Martin Suter : Ein perfekter Freund
Inhaltsangabe
Kritik
Als Fabio Rossi im Krankenhaus aufwacht, kann er sich an nichts mehr erinnern. Er weiß weder, wer ihm die schwere Kopfverletzung zugefügt hat, deretwegen er hier ist, noch kommt ihm die junge Frau bekannt vor, die sich über sein Bett beugt und als seine Freundin Marlen zu erkennen gibt, mit der er angeblich seit fünf Wochen zusammen ist. Dabei hatte er doch eigentlich erwartet, dass Norina ihn besuchen würde. Aber – soweit kann er es rekonstruieren – Norina hatte ja mit ihm Schluss gemacht.
Der dreiunddreißigjährige Journalist, der für eine Sonntagszeitung arbeitet, will nun herausfinden, was in der Zeit seines Gedächtnisverlusts geschah. Er ist am 21. Juni in die neurochirurgische Klinik eingeliefert worden, aber er weiß auch nichts von Vorkommnissen, die sich in den fünfzig Tagen zuvor ereignet haben. (Die Amnesie betrifft nach seinen eigenen späteren Angaben den Zeitraum vom 8. Mai bis 23. Juni.) Von Kollegen und Bekannten wird ihm vorgehalten, dass er sich schon in den letzten vier Wochen davor eigenartig benommen habe. Seine letzte „frische und lebhafte“ Erinnerung hat er an ein Gespräch mit dem Lokführer Erwin Stoll. Er arbeitete an einer Reportage über Lokomotivführer, denen sich Selbstmörder vor den Zug geworfen hatten.
Am 27. April wurde der Lebensmittelchemiker Dr. Barth von einem Intercity überfahren. Den Lokführer Gubler, der den Mann auf dem Gleis noch sah, den Zug aber nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, interviewte Rossi am 14. Mai; das findet er nach Abhören eines seiner Tonbänder heraus.
Am 16. und 18. Mai hatte er ein Gespräch mit der Witwe des Verunglückten. Dr. Andreas Barth war Ressortleiter bei LABAG, einem chemischen Privatlabor, und befasste sich mit der Entwicklung neuer Labormethoden. Sein wichtigstes Projekt war, ein Verfahren zu optimieren, mit dem in Lebensmitteln geringste Mengen von Prionen festgestellt werden können. (Prionen sind jene Eiweiße, die Auslöser von BSE und dessen menschlicher Form, der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit sind.) Es war ihm bereits gelungen, Prionen in Bratwürsten nachzuweisen, die er im Laborversuch in die Wurstmasse injiziert hatte. Bei anderen Lebensmitteln war er noch in den Testphase, auch zum Beispiel bei Milch, Milchpulver und Milchfetten, die unter anderem zur Produktion von Schokolade verwendet werden. Aus Dr. Barths Aufzeichnungen geht hervor, dass er einen Schokoriegel des Nahrungsmittelkonzerns LEMIEUX prionenpositiv getestet hatte und dies der Geschäftsleitung mitteilte – unvorsichtigerweise. Bei LEMIEUX handelt es sich um einen der größten Schokoladenproduzenten der Welt, auch für Industrieschokolade.
Jacqueline Barth kann sich nicht vorstellen, welchen Grund ihr Mann gehabt haben sollte, sich umzubringen. Sie gibt zu, wegen seines Suizids manchmal „wütend und verletzt“ zu sein. So eine „Rücksichtslosigkeit“ hätte sie bei ihm nicht vermutet. Außerdem könne sie ihren gewohnten Lebensstandard jetzt nicht mehr aufrechterhalten und müsse wohl aus der großen Wohnung ausziehen. – Soweit kann es mit den Einschränkungen aber nicht her sein: Als Rossi sie nach seinem Krankenhausaufenthalt zur Verifizierung einiger Sachbestände noch einmal befragen will (sie hatte ihm nämlich seinerzeit Unterlagen ihres Mannes übergeben), muss er dazu von der Schweiz nach Amalfi reisen, wo sie in einem luxuriösen Hotel residiert, sich elegant kleidet und um Jahre jünger aussieht als Wochen zuvor. Sie ist auch nicht sehr hilfreich bei der Aufklärung der noch anstehenden Fragen bezüglich der wohl zur Veröffentlichung in der Presse bestimmten inkriminierenden Dokumente ihres Mannes. Die Frage Rossis, ob sich ihr Mann das Leben genommen haben könnte, damit nicht herauskommt, dass er für die Nichtveröffentlichung seiner Entdeckung Geld angenommen hat, verneint sie. Die Vorhaltung, dass sie ihren Wohlstand mit dem Geld bezahlt, das ihrem Mann das Leben gekostet hat, weist sie zurück: „Mein Mann hat mir dieses Leben nach seinem Tod ermöglicht. Falls er dafür seine Seele verkauft hat, bin ich die Letzte, die sich darüber moralisch zu entrüsten hat.“ (Seite 243)
