Und alle haben geschwiegen

Und alle haben geschwiegen

Und alle haben geschwiegen

Originaltitel: Und alle haben geschwiegen – Regie: Dror Zahavi – Drehbuch: Andrea Stoll nach dem Sachbuch "Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik" von Peter Wensierski – Kamera: Gero Steffen – Schnitt: Fritz Busse – Musik: Ingo Frenzel – Darsteller: Alicia von Rittberg, Senta Berger, Leonard Carow, Matthias Habich, Birge Schade, Anke Sevenich, Jasmin Schwiers, Marie-Anne Fliegel, Antje Schmidt, Tamara Rohloff, Rüdiger Kuhlbrodt, Stephan Grossmann, Lili Zahavi u.a. – 2012; 90 Minuten

Inhaltsangabe

Als sich die alleinerziehende Mutter Gertrud Keller 1964 einer schweren Operation unterziehen muss, lässt sie sich von einem Pfarrer und vom Jugendamt überreden, ihre 16-jährige Tochter Luisa einem diakonischen Heim anzuvertrauen. Luisa wollte eigentlich das Abitur machen, aber im Heim gibt es keinen Schulunterricht. Stattdessen müssen die Zöglinge arbeiten. Obwohl Jungen und Mädchen streng getrennt sind, verlieben sich Luisa und Paul. Sie werden bald auseinandergerissen ...
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Kritik

Mit dem auf einem Buch von Peter Wensierski basierenden Fernsehfilm "Und alle haben geschwiegen" soll eine breite Öffentlichkeit auf die Missstände in bundesdeutschen Heimen bis 1975 aufmerksam gemacht werden.
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Bevor sich die alleinerziehende Mutter Gertrud Keller (Antje Schmidt) einer schweren Operation unterzieht, wendet sie sich 1964 in Berlin an Pfarrer Götze und Frau Gerlas vom Jugendamt, damit sich während ihrer Abwesenheit jemand um ihre 16-jährige Tochter Luisa (Alicia von Rittberg) kümmert. Sie lässt sich überreden, das Sorgerecht abzutreten und unterschreibt eine Reihe von Papieren, deren Bedeutung sie nicht im Einzelnen versteht. Frau Gerlas bringt Luisa daraufhin in das diakonische Erziehungsheim Falkenstein in Hessen.

Zur Begrüßung weist Schwester Elisabeth (Marie-Anne Fliegel), die Heimleiterin, darauf hin, dass es Regeln zu befolgen gebe. Die erste lautet: Die Zöglinge dürfen die Heimleiterin nicht ungefragt ansprechen. Luisa schluchzt, als ihr eine Schwester die Locken abschneidet. Sie muss ihre Sachen ausziehen und in einen Kittel schlüpfen, wie ihn auch die anderen Mädchen tragen, die mit Nummern statt Namen angesprochen werden und zehn, zwölf Stunden am Tag in der Wäscherei arbeiten, mit der das Heim Geld verdient. Vornehme Damen wie Frau von Hofstetten lassen hier ihre Betttücher mangeln. Als Luisa fragt, wie es mit dem Schulbesuch aussehe und darauf hinweist, dass sie das Abitur machen wolle, sagt man ihr, dass die Ausbildung im Erziehungsheim Falkenstein sehr viel wertvoller als die an einer Schule sei, denn hier würden die Mädchen auf ihr Leben als Ehefrau, Hausfrau und Mutter vorbereitet.

Luisa klammert sich an die Hoffnung, nur vorübergehend im Heim zu sein, aber die anderen Mädchen lachen sie aus. Darunter ist auch Sarah (Lili Zahavi), deren Eltern in Auschwitz ermordet wurden.

Jungen und Mädchen werden im Erziehungsheim Falkenstein streng getrennt gehalten.

Aber schon bei der Ankunft fiel Luisa ein schüchterner gleichaltriger Junge auf, der den Roman „Herz der Finsternis“ von Joseph Conrad bei sich hatte. Paul Berghoff (Leonard Carow) lebt seit acht Jahren in Heimen. Er muss in einer Metallwerkstatt hart arbeiten und wird immer wieder geohrfeigt, weil er handwerklich ungeschickt ist. Um ihm das Stottern abzugewöhnen, wird er gezwungen, sich vor alle anderen hinzustellen, die Hände nach vorne zu halten und das Vaterunser aufzusagen. Sobald er stockt, wird er mit Tatzen bestraft.

