Patrick Modiano : Dora Bruder

Dora Bruder
Originalausgabe: Dora Bruder Éditions Gallimard, Paris 1997 Dora Bruder Übersetzung: Elisabeth Edl Carl Hanser Verlag, München 1998 ISBN: 3-446-19287-5, 149 Seiten Taschenbuch: dtv, München 2013 ISBN: 978-3-423-14182-6, 151 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Ich-Erzähler trägt zusammen, was er über Dora Bruder herausgefunden hat, ein jüdisches Mädchen, das 1942 von Paris nach Auschwitz deportiert wurde und den Holocaust ebensowenig überlebte wie der Vater und die Mutter. Bei den wenigen Spuren von Dora Bruder handelt es sich fast ausschließlich um kurze Eintragungen in Amtssprache. Der Autor kreist die Existenz der Protagonistin ein und versucht mit dem Roman "Dora Bruder", die Erinnerung an eines der sechs Millionen Holocaust-Opfer stellvertretend für alle anderen zu bewahren ...
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Kritik

"Dora Bruder" ist ein leiser, melan­cholischer Roman ohne Larmoyanz. Obwohl die Handlung rudimentär bleibt und die Darstellung spröde wirkt, reißt die Lektüre mit. Gerade wegen der Nüchternheit erschüttert dieses außergewöhnliche literarische Juwel ganz besonders.
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Im Dezember 1988 stößt der Autor in der Ausgabe der Zeitung „Paris Soir“ vom 31. Dezember 1941 auf folgende Suchanzeige:

Paris. Gesucht wird ein junges Mädchen. Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.

Das Schicksal dieses Mädchens lässt ihn nicht mehr los. Er versucht, so viel wie möglich über Dora Bruder herauszufinden, aber die Recherche ist mühsam.

Ich habe vier Jahre gebraucht, um ihr genaues Geburtsdatum ausfindig zu machen: der 25. Februar 1926. Und zwei weitere Jahre waren notwendig, um den Ort dieser Geburt zu erfahren: Paris, zwölftes Arrondissement.

Im Februar 1996 fragt er im Standesamt des Rathauses im zwölften Arrondissement nach Dora Bruders Geburtsurkunde. Weil er jedoch nicht mit ihr verwandt ist, benötigt er eine Sondergenehmigung, und schließlich rät man ihm, sich an den Procureur de la République zu wenden. Von dort erhält er folgende Mitteilung:

Am fünfundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um einundzwanzig Uhr zehn, wurde in der Rue Santerre Nr. 15 Dora, weiblichen Geschlechts, geboren. Eltern: Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich), am einundzwanzigsten Mai eintausendachthundertneunundneunzig, Hilfsarbeiter, und seine Ehefrau Cécile Burdej, geboren in Budapest (Ungarn), am siebzehnten April eintausendneunhundertsieben, ohne Beruf, beide wohnhaft in Sevran (Seine-et-Oise), Avenue Liégeard Nr. 2. Ausgefertigt am siebenundzwanzigsten Februar eintausendneunhundertsechsundzwanzig, um fünfzehn Uhr dreißig, gemäß der Erklärung von Gaspard Meyer, dreiundsiebzig Jahre, beschäftigt und wohnhaft in der Rue de Picpus Nr. 76, welcher bei der Geburt zugegen war und nach der Verlesung in unserem Beisein unterzeichnet hat, Auguste Guillaume Rosi, stellvertretender Bürgermeister.

Weitere Nachforschungen ergeben, dass sich Ernest Bruder zur französischen Fremdenlegion gemeldet hatte. Allerdings findet der Ich-Erzähler nicht heraus, wann das gewesen war. Im Alter von 25 Jahren lebte Ernest Bruder jedenfalls in Paris.

Wahrscheinlich hatte man ihn wegen seiner Verletzung von seiner Verpflichtung in der Fremdenlegion befreit.

