Kazuo Ishiguro : Alles, was wir geben mussten

Alles, was wir geben mussten
Originalausgabe: Never let Me Go Faber and Faber, London 2005 Alles, was wir geben mussten Übersetzung: Barbara Schaden Karl Blessing Verlag, München 2005 ISBN: 978-3-89667-233-9, 349 Seiten btb, München 2006 ISBN: 978-3-442-73610-2, 349 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 31-jährige Betreuerin Kathy H. erinnert sich an Hailsham, wo sie zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen ohne Kontakt zur Außenwelt aufwuchs. Die Aufseherinnen hielten sie dazu an, auf ihre Gesundheit zu achten. Sie trieben viel Sport, und kreative Tätigkeiten wie Zeichnen standen im Lehrplan ganz oben. Kathys Freunde von damals – Ruth und Tommy – schlossen inzwischen ab ...
mehr erfahren

Kritik

Kazuo Ishiguro entwickelt eine beunruhigende Zukunftsvision über den Missbrauch der Gentechnologie. "Alles, was wir geben mussten" ist ein bewegender und sehr poetischer Roman auf hohem Niveau.
mehr erfahren

Die Betreuerin

Ich heiße Kathy H. Ich bin einunddreißig Jahre alt und arbeite inzwischen seit über elf Jahren als Betreuerin. Eine lange Zeit, scheint es, und dennoch soll ich jetzt noch acht Monate weitermachen, bis zum Ende des Jahres. Dann wären es fast genau zwölf Jahre […] Meine Spender haben sich fast immer viel besser gehalten als erwartet. Ihre Erholungszeiten waren beeindruckend, und kaum einer wurde als „aufgewühlt“ eingestuft, auch nicht vor der vierten Spende. (Seite 9)

So beginnt Kazuo Ishiguro seinen Roman „Alles, was wir geben mussten“.

Kathy gibt als Betreuerin ihr Bestes, aber die Aufgabe ist nicht immer einfach, beispielsweise wenn ein Spender es nicht schafft und vorzeitig abschließt.

Dann die Einsamkeit. Sie sind mit Scharen von Leuten aufgewachsen, haben überhaupt nie etwas anderes gekannt, und auf einmal sind Sie Betreuer. Stundenlang fahren Sie mutterseelenallein kreuz und quer durchs Land, von einem Zentrum zum nächsten, von einer Klinik zu anderen, übernachten in Rasthäusern, haben niemandem, mit dem Sie Ihre Sorgen teilen, niemanden, mit dem Sie lachen können. (Seite 251)

Hailsham

Wehmütig erinnert Kathy H. sich an Hailsham, eine Art Internat oder Waisenhaus in einer idyllischen Hügellandschaft irgendwo in England, in dem sie zusammen mit anderen Kollegiaten aufwuchs. Sie hatten keinen Kontakt zur Außenwelt, aber danach verlangten sie auch nicht, zumal die Aufseherinnen in Hailsham für eine glückliche Kindheit ihrer Schützlinge sorgten.

Die Kinder und Jugendlichen in Hailsham trieben viel Sport und wurden nicht nur von Schwester Trisha, die sie regelmäßig untersuchte, dazu angehalten, auf ihre Gesundheit zu achten. Rauchen war streng verboten, und damit die Zöglinge sich nicht an schlechten Vorbildern orientierten, gab es in der Bibliothek keine Bücher mit rauchenden Romanfiguren. Wenn Kathy sich „Songs After Dark“ von Judy Bridgewater aus dem Jahr 1956 anhörte, achtete sie darauf, dass der Cover der Kassette verdeckt blieb, denn darauf war die Sängerin mit einer brennenden Zigarette in der Hand abgebildet.

Eine der Aufseherinnen:

„Ihr wisst ja Bescheid. Ihr seid Kollegiaten. Ihr seid … etwas Besonderes. Für euch, für jeden und jede Einzelne von euch, ist es noch viel wichtiger als für mich, dass ihr euch gesund erhaltet, dass ihr nichts tut, was euren Organen schaden könnte.“ (Seite 88)

Die Oberaufseherin Miss Emily und ihre Kolleginnen förderten ganz besonders die Kreativität der jungen Leute, indem sie diese zum Zeichnen und Malen anhielten. Ein paar Mal im Jahr besuchte eine von den Kollegiaten nur „Madame“ genannte Dame Hailsham und nahm die besten Bilder mit, für eine Galerie, wie es hieß.

Als Kathy etwa sieben oder acht Jahre alt war, fiel ihr ein Junge auf, der sich häufig zu Wutanfällen hinreißen ließ und gerade deshalb immer wieder von Mitschülern provoziert wurde. Unerwartet lernte Tommy innerhalb weniger Wochen, sich zu beherrschen. Damit durchbrach er den Teufelskreis, denn wenn er nicht ausrastete, gab es für andere keinen Ansporn, ihn zu ärgern. Kathy, der Tommy leid getan hatte, wenn er gehänselt worden war, erkundigte sich nach dem Grund seiner Verhaltensänderung, und er vertraute ihr an, dass die Tobsuchtsanfälle mit der Frustration über seine fehlende Kreativität im Zeichnen zusammenhingen. Seit Miss Lucy ihm erklärt habe, es sei völlig in Ordnung, wenn er nicht besser zeichnen und malen könne, verspüre er den Druck nicht mehr.