Bei einem Besuch in der Redaktion des SONNTAG-MORGEN zeigt man Rossi die von ihm am 16. Juni schriftlich niedergelegte Kündigung. (Seine Stelle ist inzwischen mit einem anderen Kollegen besetzt.) Daran kann er sich auch nicht erinnern. Um eine abschließende Abrechnung vornehmen zu können, bittet der Buchhalter um Erläuterungen zu einer Taxirechnung für eine Fahrt am 22. Mai zu POLVOLAT, einer Firma, die darauf spezialisiert ist, diverse Fettpulver, Pulver für Kälbermast, Säuglingsnahrung und Schokoladenpulver (!) herzustellen. Rossi muss also schon einmal dort gewesen sein, und die Fabrik möchte er jetzt gerne unter dem neuen Aspekt seiner Vermutungen über LABAG besichtigen. Er meldet sich unter einem anderen Namen zu einer Werksführung an. Zunächst wird er noch bereitwillig in den Fabrikräumen herumgeführt, und man erklärt ihm verschiedene Arbeitsabläufe. Dabei beobachtet er, wie gerade eine Maschine für ein neues Produkt umgerüstet wird. Wo vorher zum Beispiel Kälbermilch präpariert wurde, soll jetzt Säuglingsnahrung produziert werden. Die Geräte werden zu diesem Zweck mit Dampf gereinigt. Rossi fragt sich, ob diese Art der Reinigung ausreicht, wenn später Lebensmittel für den menschlichen Verzehr darin aufbereitet werden sollen, wo doch Prionen gegen die üblichen Sterilisationsmethoden resistent sind. Als der Journalist fragt, ob in diesen Geräten auch Schokoladenpulver hergestellt wird, endet die freundliche Behandlung. Er wird von zwei Männern am Arm gepackt und unsanft vor das Fabrikgelände geführt.
Nicht nur bei seinen Ermittlungen im Hinblick auf seine journalistische Tätigkeit will Fabio Rossi sich Klarheit verschaffen, auch im privaten Bereich hat er noch einige Fragen zu klären. Seine derzeitige Situation empfindet er folgendermaßen:
Orientierungslos. Betrogen. Bestohlen. Verraten. Fremd. Heimatlos. Allein. Im Stich gelassen. Ausgestoßen. (Seite 106)
Norina Kessler war die Frau, die er sich am Krankenbett gewünscht hätte. Sie hatten sich bei einem gemeinsamen Bekannten kennengelernt, zuviel getrunken, und nach dem „ausgeuferten One-Night-Stand“ hatte sich eine feste Bindung ergeben. Ein halbes Jahr später war er zu Norina gezogen. Es war keine leidenschaftliche Beziehung:
Aber etwas mehr als üblich war es schon gewesen. Und sie hatten darauf aufgepasst. (Seite 58)
Fabio versucht seit seinem Krankenhausaufenthalt, Verbindung mit Norina aufzunehmen, aber sie will nicht mit ihm sprechen. Später äußert sie sich über den Grund der Trennung. Sie sagt ihm, dass seine Wesensveränderung zu einem Zeitpunkt eingetreten sei, wo er mit seinem früheren Freund Fredi, mit dem er seit seiner Schulzeit keinen Kontakt mehr hatte, wieder Verbindung aufgenommen habe. Fredi scheine einen schlechten Einfluss auf Fabio gehabt zu haben, und außerdem sei da ja auch noch Marlen gewesen. Darüber hinaus habe er sie angelogen: Angeblich sei er auf Reportage am Genfersee gewesen, wurde aber mit Marlen in einem Café am Ort gesehen. Die anschließenden Streitereien und der Vertrauensverlust hätten dazu geführt, dass sie ihn hinauswarf.
Vom Krankenhaus abgeholt hat ihn Marlen. Sie ist Assistentin in der Presseabteilung von LEMIEUX. Bei einem Pressefrühstück dieser Firma lernte Fabio sie kennen. Eigentlich war die Einladung an seinen Kollegen Lucas Jäger gerichtet (den sie von früher kannte, weil sie mal bei der gleichen Zeitung gearbeitet hatten), aber anscheinend hatte sich Fabio so für die Veranstaltung interessiert, dass er selber teilnahm. Am Abend lud er Marlen in ein Lokal zum Essen ein und anschließend gingen sie zu ihr. Am Tag darauf wollte Marlen bei sich zu Hause für sie beide ein Abendessen kochen, aber dazu kam es nicht; sie gingen direkt ins Bett. Der für den kommenden Abend vereinbarte Kinobesuch fand ebenfalls nicht statt. Marlen erzählt ihm, dass sie ihn in dieser Nacht fragte, ob er bei ihr bleiben wolle. Am nächsten Tag kam er mit einer Tasche. Dass er eine Beziehung hatte, erwähnte er nicht. Den Namen Norina hörte sie zum ersten Mal von ihm im Krankenhaus. Marlen sagt ihm, sie habe für ihn ein Gespräch mit Dr. Mark vermittelt, dem leitenden Lebensmittelingenieur ihres Arbeitgebers, der ihn über die Produktvielfalt der Firma informieren sollte. Nach dem Gespräch mit Dr. Mark habe Fabio weitere Verabredungen mit ihr abgesagt, angeblich wegen zu viel Arbeit, und sie dachte schon, es sei jetzt vorbei. Sie hätten sich nur noch sporadisch getroffen und er sei auch nicht mehr über Nacht geblieben. Das war wohl auf den intensiven Kontakt mit Fredi zurückzuführen. Als Fabio einwendet, den habe er schon seit Jahren nicht mehr gesehen, wirft sie ein, dass die beiden zu dem Zeitpunkt die „dicksten Freunde“ waren.
