In ihrem Haus

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In ihrem Haus

In ihrem Haus – Originaltitel: Dans la maison – Regie: François Ozon – Drehbuch: François Ozon nach dem Theaterstück "El chico de la última fila" von Juan Mayorga – Kamera: Jérôme Alméras – Schnitt: Laure Gardette – Musik: Philippe Rombi – Darsteller: Fabrice Luchini, Ernst Umhauer, Kristin Scott Thomas, Emmanuelle Seigner, Bastien Ughetto, Denis Ménochet. Jean-François Balmer, Catherine Davenier, Yolande Moreau, Jana Bittnerova u.a. – 2012; 105 Minuten

Inhaltsangabe

Germain, der eigentlich Schriftsteller werden wollte, arbeitet als Französischlehrer am Lycée Gustave Flaubert. Frustriert liest er die fantasielosen Schulaufsätze. Aber Claudes Arbeit fesselt ihn. Der 16-Jährige erzählt, wie er sich an seinen Mitschüler Rapha heranmachte, um dessen Familie in ihrem Haus aus der Nähe beobachten zu können. Claude macht daraus eine Art Fortsetzungsroman, und Germain kann es kaum erwarten, bis er weiterlesen kann ...
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Kritik

François Ozon spielt in der dialoglastigen Tragikomödie "In ihrem Haus" – der Verfilmung eines Theaterstücks von Juan Mayorga – mit der Beziehung von Autor und Leser, Wirklichkeit und Fiktion.

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Im Lycée Gustave Flaubert beginnt das neue Schuljahr. Der Rektor (Jean-François Balmer) weist stolz darauf hin, dass die Schule als Pilotgymnasium ausgewählt wurde und bestätigt die Einführung einer Schuluniform, die dazu dienen soll, die Unterscheidbarkeit von Schülern aus armen und reichen Familien zu reduzieren.

Germain Germain (Fabrice Luchini) arbeitet als Französischlehrer am Lycée Gustave Flaubert. Eigentlich wollte er Schriftsteller werden, aber sein Debütroman blieb erfolglos. Frustriert liest er die fantasielosen Schulaufsätze seiner Schüler über ihr letztes Wochenende. Nur eine Arbeit weckt sein Interesse: Der 16-jährige Claude Garcia (Ernst Umhauer) schreibt über einen Aufenthalt im Haus seines Mitschülers Raphaël („Rapha“) Artole (Bastien Ughetto). Claude, der aus prekären Verhältnissen stammt und angeblich einen gelähmten Vater (Jacques Bosc) zu pflegen hat, gibt zu, Rapha manipuliert zu haben, um die Mittelstandsfamilie aus der Nähe beobachten zu können. Als Vorwand benutzte er Raphas Schwäche in Mathematik. Rapha ist froh, dass sein neuer Freund ihm bei den Aufgaben hilft.

Germain liest den Aufsatz auch seiner Ehefrau Jeanne (Kristin Scott Thomas) vor, die eine Kunstgalerie führt und bei einer in drei Wochen geplanten Vernissage endlich einmal Erfolg haben muss, wenn sie nicht riskieren möchte, dass die Zwillingsschwestern Rosalie und Eugénie (Yolande Moreau), denen die Räume gehören, den Mietvertrag kündigen.

Claudes Aufsatz endet mit der Bemerkung „Fortsetzung folgt“. Der Lehrer meint zwar, es sei nicht richtig, über einen Mitschüler zu schreiben, aber Claude drückt ihm ein weiteres Blatt in die Hand, und nachdem Germain auch diesen Text gelesen hat, kann er es kaum erwarten, bis Claude die nächste Fortsetzung liefert. Er betreut Claude nun regelmäßig nach dem Unterricht, gibt ihm große Romane der Weltliteratur zu lesen und erteilt ihm Privatlektionen darüber, wie ein Autor die Leser fesseln kann.