Tommy freundete sich mit Kathy an, und wenn ihn etwas bewegte, holte er ihre Meinung ein, aber nach der Pubertät verliebte er sich nicht in sie, sondern in ihre Freundin Ruth. Die beiden schliefen miteinander. Gegen Sexualität hatten die Aufseherinnen nichts einzuwenden. Verhütung war in Hailsham kein Thema, weil die Zöglinge keine Kinder bekommen konnten.

Als Miss Lucy zufällig hörte, wie zwei etwa fünfzehn Jahre alte Jungen davon träumten, später Filmschauspieler in den USA zu werden, versammelte sie eine Gruppe von Zöglingen um sich und begann zu reden:

„Wenn niemand sonst mit euch spricht […], dann muss ich es eben tun. Meiner Ansicht nach besteht das Problem darin, dass ihr es wisst und es doch nicht wisst. Man hat euch etwas gesagt, aber keiner von euch versteht es wirklich, und ich wage zu behaupten, dass manche Leute es nur zu gern dabei belassen würden. Ich nicht. Wenn ihr ein einigermaßen anständiges Leben führen wollt, müsst ihr Bescheid wissen – wirklich Bescheid wissen. Niemand von euch wird nach Amerika gehen, niemand von euch wird ein Filmstar […] Euer Leben ist vorgezeichnet. Ihr werdet erwachsen, und bevor ihr alt werdet, noch bevor ihr überhaupt in die mittleren Jahre kommt, werdet ihr nach und nach eure lebenswichtigen Organe spenden. Dafür wurdet ihr geschaffen, ihr alle […] Ihr seid zu einem Zweck auf die Welt gekommen, und über eure Zukunft ist entschieden, für jeden und jede von euch […] Bald werdet ihr Hailsham verlassen, und der Tag ist nicht mehr so fern, an dem ihr euch auf die ersten Spenden vorbereiten werdet. Daran müsst ihr immer denken. Wenn ihr ein anständiges Leben führen wollt, müsst ihr wissen, wer ihr seid und was euch bevorsteht, jeder Einzelne von euch.“ (Seite 102f)

Miss Lucys Ansprache wühlte die Jugendlichen auf, und sie machten sich Gedanken darüber, warum die Aufseherin ihnen das alles gesagt hatte. Über den Inhalt diskutierten sie nicht; den verdrängten sie.

Unvermittelt erklärte Miss Lucy Tommy einige Zeit später, es sei ein schwerer Fehler gewesen, ihm zu sagen, er müsse nicht kreativ sein. Zeichnen und Malen seien sehr wichtig. Kurz darauf verließ sie Hailsham, ohne dass die Zöglinge etwas über die Gründe erfuhren.

Die Cottages

Im Alter von sechzehn Jahren kamen Kathy, Tommy und Ruth mit fünf anderen Hailsham-Abgängern zusammen in die „Cottages“, eine Art Landkommune auf einem ehemaligen Bauernhof. Aufseherinnen gab es dort keine mehr. Nur der alte Keffers kam zwei-, dreimal pro Woche mit einem Lieferwagen und versorgte die Bewohner.

Chrissie und Rodney gehörten zu den Veteranen in den Cottages, das heißt, sie hatten hier schon ein Jahr lang gelebt, bevor die jüngsten Zugänge eintrafen. Als sie von einem Ausflug nach Cromer an der Küste von Norfolk zurückkamen, berichteten sie, dass sie durch die Fenster eines Großraumbüros eine Frau entdeckt hatten, die Ruth ähnlich sah, eine Mögliche. Weil Ruth die Büroangestellte, nach deren Modell sie möglicherweise geschaffen worden war, unbedingt selbst sehen wollte, organisierte Rodney bei nächster Gelegenheit erneut ein Auto und fuhr mit seiner Freundin Chrissie, Ruth, Tommy und Kathy nach Norfolk. Als die über Fünfzigjährige das Büro verließ, folgten sie ihr auf der Straße, aber aus der Nähe erkannten sie, dass die Frau Ruth doch nicht so ähnlich war, wie es aus größerer Entfernung den Anschein gehabt hatte.