Um herauszufinden, was es mit Marlens Andeutungen bezüglich seiner Beziehung zu Fredi auf sich hat, vereinbart er mit seinem früheren Schulfreund ein Treffen. Fredi Keller hatte das gleiche Gymnasium wie Fabio besucht. Aus der Zeit, als sie zusammen in der Fußballmannschaft spielten, hat Fabio ihn als großen, kräftigen Jungen in Erinnerung. Von der sportlichen Figur ist nichts mehr zu merken;
Fredi hat bestimmt dreißig Kilo zugenommen, und der teure Anzug, den er trägt, passt zwar zu seinem großtuerischen Auftreten, aber nicht zu seinem uneleganten Benehmen. Wie sie sich denn nach zehn Jahren getroffen hätten, will Fabio wissen. Rein zufällig, sei es gewesen; er, Fredi hatte mit seinem Motorboot einen Schaden und musste deshalb in einer Badebucht landen. In dem Restaurant dort habe er Fabio mit einer Schwarzhaarigen, also Norina, gesehen. Ein paar Tage später rief Fabio ihn an, und ab da trafen sie sich öfters. Sie redeten über Dinge, die Fabio früher nie interessiert hatten. Es störte ihn jetzt nicht mehr, wenn sie sich über Geld – und zwar nicht übers Verdienen, sondern übers Ausgeben – unterhielten. Auch Essen, Trinken, Wohnen, Reisen, teure Dinge, Frauen seien ein Thema gewesen. Fredi sagte ihm seinerzeit, es käme ihm vor, als hätte Fabio die Nase voll von seiner Welt und suche jemanden, der ihm eine andere zeigen würde.
„Und fand dich?“ Die Frage musste ironisch geklungen haben, denn Fredis Antwort fiel etwas gehässig aus: „Als wir uns wiedersahen, warst du ein dreiunddreißigjähriger Spießer.“
[…] „Und danach, war ich da kein Spießer mehr?“
„Du warst auf dem Weg der Besserung.“ (Seite 98)
Bei den Bootsausflügen und den „kulinarischen Höhenflügen in den Fresstempeln“, die sie miteinander unternahmen, hatte Fabio manchmal Marlen dabei. Und Norina nicht? „Zum Glück nie“, antwortete Fredi.
Nach diesem Gespräch war sich Fabio „wieder ein Stück fremder geworden“.
„Ich taste mich wie ein Blinder durch die Finsternis meines Gedächtnisses“, sagte er [Fabio]. „Und keiner der Sehenden hilft mir, mich zurechtzufinden. Kannst du mir erklären, warum?“ (Seite 107)
Die Angesprochene ist Sarah Mathey, die Redaktionssekretärin, zu der Fabio bisher einen guten Draht hatte, und die er immer als zuverlässig und aufrichtig erlebte. Wenn sie ehrlich sein soll, meint sie, könne sie ihm nur folgendes vorhalten:
„Dem Fabio, an den du dich erinnerst, hätten alle geholfen. Aber der, den du vergessen hast, war ein ziemliches Arschloch – entschuldige den Ausdruck.“
[…] „Der vergessene Fabio kam nach der Arbeit nicht noch auf ein Glas mit den Kollegen. Er war im Bootsclub verabredet […]. Er kam nur noch in die Redaktion, wenn es absolut nötig war, und ließ uns seine Herablassung spüren. Er brauchte Wochen für eine mittelmäßige Geschichte über Lokführer, wollte jedoch gefeiert werden wie ein großer Star. Er sprang nie mehr ein, wenn Not am Mann war, und versteckte sich hinter einem Projekt, von dem niemand mehr wusste, als dass es eine ‚ganz große Sache‘ sei.“ (Seite 107)
Fabio erkundigt sich, ob sie wisse, was die „große Sache“ war. Keiner wisse es, behauptet sie, der Chefredakteur nicht und sein Kollege Lucas Jäger, dem er nie etwas verheimlichte, auch nicht. Ob Sarah glaube, dass es die „große Sache“ überhaupt gab? Kann schon sein, aber dann hat sie sich wahrscheinlich zerschlagen, in Luft aufgelöst. Auf jeden Fall hatte sie den Eindruck, Fabio habe am Anfang daran geglaubt. Das sei so gegen Ende der Lokführergeschichte gewesen, so Mitte Mai, und sie dachte, die neue Sache hänge damit zusammen.
Seinen fast gleichaltrigen Freund und Kollegen Lucas Jäger hatte Fabio vor zehn Jahren in der Journalistenschule kennen gelernt. Nachdem Fabio sein Germanistikstudium abgebrochen hatte, nahm er ein Angebot als Reporter einer großen Tageszeitung an. Lucas war erst bei einer Lokalzeitung tätig gewesen. Von dort wechselte er vier Jahre später auf Empfehlung Fabios zum neu gegründeten SONNTAG-MORGEN.