Claude erzählt in seinem Fortsetzungsroman von Raphas Eltern, die er bei jeder Gelegenheit belauert und belauscht. Der Vater, der ebenfalls Rapha heißt (Denis Ménochet), verdient sein Geld in einer Handelsgesellschaft und begeistert sich ebenso wie sein Sohn für Basketball. Esther (Emmanuelle Seigner), die attraktive Mutter, ist voll mit Plänen für eine Umgestaltung der Einrichtung beschäftigt. Ihr Architekturstudium hatte sie wegen Raphas Geburt abgebrochen.

Nach einigen Fortsetzungen teilt Claude seinem Französischlehrer mit, dass er nicht weitermachen könne, wenn Rapha beim nächsten Mathematiktest erneut versagen sollte. Esther Artole werde dann einen professionellen Nachhilfelehrer für ihren Sohn engagieren und Claude nicht mehr ins Haus lassen. Um das zu verhindern, kopiert Germain im Lehrerzimmer die von seinem Kollegen Bernard (Vincent Schmitt) vorbereiteten Mathematikaufgaben und gibt sie Claude, damit dieser Rapha entsprechend unterweisen kann. Jeanne ist entsetzt, als sie herausfindet, was ihr Mann getan hat. Aber sie lässt sich auch weiterhin aus Claudes Aufsätzen vorlesen.

Rapha erhält für den Test die Bestnote. Seine Eltern sind begeistert und bedanken sich auch bei Claude für den augenscheinlich erfolgreichen Nachhilfeunterricht.

Während die beiden Raphas am Samstag beim Basketballspiel sind, klingelt Claude bei den Artoles. Er habe sein Mathematikbuch liegen lassen, behauptet er, als Esther die Türe öffnet. Um ihr Mitgefühl zu wecken, erzählt er, seine Mutter habe ihn und seinen Vater verlassen, als er noch ein Kind war.

Germain lässt die Klasse einen Schulaufsatz mit dem Titel „Mein bester Freund“ schreiben und ruft dann Rapha auf, dessen Arbeit erwartungsgemäß von Claude handelt. Während Rapha vorliest, wird er von Mitschülern mehrmals ausgelacht. Germain lässt das nicht nur zu, sondern demütigt Rapha dann auch noch, indem er ihm jeden Fehler ankreidet.

Claude stiftet Rapha an, einen Bericht über die entwürdigende Behandlung durch den Französischlehrer für die Schülerzeitung zu verfassen. Dem Rektor missfällt der Inhalt des Artikels ebenso wie Raphas Vater, der sich daraufhin bei Germain über die Respektlosigkeit gegenüber seinem Sohn beschwert.

Bei der Vernissage taucht zu Germains Verwunderung das Ehepaar Artole auf. Bevor Rapha und Esther ihn entdecken, verlässt er unter einem Vorwand die Galerie. Abends gesteht ihm Jeanne, sie habe den beiden aus Neugierde eine Einladung geschickt.

Bald darauf legt Claude es darauf an, dass er noch um Mitternacht mit Rapha an Mathematikaufgaben arbeitet. Prompt wird er von dessen Vater eingeladen, im Gästezimmer zu übernachten. Claude nutzt die Gelegenheit, um unbemerkt durchs Haus zu schleichen und sogar ins Elternschlafzimmer vorzudringen. Er stellt sich Esther beim Sex vor.

Schließlich gelingt es ihm, Esther zu küssen. Dabei werden sie von Rapha Junior beobachtet. In der nächsten Fortsetzung liest Germain, Rapha habe sich daraufhin erhängt. An diesem Morgen fehlt Rapha in der Klasse. Germain macht sich Sorgen: Nahm sich der Junge tatsächlich das Leben? Er bittet die Schulsekretärin Anouk (Catherine Davenier), bei den Artoles anzurufen. Rapha liegt lediglich mit einer Grippe im Bett.

Claude ändert die Darstellung. Rapha bringt sich nicht um, bittet seine Eltern jedoch, Claude gegen einen professionellen Nachhilfelehrer auszutauschen.

Raphas Vater wird von seinem Chef Maurice gedemütigt und fackelt daraufhin dessen Auto ab.