Die junge Diplom-Pädagogin Jana Michels (Jasmin Schwiers) kommt für ein paar Wochen ins Erziehungsheim Falkenstein, um Material für eine Studie zu sammeln. Als ihr in den Akten Luisas hervorragende Schulnoten auffallen, wundert sie sich darüber, dass die 16-Jährige nicht zur Schule geht. Und im Gespräch mit ihr erfährt sie, dass bei Luisa die eigentlich vorgesehene Anhörung vor dem Vormundschaftsgericht nicht standfand.

Nach einigen Wochen taucht Gertrud Keller unangemeldet am Tor des Erziehungsheims Falkenstein auf. Eine Schwester weigert sich, das Tor zu öffnen. Ohne Besuchserlaubnis gebe es keinen Einlass, sagt sie. Gertrud Keller erklärt ihr, sie habe eine schwere Operation hinter sich und wisse jetzt, dass sie nicht mehr lange leben werde. Statt in ein Erholungsheim zu fahren, habe sie das Fahrgeld zusammengebettelt und sich in einen Zug gesetzt, um ihre Tochter noch einmal zu sehen. Luisa, die mit einem Korb voll Wäsche über den Hof geht, sieht ihre Mutter und rennt zu ihr. Die Heimleiterin kommt hinzu und gewährt Luisa ausnahmsweise eine halbe Stunde mit ihrer Mutter.

Als Luisa mit dem Putzen des Fußbodens fertig ist, kippt Schwester Ursula (Birge Schade) das Schmutzwasser aus und fordert sie auf, von vorne anzufangen. Luisa protestiert gegen die Schikane. Es kommt zu einer Rangelei. Zwei Schwestern packen Luisa, verprügeln sie im Waschraum und sperren sie dann allein in einen Nebenraum.

Dort befindet Luisa sich noch, als sie durch einen Brief vom Tod ihrer Mutter erfährt. Die Beisetzung fand bereits statt.

Vor einer Visite des Bischofs (Rüdiger Kuhlbrodt) verspricht die Heimleiterin den Kindern und Jugendlichen eine Freistunde für den Fall, dass sie alle zusammen einen guten Eindruck machen. Der Bischof ist begeistert von der Einrichtung. Als er Luisa auf die Hämatome und Schürfwunden in ihrem Gesicht anspricht, lügt sie und behauptet, aus Unachtsamkeit über eine Treppe hinuntergefallen zu sein.

Den erfolgreich verlaufenen Besuch des Bischofs feiern Schwester Elisabeth, die Erzieherinnen und Erzieher mit einem Umtrunk. Währenddessen dürfen sich die Zöglinge, wie versprochen, eine Stunde lang frei bewegen.

Paul und Luisa nutzen die Gelegenheit, um zu fliehen. Aber sie werden nach kurzer Zeit von einer Polizeistreife zurückgebracht.

Noch auf dem Korridor springt Luisa aus einem Fenster. Jana Michels, die das Erziehungsheim Falkenstein gerade verlässt, sieht, wie Luisa auf dem Pflaster aufprallt. Die Pädagogin sorgt dafür, dass die Schwerverletzte ins Krankenhaus gebracht wird, wo Luisa drei Wochen lang auf der Intensivstation liegt, bis sie aus dem Koma erwacht. Jana kümmert sich auch weiterhin um Luisa und findet einen Vormund für sie, damit sie nicht wieder in ein Heim muss. Für Paul kann sie allerdings nichts tun.

44 Jahre später, 2008, kommt Luisa (jetzt: Senta Berger), die inzwischen mit ihrem Ehemann Robert Hamilton und den beiden Töchtern in Boston lebt, wieder nach Berlin, um vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags über ihre Erlebnisse im Erziehungsheim Falkenstein zu berichten. Danach besucht sie Paul Berghoff (jetzt: Matthias Habich) in dessen Antiquariat.

Paul ist verbittert. Von 1964 bis 1968 lebte er im Heim Falkenstein. Damals hatten sie vereinbart, sich 1969 an Luisas 21. Geburtstag in Frankfurt am Main zu treffen. Ein Jahr lang habe er vergeblich auf sie gewartet, klagt Paul.