Lucas tut sich beim Formulieren der Texte nicht so leicht, aber das gleicht er mit Fleiß aus. Er gilt als zuverlässiger und hartnäckiger Rechercheur, während Fabio mehr für die stilistisch ausgefeilten Reportagen zuständig war. Tisch an Tisch saßen sie im Großraumbüro. Lucas bewunderte an Fabio alles, was ihm selber fehlte: „Sein Schreibtalent, seine Lockerheit, sein Selbstvertrauen, seine Freundin.“ Manchmal wurde er von Fabio ausgenützt, wenn er für ihn recherchierte und dieser ihn dann in dem Artikel namentlich nicht erwähnte. Er schätzte sich jedoch glücklich, dass er in der Zeit, während Norina und Fabio zusammen waren, sozusagen als Hausfreund und Helfer galt.
Fabio fragt seinen Freund, ob er wisse, warum Norina ihn nicht zurückrufe. Lucas meint, sie wolle wohl nicht mit ihm sprechen und er solle ihr noch Zeit lassen. Fabio bedrängt Lucas, ihm über die ihm fehlende Zeit Auskunft zu geben. Er würde sich bedingungslos auf seine Aussage verlassen. Lucas ist nicht sehr entgegenkommend und hält ihm vor, dass er in den fraglichen Wochen nicht viel von ihm gesehen habe. Fabio sei meistens mit anderen Leuten zusammen gewesen, die er, Lucas, nicht gekannt habe. Da wisse Marlen besser Bescheid.
Von einem Laden aus, der gegenüber der Wohnung von Norina liegt, in dem Fabio öfter einkauft, sieht er diese aus der Haustür kommen; ihr folgt Lucas, der seinen Arm um sie legt.
Fabio ist gereizt, als Marlen nach Hause kommt; schon seit längerer Zeit fühlt er sich mit ihr und in der Wohnung nicht mehr wohl. Außerdem ist er dahinter gekommen, dass in einer ihrer Schubladen sein Handheld versteckt war, das er vermisst hatte. Marlen ist es ebenfalls leid, dass er nichts mit ihr unternimmt und lässt ihn das auch spüren. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis er auszieht.
Um sich zu vergewissern, ob er in der Zeit seines Blackouts wirklich bei der Geburtstagsfeier von Norinas Vater war, wie er meint, sich erinnern zu können, passt er Norina ab. Sie ist diesmal etwas zugänglicher, und Fabio wird von seinen Gefühlen überwältigt, sodass er ihr gesteht, wie notwendig er sie brauche und wie sehr er sie liebe. Beleidigt fügt er allerdings an, dass er über ihr Verhältnis mit Lucas Bescheid wisse.
Marlen ging allein aus und kommt erst morgens um fünf mit einer Schnapsfahne nach Hause. Fabio trank allerdings auch Alkohol, was er eigentlich nicht sollte. Er wirft ihr vor, dass sie mit Lucas während seines Krankenhausaufenthalts geschlechtlich verkehrt habe und Lucas hier in der Wohnung ein und aus gehe. Er behauptet weiterhin, dass Lucas ihm „seine Story“ aus dem Schreibtisch geklaut und sie ihm dabei geholfen habe. Mit dem wiedergefundenen Handheld wedelt er vor ihrer Nase herum. Später erklärt sie ihm mit verheulten Augen:
„Lucas hat es für dich getan.“
„Was?“
„Du hattest dich in eine Sache verbissen, die dir geschadet hätte.“
„Das hat er gesagt?“
Marlen nickte.
„Und um mich vor mir zu schützen, hat er meine Unterlagen geklaut und meine Daten und Termine und Bänder gelöscht?“. […]
„Er hat gesagt, nicht viele Leute hätten die Chance, einen Fehler aus ihrer Biografie zu löschen. (Seite 182)
Von Sarah hatte er zwar auch schon gehört, dass Lucas loyal zu ihm stehe, trotzdem unterstellt er seinem Rivalen, als den er ihn inzwischen sieht, die Unterlagen gestohlen zu haben, um die Reportage selbst zu bringen. Dass er das nicht schon getan habe, liege wahrscheinlich daran, dass ihm noch ein paar Fakten fehlen oder er noch den richtigen Zeitpunkt abwarten möchte.
Am nächsten Morgen verlässt Fabio endgültig Marlens Wohnung.
Nun fehlt ihm eine Bleibe. Fredi könnte ihm möglicherweise bei der Suche behilflich sein; immerhin handelt es sich um einen Immobilienmakler. Durch dessen Vermittlung kann Fabio unverzüglich ein kleines, möbliertes Zimmer in einem Appartementhaus beziehen, das Fredi gehört, und in dem auch die Prostituierten der umliegenden Bars ihrem Beruf nachgehen.
Bei Dr. Mark von LEMIEUX hat sich Fabio noch einmal einen Termin geben lassen, um sich nach eventuellen Unterlagen von Dr. Barth zu erkundigen. Als er dem Leiter der Produktentwicklung gegenübertritt, ist Fabio verblüfft, weil er es mit einer anderen Person zu tun hat als beim letzten Besuch. Dieser Mann leugnet auch, jemals ein Gespräch mit Rossi gehabt zu haben und bestreitet, irgendetwas über die Prionenforschung Dr. Barths zu wissen.