Vermutlich bekam er weder eine Invalidenrente noch die französische Staatsbürgerschaft. 1924 heiratete er die 17-jährige Cécile Burdej, die im Jahr zuvor mit ihren Eltern, vier Schwestern und einem Bruder aus Budapest nach Paris gekommen war. Ihre ebenfalls jüdische Familie stammte aus Russland. Drei der Töchter waren wenige Wochen nach der Ankunft in Paris an Typhus gestorben, vierzehn, zwölf beziehungsweise zehn Jahre alt. Der Autor macht eine Nichte von Ernest und Cécile Bruder ausfindig, aber deren Kindheitserinnerungen sind nicht besonders aufschlussreich. Er meint, dass Ernest Bruder im Winter 1925/26 – also zur Zeit der Geburt seiner Tochter Dora – Hilfsarbeiter in der Bremsenfabrik Westinghouse gewesen sein könnte.

1937 wohnten Dora Bruder und ihre Eltern bereits in einem Hotel am Boulevard Ornano, also unter der 1941 in der Vermisstenanzeige angegebenen Adresse. Im Nachbarhaus, Nummer 43, gab es damals ein altes Kino.

Man hatte es in den dreißiger Jahren wiederaufgebaut und ihm dabei das Aussehen eines Ozeandampfers verpasst. Im Mai 1996 bin ich wieder in diese Gegend gekommen. Das Kino ist einem Geschäft gewichen.

Am 9. Mai 1940 wurde die inzwischen 14-jährige Dora Bruder in einer Klosterschule in der Rue de Picpus angemeldet, und zwar in dem von Schwestern der Christlichen Schulen der Barmherzigkeit geleiteten Hilfswerk des Saint-Cœur-de-Marie. Die Oberin hieß damals Marie-Jean-Baptiste (1903 – 1985).

Ernest Bruder meldete sich am 4. Oktober 1940 aufgrund einer zwei Tage zuvor bekannt gegebenen Verordnung auf dem Polizeirevier des Clignancourt-Viertels und kam seiner Pflicht nach, ein Formular zur Registrierung der in Frankreich lebenden Juden auszufüllen. Allerdings gab er seine im Internat wohnende Tochter nicht an.

Am 14. Dezember 1941 endete Dora Bruders Internatsaufenthalt „wegen Weglaufens“. Knapp zwei Wochen später meldete Ernest Bruder seine Tochter bei der Polizei als vermisst, obwohl das riskant war, weil er ihre Existenz im Vorjahr verschwiegen hatte. Der Ich-Erzähler entdeckt eine entsprechende Eintragung in der Kladde des Polizeireviers von Clignancourt:

27. Dezember 1941. Bruder Dora, geboren am 25/2/26 in Paris, 12., wohnhaft 41 Boulevard Ornano. Anhörung Bruder Ernest, 42 Jahre, Vater.

Am 19. März 1942 wurde Ernest Bruder ins Lager Drancy gebracht. In den Unterlagen heißt es:

Bruder Ernest
21.5.99 – Wien
Judenakte Nr.: 49091
Beruf: Ohne
Kriegsversehrter zu 100%. Schütze, französischer Legionär, Gasvergiftung; Lungentuberkulose

Unter dem Datum des 17. April 1942 steht in der Kladde des Polizeireviers von Clignancourt:

17. April 1942. 2098 15/24. Minderj.-Sch. Fall Bruder Dora, 16 Jahre, abgängig lt. Protokoll 1917, ist in die mütterliche Wohnung zurückgekehrt.

Wo sich das Mädchen in der Zwischenzeit versteckte, lässt sich nicht mehr feststellen.

Es gibt keine Spur von ihr zwischen dem 14. Dezember 1941, dem Tag ihrer Flucht, und dem 17. April 1942, als sie der Kladde zufolge in die mütterliche Wohnung zurückkehrt, das heißt ins Hotelzimmer am Boulevard Ornano Nr. 41. Es ist nicht bekannt, wo Dora Bruder während dieser vier Monate gewesen ist, was sie getan hat, mit wem sie beisammen war.

