Leo Tolstoi : Anna Karenina

Anna Karenina
Originalausgabe: Anna Karenina Manuskript: 1873 – 1878 Veröffentlichung in "Russkij vestnik": 1875 – 1877 Erstausgabe: 1878 Übersetzung: Rosemarie Tietze Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011 ISBN: 978-3-423-13995-3, 1284 Seiten Übersetzung: Arthur Luther Diogenes Verlag, Zürich 2012
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Anna Karenina ist mit einem strengen, disziplinierten und hoch angesehenen Regierungsbeamten in St. Petersburg verheiratet. Als sie dem Bonvivant Graf Wronskij begegnet, verliebt sie sich auf den ersten Blick in ihn, sträubt sich aber zunächst dagegen, eine Affäre mit ihm anzufangen. Wronskij, der sie ebenso leidenschaftlich liebt, bedrängt sie, bis sie nachgibt. Die Amour fou bleibt nicht lange unentdeckt, und die Gesellschaft ächtet die Ehebrecherin ...
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Kritik

"Anna Karenina" gilt nicht nur als Leo Tolstois bestes Werk, sondern auch als einer der bedeutendsten Romane des europäischen Realismus überhaupt. Mit einer Fülle von Charakteren und Episoden entwickelt Leo Tolstoi die tragische Handlung.
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Anna Arkadjewna Karenina fährt von St. Petersburg nach Moskau, um zwischen ihrem Bruder Fürst Stepan („Stiwa“) Arkadjewitsch Oblonski und dessen Ehefrau Darja („Dolly“) Alexandrowna zu vermitteln. Die beiden haben sich zerstritten, weil Dolly herausfand, dass Stepan sie mit einer früher in ihrem Haus beschäftigten Gouvernante betrog.

Auf dem Bahnsteig in Moskau wartet Oblonski auf seine Schwester. Er ist in Begleitung seines Freundes Graf Alexej („Aljoscha“) Kirillowitsch Wronskij, der seine Mutter abholt. Die Gräfin Wronskaja ist zufällig während der Zugfahrt mit Anna Karenina ins Gespräch gekommen. Die Begegnung von Anna Karenina und Wronskij auf dem Bahnsteig ist nur kurz und formell, aber sie verlieben sich auf den ersten Blick ineinander. Um Anna Karenina zu imponieren, spendet Wronskij 200 Rubel für die Familie eines soeben vom Zug erfassten und getöteten Bahnarbeiters.

Anna Karenina überredet ihre Schwägerin, sich nicht von Stepan zu trennen, sondern sich mit ihm zu versöhnen. Stepan ist heilfroh darüber, denn seine wirtschaftlichen Unternehmungen sind gescheitert, und er ist auf das von seiner Frau in die Ehe eingebrachte Vermögen angewiesen. Weil er sich nicht ändert, fällt es Dolly schwer, sich zu fügen.

Während ihres Besuches in Moskau begleitet Anna Karenina die jüngere Schwester ihrer unglücklichen Schwägerin zu einem Ball. Jekaterina Alexandrowna („Kitty“) Schtscherbatski wird von dem mit Stepan befreundeten Gutsbesitzer Konstantin („Kostja“) Dmitrijewitsch Ljewin umworben, der dafür eigens in die Stadt gekommen ist, aber sie hat sich in Graf Wronskij verliebt und hofft, dass dieser um ihre Hand anhält.

Auf dem Ball erhält Kitty jedoch stattdessen einen Heiratsantrag von Ljewin. Als sie ihn ablehnt und er sieht, wie sie Wronskij anblickt, begreift er, dass sie nicht ihn, sondern den Grafen liebt. Daraufhin kehrt er frustriert auf sein Landgut zurück, stürzt sich in die Arbeit und meidet die Gesellschaft.

Der leichtlebige Wronskij hat jedoch überhaupt nicht vor zu heiraten, und seit er Anna Karenina auf dem Bahnsteig gesehen hat, trachtet er nach einer Möglichkeit, ihr seine leidenschaftlichen Gefühle zu gestehen. Dass sie mit dem strengen, disziplinierten und pflichtbewussten Regierungsbeamten Alexej Alexandrowitsch Karenin verheiratet ist und einen Sohn hat – Sergej Alexejewitsch („Serjoscha“) – ignoriert er.

Kitty bleibt nicht verborgen, dass Wronskij nur Augen für Anna hat. Dass der Graf ihre Liebe nicht erwidert, beschämt sie und stürzt sie in eine Lebenskrise. Sie wird krank.