Durch Zufall lernt Fabio eine Chemielaborantin kennen, die für Dr. Barth gearbeitet hatte. Bianca erzählt ihm, dass dieser nächtelang mit großem Eifer an dem Nachweisverfahren für Prionen forschte, aber plötzlich damit aufhörte. Sie vermutete, dass Dr. Barth wusste, dass ihm der Forschungsauftrag entzogen werden sollte – ein Nachfolger stand schon fest –, und er sich gezwungen sah, schnellstmöglich eine Lösung zu finden. Als ihm das nicht gelang, resignierte er wohl. Rossi stiftet Bianca an, ihm Unterlagen aus dem Labor zu beschaffen; er könne sich nämlich vorstellen, dass Dr. Barth doch eine Lösung fand. Aber weshalb hätte er sich dann umbringen sollen? Das leuchtet Bianca nicht ein, denn mit der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse wäre er doch ein gemachter Mann gewesen.
Die Zweifel an der Loyalität Lucas‘ treiben Fabio um. Er will ein Gespräch mit ihm. In der Redaktion trifft er ihn nicht an. Herr Jäger sei bei einem Außentermin im Hotel Europa, erfährt er. Dorthin geht er und sieht Lucas mit jemandem zusammensitzen: mit dem falschen Dr. Mark. Lucas hat also konspirative Treffen mit den Leuten, die verhindern wollten, dass die Öffentlichkeit von Dr. Barths Entdeckung unterrichtet wird, so Fabios Schlussfolgerung.
Und Fabio hat noch einen gravierenderen Verdacht: Er und Lucas waren manchmal in einem Gartenhäuschen in einer Waldsiedlung, das Lucas‘ Großonkel gehört. Dort hatten sie schon einmal zusammen gearbeitet und es gab eine Schlafmöglichkeit. Er war auch schon einmal spätnachts mit Norina dort gewesem. Fabio hat sich inzwischen bei den umliegenden Schrebergärtner umgehört und bestätigt bekommen, dass er sich am 21. Juni mit Lucas in dem Holzhaus aufhielt. Herr Jäger sei dort in letzter Zeit im übrigen öfter mit dem Mädchen gesehen worden, mit dem Herr Rossi früher herkam, erzählt ihm eine freundliche Nachbarin. Sie hörte auch, wie die beiden Männer im Haus ziemlich laut stritten. Das war nachmittags um drei Uhr. Kurz nach vier wurde Fabio mit einer Kopfverletzung von einer Streife aufgelesen. Fabio kann sich nicht erinnern, worüber sie sich gestritten hatten. Wegen Norina sicher nicht; zu der Zeit war er schon mit Marlen zusammen. Sie waren vermutlich zum Arbeiten hergekommen und dabei in Streit geraten, weshalb auch immer. Lucas hatte ihm vermutlich mit einem harten Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Aber Fabio wurde nicht auf dem Grundstück gefunden, sondern ein Stück entfernt davon bei der Endhaltestelle der Straßenbahn. Hatte Lucas ihn bewusstlos liegen lassen und war Fabio dann verstört umhergeirrt?
Wieder einmal bittet Fabio Norina um ein Treffen. Diesmal sagt sie gleich zu. Sie ermuntert ihn, ihr seine Geschichte, soweit er sie in die Reihe kriegt, zu erzählen. Er verrät ihr auch, dass er Lucas in der Hotel-Lobby bei einem heimlichen Treffen ertappte. Norina nimmt Lucas in Schutz: Nie habe er ein schlechtes Wort über Fabio gesagt. Immer habe er um Verständnis für ihn geworben und nach Erklärungen und Entschuldigungen gesucht.
„Du machst dir keine Vorstellung, was für einen perfekten Freund du in Lucas hast. Es war nicht zum Aushalten.“
Fabio konnte es sich nicht verkneifen: „Du scheinst es aber doch ganz gut ausgehalten zu haben.“
Norina blieb ernst. „Erst als er mit mir ins Bett ging. Dann war er kein perfekter Freund mehr.“
Fabio lachte auf. „Sag bloß, du hast in verführt, damit ich einen perfekten Freund verliere.“
Sie sah aus, als hätte sie diese Möglichkeit auch schon in Erwägung gezogen. „Vielleicht unbewusst.“ (Seite 281)
Eher beiläufig erwähnt Norina, dass sie sich gerade von Lucas getrennt habe. Deshalb sei sie einverstanden gewesen, Fabio zu treffen, damit er es von ihr erfahre; und auch, dass es nichts mit ihm zu tun habe.
„Der Grund, dass ich nicht mehr mit dir zusammen bin, ist nicht Lucas. Der Grund bist du.“ (Seite 282)
Am nächsten Tag ist Lucas Jäger tot. Man geht von einem Selbstmord aus, denn er wurde aus dem Kraftwerk gefischt und war vermutlich von einer Brücke gesprungen.