Offenbar lief Dora Bruder nach kurzer Zeit erneut fort, den ein Freund des Autors entdeckt in den Archiven des Yivo Institute in New York zwischen all den anderen Papieren der ehemaligen Union générale des israélites de France, einer während der Besatzungszeit geschaffenen Organisation, das folgende Dokument:

3 L/SBL/
17. Juni 1942
0032
Mitteilung an Mademoiselle Salomon
Dora Bruder ist am 15. dieses Monats durch das Polizeirevier von Clignancourt wieder ihrer Mutter übergeben worden.
In Anbetracht ihrer wiederholten Versuche wegzulaufen scheint es ratsam, sie in eine Erziehungsanstalt einzuweisen. […]

Um wen es sich bei Mademoiselle Salomon handelte, findet der Autor nicht heraus.

Ich frage mich, was mit Dora zwischen dem 15. Juni, als sie sich auf dem Revier von Clignancourt befindet, und dem 17. Juni, dem Tag der „Mitteilung an Mademoiselle Salomon“, geschehen ist.

Ich glaube, dass am 15. Juni auf diesem Polizeirevier des Clignancourt-Viertels ein Räderwerk in Gang gesetzt worden ist, gegen das weder Dora noch ihre Mutter mehr etwas vermochten.

Am 19. Juni 1942 wurde Dora Bruder mit einem Gefangenenwagen in das Lager Les Tourelles in Paris gebracht. Ihr Name steht im Register:

Eingänge 19. Juni 1942
439. 19.6.42. 5. Bruder Dora, 25.2.26. Paris 12., Französin. 41 Bd d’Ornano. J. xx Drancy am 13/8/42

Am 13. August brachte man Dora Bruder mit rund 300 anderen Jüdinnen in Bussen von Les Tourelles in das Sammel- und Durchgangslager in Drancy, 20 Kilometer nordöstlich von Paris, wo sich ihr Vater Ernest bereits seit März befand und ihre Mutter Cécile vom 16. bis 23. Juli 1942 eingesperrt war.

Ernest und Dora Bruder waren dann unter den etwa tausend Männern und Frauen, die am 18. September 1942 aus Drancy weggebracht und in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden. Cécile Bruder brachte man am 9. Januar 1943 erneut nach Drancy, und am 11. Februar wurde sie ebenfalls nach Auschwitz geschickt.

Der Autor, der diese Daten in Erfahrung gebracht hat, schreibt 1996/97 das vorliegende Buch. Während der jahrelangen Recherchen und der Arbeit am Manuskript schaut er sich an den Orten um, an denen Dora Bruder in Paris war und erinnert sich an Parallelen in seinem eigenen Leben.

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Ein in der Ich-Form erzählender Autor – der in diesem Fall wohl deckungsgleich mit Patrick Modiano selbst ist – trägt zusammen, was er in mühsamen Recherchen über Dora Bruder herausgefunden hat, ein jüdisches Mädchen, das im September 1942 von Paris nach Auschwitz deportiert wurde und den Holocaust ebensowenig überlebte wie der Vater Ernest Bruder und die Mutter Cécile Bruder.

Es gibt nur wenige Spuren von Dora Bruder, und dabei handelt es sich fast ausschließlich um kurze Eintragungen in Amtssprache. Mit einer Vielzahl von Zitaten und präzisen Ortsangaben kreist Patrick Modiano die Existenz der Protagonistin ein. Fakten und Daten ergänzt er durch Hypothesen („ich vermute“, „ich stelle mir vor“). Außerdem veranschaulicht er die letzten Monate in Dora Bruders Leben durch kurze Schilderungen ähnlicher Schicksale, über die mehr bekannt ist. Mit dem Roman „Dora Bruder“ versucht Patrick Modiano, die Erinnerung an eines der sechs Millionen Holocaust-Opfer stellvertretend für alle anderen zu bewahren.

„Dora Bruder“ ist ein leiser, melancholischer und außergewöhnlicher Roman ohne Larmoyanz. Obwohl es keine Handlung im eigentlichen Sinne gibt und die Darstellung eher spröde wirkt, reißt die Lektüre mit. Schon nach ein paar Seiten kann man sich der Sogwirkung des Textes nicht mehr entziehen, und gerade wegen der Nüchternheit erschüttert dieses literarische Juwel ganz besonders.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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