war Marcel Reich-Ranicki 2002 mit seiner Sendung „Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen“.
Innerhalb von vierzig Jahren – von 1960 bis 2000 – hat Marcel Reich-Ranicki angeblich achtzigtausend Bücher rezensiert. (Willi Winkler, Süddeutsche Zeitung, 2. Juni 2000) Seit Friedrich Nicolai (1733 – 1811) hat niemand so viel Einfluss auf den deutschen Buchmarkt ausgeübt wie der „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, der mehrmals betonte, dass er nicht die Autoren, sondern die Leser beeinflussen wolle. Auf das Verhältnis von Schriftstellern zu Literaturkritikern angesprochen, soll er einmal darauf hingewiesen haben, dass die Vögel nichts von Ornithologie verstehen, aber auch noch kein Ornithologe einem Vogel das Fliegen beibringen konnte.
Nachdem er bereits 2001 in einem „Spiegel“-Gespräch einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ entwickelt hatte, gab Marcel Reich-Ranicki 2002 im Insel-Verlag unter dem Titel „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ das erste von bislang drei Buchpaketen heraus.
Wenn es sich nicht um die Darstellung eines realen Lebens handeln würde, wäre das Buch ein guter historischer Roman. Beim Lesen der rhythmischen Sprache glaubt man, Marcel Reich-Ranicki sprechen zu hören. Literatur ist das aber auch auf Grund subtiler Beobachtungen, origineller Veranschaulichungen und einer klugen Führung des Lesers durch das Geschehen. Hier stört es auch nicht, wenn Marcel Reich-Ranicki egozentrisch wirkt, denn es geht ja um sein Leben. Nicht nur literarisch, sondern auch menschlich beeindruckt mich die Autobiografie: Marcel Reich-Ranicki berichtet selbst über die Ermordung seiner Eltern durch die Nationalsozialisten und seine eigene Bedrohung im Warschauer Ghetto ohne Anklage oder Selbstmitleid.
[Das Buch „Mein Leben“] ergreift durch die tonlose Stille des Entsetzens, durch subtile Andeutungen, polemisches Verschweigen, durch Lakonik und Zärtlichkeit […] Nur herzlose Leser werden sich diesem Drama in Prosa entziehen können. (Mathias Schreiber und Rainer Traub in „Der Spiegel“)
Das Gesagte gilt allerdings nur für die ersten drei Teile von Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben“, in denen es um die Jahre von 1920 bis 1958 geht. Weniger gelungen finde ich die beiden abschließenden Teile über die Zeit von 1958 bis 1999, denn die Episoden zahlreicher Begegnungen mit Autoren, die er auf diesen gut 150 Seiten schildert, stehen mehr oder weniger zusammenhanglos nebeneinander und ergeben keine „Geschichte“.
„Mein Leben“ hielt sich monatelang auf dem Spitzenplatz der Bestsellerliste: Innerhalb eines Jahres wurden eine halbe Million Exemplare verkauft.
Unter der Regie von Dror Zahavi wurde die Autobiografie verfilmt: „Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben“.
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Inhaltsangabe und Kommentar: © Dieter Wunderlich 2002 – 2009
Marcel Reich-Ranicki (Kurzbiografie)
Dror Zahavi: Marcel Reich-Ranicki. Mein Leben
Marcel Reich-Ranicki: Kanon
Das literarische Quartett