In diesem Zusammenhang befragt Polizeiwachtmeister Tanner, der schon bei Rossis Unfall ermittelte, Fabio. Bei dieser Gelegenheit verrät er ihm, dass in seinem Fall neue Erkenntnisse vorlägen. Der Name Lucas Jäger sei bei der Überprüfung von Fehlalarmmeldungen aufgetaucht. Am 21. Juni wurde um kurz nach drei Uhr ein Krankenwagen in die Gartengenossenschaft Waldfrieden gerufen, und zwar von Lucas Jäger. Er war dem Krankenwagen entgegengelaufen, erklärte aber dann, es handle sich um einen Irrtum.
Tanner rekonstruiert: Jäger und Rossi gerieten in Streit und wurden handgreiflich. Rossi stürzte unglücklich oder Jäger schlug ihm etwas über den Schädel. Rossi war ohnmächtig, und Jäger rief einen Krankenwagen.
[…] „Jeder von Ihnen hatte ein Handy dabei nehme ich an.“
„Man hat dort keinen Empfang. Man muss ein Stück weit Richtung Friedhof gehen.“
„Sehen Sie, das ist ein wertvoller Hinweis. So macht es Sinn: Er [Jäger] geht bis dorthin, wo er Empfang hat, unterdessen erwachen Sie und hauen ab. Als er zurückkommt, sind Sie verschwunden. Er schickt den Krankenwagen weg. Sie irren bei der Endstation Wiesenhalde herum […] (Seite 294ff)
Aber warum hat Jäger das nicht gesagt? Fabio meint, dass er vielleicht den richtigen Zeitpunkt dafür verpasste und es später, als Lucas von Fabios Gedächtnisausfall erfuhr, für sich behielt.
Als er von Lucas‘ Beerdigung zurückkommt, findet er eine E-Mail von Bianca vor. Sie hat keine Unterlagen von Dr. Barth gefunden; es sieht so aus, als hätte er alle seine Daten gelöscht.
Fabio überlegt sich, dass es noch andere Spezialisten auf dem Gebiet der Prionenforschung in Lebensmitteln geben müsse, die vielleicht von Dr. Barths Bemühungen gehört haben. Er sucht sich Adressen solcher Wissenschaftler heraus und schreibt ihnen E-Mails mit der Bitte, ihm bei der „Rekonstruktion der Forschungsarbeit von Dr. Barth“ behiflich zu sein, falls sie etwas darüber wüssten.
Als bei seinem im Hausflur abgestellten Fahrrad die Reifen zerstochen und in die Schlitze Schokoriegel gesteckt wurden, glaubt Fabio nicht an einen Bösebubenstreich.
Norina ist ziemlich aufgelöst nach der Beerdigung und sucht Fabio in seiner schäbigen Wohnung auf. Wieder kommt sie darauf zu sprechen, dass Lucas immer große Stücke auf Fabio hielt. Sie habe ihn ausdrücklich gefragt, ob er Fabios Aufzeichnungen an sich nahm. Er leugnete es vehement; Fabio irre sich, mehr könne er darüber nicht sagen. Auf Fabios Verletzung habe er im übrigen mit großem Entsetzen reagiert. Norina äußert die Vermutung, dass Lucas womöglich gar nicht freiwillig von der Brücke gesprungen sei. Wollte ihn jemand umbringen, weil er nicht bereit war, die Unterlagen herauszugeben und sich kaufen zu lassen? Die Gerichtsmedizin werde die Angelegenheit nicht weiter verfolgen, vermutet sie, denn die Polizei hat ja ein Selbstmordmotiv. Nämlich Norina. Sie fängt zu weinen an. Der Abend endet in tröstenden Umarmungen; sie schlafen miteinander.
Tanner ruft bei Fabio an. In dem Gartenhaus wurden Spuren gesichert. An einem Schaufelstiel fand man Blut und Haare. Rossi soll im Polizeilabor Blut- und Haarproben als Referenzmaterial abgeben.
Anschließend geht er zu Norina, die ihn darum bat, mit ihr die Sachen von Lucas durchzusehen, die dieser in ihrer Wohnung hatte. Sie finden aber nichts Relevantes. Schade, denn dann könnten sie damit zur Polizei gehen, und Norinas Gewissensbisse wegen des Selbstmords wären unnötig.
Inzwischen sind Reaktionen auf Fabios E-Mail-Umfrage eingegangen. Eine Anwort kommt von einem Duliman Boswell, der im Auftrag von Professor Weider um Kontaktaufnahme bittet. Fabio wartet in dem vereinbarten Lokal. Es kommt ein Mann herein: der falsche Dr. Mark, der sich als Duliman Boswell vorstellt. Er geht auf seinen Auftritt bei der letzten Begegnung mit Fabio bei LEMIEUX ein. Die „kleine Vorsichtsmaßnahme“ bittet er zu entschuldigen. (Boswell ist auch kein Mitarbeiter von Professor Weider; vielmehr ist Professor Weider im weitesten Sinn ein Mitarbeiter von LEMIEUX.) Boswell bedauert den „nicht nachvollziehbaren Schritt“ Dr. Barths. Dabei hätte der Mann ausgesorgt haben können. Ob LEMIEUX ihn gekauft habe, fragt Rossi. Nicht ihn persönlich; seine Erfindung sei die Sensation gewesen. Sie sei nur noch nicht ausgereift gewesen, aber in Kürze werde die Forschungsabteilung so weit sein. Dass Dr. Barth sie nicht selbst fertig entwickelte, hing unter anderem mit seinem Arbeitgeber zusammen. Durch die Intervention von LEMIEUX wäre für Dr. Barth eine viel lukrativere Lösung möglich gewesen. Ob die LABAG das hingenommen hätte, hakt Rossi nach. Die LABAG sei jetzt eine hundertprozentige Tochter von LEMIEUX, antwortet Boswell. Als das Gerücht von den Prionen in der Schokolade auftauchte, musste vermieden werden, dass dies an die Öffentlichkeit gelangte. Boswell meint, Dr. Barth hätte sich mit LEMIEUX finanziell einigen können. Der Einwand Rossis, dass Dr. Barth das wohl anders gesehen habe, beeindruckt Boswell nicht. „Wenigstens profitiert seine Witwe heute von seinem Veranwortungsbewusstsein“, hält er zynisch entgegen.