Anna Karenina fühlt sich innerlich zerrissen zwischen Pflicht und Leidenschaft; sie sträubt sich zunächst dagegen, eine Affäre mit Wronskij anzufangen, aber er folgt ihr nach St. Petersburg und bedrängt sie, bis sie nachgibt und mit ihm schläft. Auf Dauer lässt sich die Amour fou nicht verheimlichen: Gerüchte über eine Liebesbeziehung zwischen Graf Wronskij und Anna Karenina verbreiten sich und kommen schließlich auch Alexej Alexandrowitsch Karenin zu Ohren.

Eines Tages nimmt Wronskij an einem Pferderennen teil. Dass Anna aufschreit, als er stürzt, ist für ihren Mann der Beweis für ihre Untreue. Wronskij bleibt unverletzt, aber das Rennpferd hat sich eine Hinterhand gebrochen. Ohne zu zögern, erschießt Wronskij deshalb das Tier.

Als Anna dann schwanger wird, lässt sich nichts mehr leugnen. Aber das hat sie auch gar nicht vor: Sie gesteht ihrem Mann, dass sie Wronskijs Geliebte ist und ein Kind erwartet.

Bei der Geburt der Tochter droht Anna zu sterben. In dieser Situation verzeiht Alexej Alexandrowitsch Karenin ihr und seinem Nebenbuhler. Wronskij, der befürchtet, dass Anna zu ihrem Ehemann zurückkehren könnte, unternimmt einen Selbstmordversuch, aber nachdem Anna sich erholt hat, verlässt sie mit ihm zusammen St. Petersburg.

Während die beiden auf Reisen sind, finden Kitty und Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin durch die Vermittlung von Kittys Schwager Stepan Arkadjewitsch Oblonski wieder zueinander, und schließlich heiraten sie doch noch.

Kurz nach der Hochzeit erfährt Konstantin, dass sein älterer Bruder Nikolaj Dmitrijewitsch, ein an Tuberkulose erkrankter Alkoholiker, im Sterben liegt. Kitty lässt es sich nicht nehmen, ihren Mann zu begleiten, und sie hilft Nikolajs Lebensgefährtin Marja („Mascha“) Nikolajewna tatkräftig bei der Krankenpflege und Haushaltsführung. Nach Nikolajs Tod zieht das Ehepaar wieder aufs Landgut, wo Kitty einen Sohn bekommt.

Weil Anna Karenina sich nach ihrem Sohn sehnt, kehrt sie nach einem Jahr mit ihrem Liebhaber nach St. Petersburg zurück. Aber Gräfin Lydia Iwanowna, eine der tonangebenden Damen der St. Petersburger Gesellschaft, hält Alexej Alexandrowitsch Karenin davon ab, seiner Frau eine Zusammenkunft mit Serjoscha zu erlauben. Am frühen Morgen gelingt es Anna einmal, Bedienstete ihres Mannes zu bestechen, damit sie ins Haus gelassen wird. Sie eilt an Serjoschas Bett, weckt ihn und nimmt ihn kurz in die Arme.

Die Gesellschaft ächtet die Ehebrecherin. Trotzig geht Anna Karenina ins Theater – was allgemein als Affront angesehen wird. Nicht einmal die unkonventionelle Fürstin Elizaveta („Betsy“) Twerskaja, eine Cousine Wronskijs, hält zu Anna Karenina.

Frustriert zieht das Liebespaar sich mit Tochter Annie auf Wronskijs Landgut zurück. Während er sich mit der Gutsverwaltung beschäftigt, wird Anna von unbegründeter Eifersucht geplagt und verfällt in Wahnvorstellungen.

Dolly verbringt den Sommer mit ihrer Mutter und den Kindern bei ihrer Schwester und ihrem Schwager auf dem Land. Als sie dann auch Wronskij und Anna Karenina besucht, fällt ihr der krasse Unterschied zwischen dem einfachen Leben auf Ljewins Gut und der Extravaganz des Liebespaares auf.

Graf Wronskij glaubt, sich und Anna durch eine Eheschließung in der Gesellschaft rehabilitieren zu können. Aber dazu müssten erst Anna und Alexej Alexandrowitsch Karenin geschieden werden. Weil Anna annimmt, dass sie im Fall einer Scheidung jedes Recht verlieren würde, Serjoscha zu sehen, sträubt sie sich dagegen. Erst als sie befürchtet, dass Wronskij sich von ihr trennen könnte, willigt sie in seinen Plan ein.

Aber bevor eine Lösung realisiert werden kann, stürzt die Verzweifelte sich im Bahnhof zwischen die Waggons eines durchfahrenden Güterzugs.

Nach dem Tod seiner Ehefrau nimmt Alexej Alexandrowitsch Karenin auch deren Tochter zu sich.