Jeanne fällt auf, dass ihr Mann schon seit längerer Zeit nicht mehr mit ihr geschlafen hat. Nicht dass ihr das fehlen würde. Tatsächlich ist Germains erotisches Interesse inzwischen auf Esther fixiert, genau genommen auf die Figur Esther in Claudes Fortsetzungsroman. Anfangs glaubte Germain, er könne Claude lenken, aber die Kontrolle ist ihm längst entglitten: Inzwischen manipuliert der Schüler den Lehrer.

Esther sei schwanger, schreibt Claude. Ihr Mann habe gekündigt, erzählt sie Claude, und wolle sich nun in China eine neue Existenz aufbauen. In Kürze werde die Familie dorthin umsiedeln.

Claude fehlt im Unterricht, als Germain vom Rektor aus der Klasse geholt wird. Rapha gestand inzwischen, wie er zu dem guten Ergebnis im Mathematik-Test gekommen war. Der Rektor suspendiert den Lehrer deshalb mit sofortiger Wirkung vom Dienst.

Als Germain frustriert nach Hause kommt, gibt Jeanne ihm den Schluss von Claudes Fortsetzungsroman zu lesen und lässt ihn wissen, dass der Schüler gerade bei ihr war. Nun weiß sie auch, dass Germain sich abschätzig über Kunst im Allgemeinen und die von ihr ausgestellte Kunst im Besonderen äußerte. Außerdem behauptete Claude, ihr Mann habe ihre Kinderlosigkeit auf ihre Unfruchtbarkeit zurückgeführt. Ob Jeanne mit Claude schlief, bleibt offen. Jedenfalls packt sie bereits. Die Zwillinge kündigten den Mietvertrag für die Galerie, und die Ehe ist auch am Ende. Germain will Jeanne davon abhalten, ihn zu verlassen, aber sie schlägt ihn mit einem seiner dicken Bücher nieder.

Einige Zeit später besucht Claude seinen früheren Französischlehrer, der alles verloren hat. Gemeinsam beobachten sie zwei Frauen auf einem Balkon gegenüber (Diana Stewart, Stéphanie Campion) und mutmaßen, worüber die beiden reden könnten.

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Unter dem Titel „In ihrem Haus“ adaptierte François Ozon das Theaterstück „El chico de la última fila“ (2006) von Juan Mayorga fürs Kino.

„In ihrem Haus“ entwickelt sich auf zwei Ebenen. Eine davon ist gewissermaßen die Realität, in der sich Lehrer und Schüler bewegen. Die zweite ist nicht so genau festzumachen: Zunächst handelt es sich um die Visualisierung von Claudes Aufsätzen: Wir hören den Text aus dem Off und tauchen in die Szene ein. Dabei können wir nicht zwischen real und imaginär unterscheiden. „In ihrem Haus“ kreist um die Beziehung von Autor und Leserschaft (bzw. Regisseur und Publikum), um das Verhältnis von Wirklichkeit und erzählerischer Fiktion. Lässt Esther sich von dem Mitschüler ihres Sohnes küssen, bildet Claude sich das ein oder erfindet er die Szene für seinen Fortsetzungsroman? Wie manipuliert der Autor die Leser, der Regisseur die Zuschauer?

François Ozon spielt in der dialoglastigen Tragikomödie „In ihrem Haus“ auch mit einer weiteren selbstreflexiven Frage: Hat das Lesen von Romanen bzw. das Anschauen von Filmen mit Voyeurismus zu tun? Auf satirische Weise zeigt er darüber hinaus die Destruktivität der zur Realitätsflucht benutzten Fantasie.

François Ozon wurde am 15. November 1967 in Paris als eines von drei Kindern des Biologen René Ozon und dessen Ehefrau Anne-Marie, einer Französisch-Lehrerin, geboren. 1990 bis 1993 studierte er an der École Nationale Supérieure des métiers de l’image et du son (La fémis). Nachdem sich François Ozon bereits mit einigen Kurzfilmen einen Namen gemacht hatte, drehte er 1998 seinen ersten abendfüllenden Kinofilm: „Sitcom“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

François Ozon (kurze Biografie / Filmografie)

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