„Und dann, als Sie dachten, Sie hätten alles hübsch geregelt und unter den Teppich gekehrt, tauchte ich auf.“
[…] „Genau. Dann tauchten Sie auf.“
„Ich nehme an, Sie haben versucht, auch mich zu kaufen, und als das nicht klappte, haben Sie sich an Jäger gewandt, damit er auf mich Einfluss nahm. Und als das nicht klappte, bekam ich eins über den Schädel. Wieviel haben Sie ihm bezahlt?“ (Seite 323ff)
Boswell belehrt Rossi, dass Jäger erst später dazu kam, nämlich als Fabio seine Nachforschungen wieder aufnahm und bei LABAG auftauchte. Jäger sei überzeugt davon gewesen, dass es seinem Freund nur darum ging, seine Gedächtnislücken zu füllen und an die frühere Sache keine Erinnerung mehr hatte. Und deshalb, sagt Boswell, sei er damals als Dr. Mark aufgetreten, um sich persönlich ein Bild über das Ausmaß der Amnesie zu machen. Er war nicht zufrieden mit dem Resultat. Rossi erwähnte zu oft Dr. Barth. Das sagte er Jäger auch, aber der wollte nicht, dass Boswell sich einschaltete. Und als Rossi immer weiter recherchierte, konnte keine Rücksicht mehr auf seine besondere Situation genommen werden. Boswell informierte dann Jäger bei dem Treffen im Hotel Europa über die geplante weitere Vorgehensweise.
„Bei unserem letzten Treffen im Europa drohte er mir ganz offen damit, die Sache selbst zu veröffentlichen, um Sie aus dem Schussfeld zu nehmen. Wir mussten das sehr ernst nehmen. Wir gingen davon aus, dass er eine Kopie der Dokumente besaß. Er hat ja dann bekanntlich einen anderen Weg gewählt. Mir persönlich hat das sehr Leid getan. Er hatte mich beeindruckt mit seiner Loyalität, der junge Mann. Wäre nicht nötig gewesen. Es hätte auch für ihn andere, lebensbejahendere Lösungen gegeben.“ (Seite 325)
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Rossi will wissen, wieviel Jäger bezahlt wurde. Achthunderttausend Dollar seien es gewesen, klärt ihn Boswell auf.
„Aber nicht ihm haben wir das bezahlt. Ihnen, Herr Rossi, Ihnen. Herr Jäger war da stur.“
Fabio war, als fasste ihn ein kleines kaltes Händchen am Nacken. Er konnte nichts sagen. Er konnte sich nicht bewegen
Boswell stand auf. „Das wollte ich Ihnen nur in Erinnerung rufen, Herr Rossi. Betrachten Sie die Information als meinen Beitrag zur Rekonstruktion Ihres Gedächtnisses.“ […]
„Und verzeihen Sie die Sache mit dem Fahrrad. Meine Leute sind manchmal etwas kindisch.“ (Seite 325f)
Zur weiteren Aufklärung kann jetzt wahrscheinlich Fredi beitragen. Ob sie sich mal über achthunderttausend Dollar unterhalten hätten, will Fabio wissen. In einem Jutebeutel in bar, sei er mit dem Geld angekommen, sagt Fredi. Wie abgemacht, habe er den Betrag in seiner Firma gut angelegt.
Fabio ist mit Norina zu dem Gartenhäuschen hinausgefahren. Plötzlich erinnert er sich an das letzte Gespräch mit Lucas und wie sie sich über den LEMIEUX-Skandal stritten. Fabio hatte Lucas seinen Entschluss mitgeteilt, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Lucas stellte sich stur. Fabio schrie ihn an, dass für ihn die Geschichte gestorben sei, ob Lucas nun mitmache oder nicht: „Ich habe Barths Aufzeichnungen ausgehändigt.“ Lucas schrie zurück, dass er sie kopiert habe. Dann sah Fabio Lucas mit einem Paket aus dem Haus laufen und unter der Veranda verschwinden. Dort versteckte Lucas das Paket.
Er [Fabio] griff sich einen schweren Holzstiel und ging auf Lucas los.