Nur mit Mühe kann Luisa ihn überreden, sie zu dem Ausschuss zu begleiten. Es fällt ihm schwer, sein Schweigen zu brechen. Als der Diakonische Referent (Stephan Grossmann) ungeduldig sagt, er habe für die Sitzung eigens einen Termin im Bundeskanzleramt abgesagt, will Paul gleich wieder weg. Luisa hält ihn zurück.

„Ich habe gelernt, meinen Kopf einzuziehen, mein Kopf ist mir immer mehr in meinen Hals hineingewachsen“, gesteht Paul nun mit Blick auf den Geistlichen, „sogar jetzt, jetzt habe ich Angst, dass Sie mich schlagen.“ Und er zitiert Hannah Arendt: „Gewalt beginnt, wo das Reden aufhört.“

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Der Fernsehfilm „Und alle haben geschwiegen“ von Andrea Stoll (Drehbuch) und Dror Zahavi (Regie) basiert auf dem 2006 von Peter Wensierski veröffentlichten Sachbuch „Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ (Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006, ISBN 978-3-421-05892-8). Hans-Peter Wensierski (* 1954) schildert, wie Kinder und Jugendliche in Heimen arbeiten mussten, statt Schulunterricht zu bekommen. Unzureichend ausgebildete Erzieherinnen und Erzieher versuchten sich durch Demütigungen, Ohrfeigen und Schläge Respekt zu verschaffen. Ungehorsame Kinder bzw. Jugendliche mussten auch damit rechnen, allein in ein „Besinnungsstübchen“ gesperrt zu werden.

Schätzungsweise 700 000 bis 1 Million Kinder und Jugendliche wuchsen zwischen dem Kriegsende und 1975 zumindest zeitweise in Heimen in der Bundesrepublik auf. Die Hälfte von ihnen lebte einige Jahre im Heim, die anderen kamen erst mit der Volljährigkeit (21. Geburtstag) frei. In den Sechzigerjahren existierten 3000 Heime für 200 000 Kinder und Jugendliche. Zwei Drittel davon befanden sich in der Hand einer der beiden christlichen Kirchen, ein Viertel war staatlich, das restliche Zehntel wurde von privaten Trägern betrieben.

In der DDR waren Körperstrafen an Schulen von Anfang an verboten. In bundesdeutschen Schulen blieben sie bis 1973 allgemein erlaubt und wurden nur in einzelnen Bundesländern wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen bereits vorher abgeschafft. 1977 wurde das Verbot körperlicher Züchtigung in das Schulverwaltungsgesetz aufgenommen.

Das Buch „Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ löste eine breite Debatte über die Misshandlung und Ausbeutung von Heimkindern in den 25 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus. Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags beschäftigte sich mit dem Thema und erklärte am 26. November 2008 sein tiefes Bedauern über „erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist“. Unter dem Vorsitz der Politikerin Antje Vollmer wurde 2009 ein Runder Tisch von der Bundesregierung eingerichtet, dessen Aufgabe es war, die Heimerziehung zu durchleuchten.

Schließlich verständigten sich die Kirchen, die Bundesländer und der Bund auf die Einrichtung eines Fonds „Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949 bis 1975“ am 1. Januar 2012, aus dem Opfer, die heute noch unter Folgen damaliger Misshandlungen leiden, bis 31. Dezember 2014 Unterstützung beantragen können.

Ulrike Meinhof (Drehbuch) und Eberhard Itzenplitz (Regie) prangerten Missstände in der Heimerziehung bereits 1970 in dem Fernsehfilm „Bambule“ an. Dror Zahavi versucht nun mit dem Fernsehfilm „Und alle haben geschwiegen“, eine noch breitere Öffentlichkeit auf die Missstände aufmerksam zu machen.

Die Bilder sind alles andere als bunt und leuchtend. Außerdem symbolisieren dicke Mauern und ein abgeriegeltes hohes Tor das Eingesperrtsein der Kinder und Jugendlichen. Die Liebesgeschichte kontrastiert mit dem deprimierenden Alltag und soll das Mitgefühl der Zuschauer verstärken.

Mit Alicia von Rittberg und Leonard Carow, Senta Berger und Matthias Habich ist „Und alle haben geschwiegen“ überzeugend besetzt.

Andrea Stoll und Dror Zahavi erzählen die in eine Rahmenhandlung eingebettete Geschichte aus der (Opfer-)Perspektive Luisas. Infolgedessen erfahren wir leider kaum etwas über die Charaktere und Motive der Heimleiterin und der Erzieherinnen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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