Alexej Kirillowitsch Wronskij meldet sich freiwillig zum Krieg gegen die Türken auf dem Balkan. Er ist seines Lebens überdrüssig und sucht den ehrenhaften Tod.

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Fünf Jahre lang, von 1873 bis 1878, arbeitete Leo Tolstoi an seinem Roman „Anna Karenina“, der dann zunächst in einer Zeitschrift und 1878 auch als Buch veröffentlicht wurde. Es wird kolportiert, dass er die Titelfigur zunächst als abschreckendes Beispiel angelegt und erst während des Schreibens seine Meinung über sie geändert habe. „Anna Karenina“ gilt nicht nur als bestes Werk des russischen Schriftstellers, sondern auch als einer der bedeutendsten Romane des europäischen Realismus überhaupt.

Wie Effi Briest (Theodor Fontane) und Madame Bovary (Gustav Flaubert), lässt sich auch Anna Karenina zu einer Amour fou hinreißen und geht daran zugrunde, weil weder ihr sittenstrenger Ehemann noch die Gesellschaft den Verstoß gegen die Konventionen verzeihen. Alexej Alexandrowitsch Karenin ähnelt Geert Baron von Innstetten und Charles Bovary.

Leo Tolstoi erzählt in „Anna Karenina“ drei Familiengeschichten parallel: Im Zentrum steht eine Dreiecksbeziehung: Die Familie Karenin wird durch die leidenschaftliche Affäre Annas mit Graf Wronskij zerstört. Flankiert wird dieser Handlungsstrang von zwei anderen Paarbeziehungen. Da sind zum einen der verantwortungslose Fürst Oblonski und dessen Ehefrau Dolly, die unter seinen Seitensprüngen und geschäftlichen Misserfolgen leidet. Den Kontrast zur Amour fou von Anna Karenina und Graf Wronskij bildet vor allem die bodenständige Familie von Kitty und Konstantin Dmitrijewitsch Ljewin.

„Anna Karenina“ dreht sich um den Konflikt von Pflicht und Leidenschaft, den Gegensatz von Verantwortung und Haltlosigkeit, um Familienleben, Ehebruch, Schuld und die Suche nach dem Sinn des Lebens. Leo Tolstoi zeigt, wie die Gesellschaft rücksichtslos ihre Konventionen durchsetzt, auch wenn dabei Einzelne zugrunde gehen. Einfühlsam und differenziert veranschaulicht er, was die Romanfiguren dabei empfinden.

Eine Fülle von Personen und Alltagsepisoden sowie für die „bessere“ Gesellschaft bezeichnende Begegnungsorte (Salons, Bälle und Opernlogen) bieten dem Autor reichen Stoff für seine mikroskopisch genauen Beobachtungen und detaillierten Beschreibungen menschlicher Empfindungen und Gefühlsäußerungen. […] Die sozial und psychologisch motivierten Charaktere sind immer auch Vertreter bestimmter Ansichten und damit Repräsentanten der öffentlichen Meinung. (Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Band 1, Dortmund 1989, S. 154)

Die Figur des an sich selbst zweifelnden, nach dem Sinn des Lebens suchenden und das Stadtleben meidenden Gutsbesitzers Ljewin trägt autobiografische Züge.

Viel zitiert (Beispiel: „Die Eleganz der Madame Michel“) ist der erste Satz des Romans „Anna Karenina“:

Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.

Glückliche Familien gleichen sich, weil bei ihnen eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein müssen. Weil es aber ebenso viele Ursachen des Unglücks wie entscheidende Bedingungen gibt, sind unglückliche Familien verschieden. Verallgemeinert: Ein Ziel wird nur erreicht, wenn viele Bedingungen erfüllt werden; Scheitern kann dagegen Folge eines einzigen Misserfolgs sein. Dieser Zusammenhang wird auch als Anna-Karenina-Prinzip bezeichnet.

Übersetzungen des Romans „Anna Karenina“ ins Deutsche gibt es unter anderem von Arthur Luther, Fred Ottow, Hermann Asemissen, Gisela Drohla, Hermann Röhl und Rosemarie Tietze (Carl Hanser Verlag 2009).

Verfilmungen des Romans „Anna Karenina“ (Auswahl):

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

Bernard Rose: Anna Karenina
Joe Wright: Anna Karenina

Marta Karlweis - Schwindel
Marta Karlweis verzichtet auf eine Identifikationsperson und entwickelt die figurenreiche Geschichte nicht kontinuierlich fließend, sondern in 22 Skizzen. Obwohl sie sich am Verismus orientiert und ihre Sprache knapp ist, blitzen groteske Überzeichnungen auf.
Schwindel