An dieser Stelle hörten seine Erinnerungen auf. Wahrscheinlich hatte er Lucas unterschätzt. (Seite 335)
Auf der Suche nach den versteckten Unterlagen, schaut Fabio in einem Fass beim Gartenhäuschen nach. Er zieht einen Müllsack mit einer schweren Schachtel heraus. Drei Stunden lang schauen Fabio und Norina sich die Aufzeichnungen von Dr. Barth an. Viele Blätter sind mit Klebenotizen versehen, auf denen in Lucas‘ Handschrift Erläuterungen gegeben werden. Dr. Barths Untersuchungsmethode scheint die Beweislage zu erhärten.
Dann küsst sich das Paar und frischt in den Kajütenbetten Erinnerungen an frühere gemeinsame Nächte auf. Ob Norina schon mal in Amalfi war? Er kenne dort ein Hotel mit hängenden Gärten und einem Lift direkt zum Meer hinunter. Das klingt zwar teuer, aber Fabio beruhigt Norina: „Ich habe ein bisschen was auf der Seite.“
Zwei Wochen später erscheint auf der Titelseite des SONNTAG-MORGEN der letzte Beitrag von Lucas Jäger mit der Überschrift „Der Schoko-Schock – Prionen in der Schokolade“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Fabio Rossis Name tauchte nirgends auf. (Seite 338)
Aufgrund einer Kopfverletzung kann sich Fabio Rossi, ein Journalist, nicht mehr an die letzten Wochen erinnrn. Beim Versuch, herauszufinden, was sich in der Zeit seines „verlorenenen“ Gedächtnisses ereignete und welche Rolle er dabei spielte, stößt er auf erschreckende Vorgänge. Diese betreffen seine journalistische Tätigkeit und die bei seinen Recherchen gewonnenen Erkenntnisse; aber auch in seinem Privatleben sieht er sich mit Ereignissen konfrontiert, die ihn irritieren müssen.
Martin Suter erzählt den Roman – Thriller könnte man fast sagen – folgerichtig, schnörkellos und spannend. Das Thema „Medien gegen Industrie“ verknüpft mit der Forschung auf dem Gebiet Prionen/BSE macht neugierig. Auf den ersten Blick scheint die Geschichte leicht verständlich; erst später merkt man, dass über die Kapitel verteilt Andeutungen eingestreut sind, die sich erst zum Schluss hin als wichtig erweisen.
Dass nach einem Schädeltrauma ein Gedächtnisverlust eintritt, erscheint plausibel. Wie es zu einer derartigen Störung kommen kann, erklärt der Therapeut, bei dem Fabio Rossi in Behandlung ist: Einen genau definierten Zeitraum aus dem Gedächtnis zu löschen, sei möglich. Zum Beispiel bei Leuten, die ein traumatisches Erlebnis hatten, Schock, Folter, Unfall und so weiter. Auf die Frage, ob eine Person einer anderen die Erinnerung an einen bestimmten Zeitraum löschen könne, antwortet der Arzt, dass die Anwendung von Suggestion oder Hypnose möglich sei. „Es gibt auch Medikamente, die kurze retrograde Amnesien bewirken. Man verwendet sie in der Anästhesie. Oder Elektroschocks, die man immer noch zum Teil in der Psychiatrie verwendet.“ (Seite 167ff) Und wie sollte es möglich sein, jemandem „die letzten fünfzig Tage des Gedächtnisses auszuradieren“? Gibt es Methoden, Wirkstoffe, kaum sichtbare Eingriffe, die das können? Dem Therapeuten ist darüber nichts bekannt. Die Lage eines Patienten, der vor dem Unfall eine große Veränderung durchmachte und durch die Amnesie wieder an die Stelle davor zurückversetzt wird, kommentiert der Fachmann folgendermaßen: „In jedem von uns steckt das Gegenteil seiner selbst. Und fast jeder kommt in seinem Leben einmal an einen Punkt, an dem er ausprobiert, ob es sich dabei nicht vielleicht um sein wahres Selbst handelt. Dass Ihr Ausflug in Ihr Alter Ego ausgerechnet von einer Amnesie betroffen wird, ist allerdings Pech. Nein, einen solchen Fall hatte ich noch nie.“ (Seite 266ff) Es folgen noch weitere mehr oder weniger wissenschaftlich verklausulierte Erläuterungen über „Patienten mit beschädigtem explizitem Gedächtnis“, bei denen meistens das „implizite noch intakt“ ist (Seite 268).
Eine Reihe von Nebensträngen und -figuren sind eingefügt, die aber für die Handlung nicht wichtig sind und nichts zur Erhellung der Motive der Hauptpersonen beitragen. Das hemmt teilweise den Fluss der Erzählung.
Francis Girod verfilmte den Roman „Ein perfekter Freund“ von Martin Suter mit Antoine de Caunes, Jean-Pierre Lorit, Carole Bouquet, Martina Gedeck u.a.: „Ein perfekter Freund“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2006
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Francis Girod: Ein perfekter Freund
Martin Suter: Die dunkle Seite des Mondes
Martin Suter: Lila, Lila (Verfilmung)
Martin Suter: Der Teufel von Mailand (Verfilmung)
Martin Suter: Der letzte Weynfeldt
Martin Suter: Der Koch
Martin Suter: Allmen und die Libellen
Martin Suter: Die Zeit, die Zeit
Martin Suter: Abschalten. Die Business Class macht Ferien
Martin Suter: Montecristo
Martin Suter: Melody