Während der Fahrt erzählten Chrissie und Rodney, sie hätten erfahren, dass es für Liebespaare die Möglichkeit gebe, einen Aufschub von zwei bis drei Jahren zu bekommen. Das Gerücht hatten auch Kathy, Ruth und Tommy bereits gehört. Wie aber sollten die Liebenden nachweisen, dass ihre Gefühle echt waren? Tommy vermutete, dass dazu die von Madame für die Galerie gesammelten künstlerischen Arbeiten dienten, denn die Aufseherinnen in Hailsham hatten immer wieder gesagt, die Zeichnungen enthüllten die Seele. Als Tommy mit Kathy allein war, vertraute er ihr an, dass er eifrig übte, Fantasietiere zu zeichnen, um bei einem Antrag, den er mit Ruth zusammen stellen wollte, auch etwas Künstlerisches vorweisen zu können.

Ruth hielt jedoch nichts von Tommys Zeichnungen und behauptete, Kathy habe sich auch bereits darüber lustig gemacht.

„Solang die Leute denken, du machst diese kleinen Viecher zum Spaß – gut“, meinte Ruth, „aber behaupte bloß nicht, es sei dir ernst damit. Bitte.“ (Seite 237)

Dadurch kam es zu einem Zerwürfnis zwischen den Freunden. Kurz darauf meldete Kathy sich für die Ausbildung zur Betreuerin.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Ruth (Spoiler)

Kathy arbeitete bereits seit gut sechs Jahren als Betreuerin, als sie zufällig Laura wiedersah, mit der sie als Kind in Hailsham befreundet gewesen war. Laura war ebenfalls Betreuerin, und sie standen deshalb beide unter Zeitdruck. Sie konnten nur kurz über die Schließung von Hailsham reden und darüber, dass es Ruth nach ihrer ersten Spende nicht gut ging. Laura brachte Kathy auf den Gedanken, Ruths Betreuerin zu werden. Also besuchte Kathy Ruth im Erholungszentrum in Dover, etwa zwei Monate nach deren erster Spende, und nutzte ihre neue Berechtigung, sich Spender aussuchen zu dürfen, um Ruths Betreuerin abzulösen.

Ruth war selbst fünf Jahre lang Betreuerin gewesen. Nach dem Aufenthalt in den Cottages hatte sie Tommy aus den Augen verloren. Sie wusste jedoch, dass er sich zur Zeit im Kingsfield-Zentrum von seiner zweiten Spende erholte. Von dort holten ihn Ruth und Kathy für einen Ausflug zu einem an der Küste gestrandeten Boot ab.

Ruth bat Kathy um Verzeihung, weil sie in Hailsham alles getan hatte, um eine Liebesbeziehung zwischen ihrem Freund und ihrer besten Freundin zu verhindern, obwohl ihr klar gewesen war, dass Kathy und Tommy zusammengehörten. Sie gab ihrer Freundin die Adresse von „Madame“, nach der sie eigens geforscht hatte, damit Kathy und Tommy einen Aufschub für Liebespaare beantragen konnten.

Während ihrer zweiten Spende schloss Ruth ab.

Das System (Spoiler)

Kurz nach Tommys dritter Spende übernahm Kathy seine Betreuung. Endlich wurden sie ein Paar und schliefen auch miteinander. Als die vierte Spende bevorstand, überprüfte Kathy die Adresse in Littlehampton, die Ruth ihr gegeben hatte. Sie stimmte. Daraufhin meldet sie Tommy für einen Tag lang zu Labortests ab und fuhr mit ihm nach Littlehampton. Sie erkannten Madame auf der Straße, folgten ihr zu ihrem Haus, sprachen sie dort an und stellten sich als Hailsham-Absolventen vor. Die Dame nahm sie mit ins Haus, und dort stießen Kathy und Tommy zu ihrer Überraschung auf Miss Emily. Die frühere Oberaufseherin saß im Rollstuhl. Marie-Claude hätte sie nicht hereinbitten dürfen, meinte sie, das verstoße gegen die Vorschriften, unternahm jedoch nichts, sondern stand den Besuchern Rede und Antwort. Nachdem Tommy und Kathy ihr Anliegen vorgebracht hatten, erfuhren sie, dass das Gerücht, Liebespaaren könne ein Aufschub gewährt werden, jeder Grundlage entbehrte. Aber wozu dann die Galerie gedient habe, fragte Tommy. Miss Emily antwortete, die eigentliche Frage laute, zu welchem Zweck Hailsham gegründet worden sei.

„Wir nahmen Ihre Kunstwerke an uns, weil wir dachten, sie enthüllten Ihre Seele. Besser ausgedrückt: Wir taten es, um zu beweisen, dass Sie überhaupt eine Seele haben.“ (Seite 315)

Als in den Naturwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg, zu Beginn der Fünfzigerjahre, mehrere bahnbrechende Fortschritte erzielt und bis dahin ungeahnte medizinische Therapie-Möglichkeiten entwickelt worden waren, hatte sich kaum jemand für die ethischen Fragen interessiert. Der medizinische Fortschritt ließ sich nicht aufhalten. Menschen, die sich um todkranke Kinder, Partner, Eltern oder Freunde sorgten, die auf Organtransplantationen angewiesen waren, vermieden es, sich mit dem Schicksal der gezüchteten Organspender auseinanderzusetzen. Nur zu gern schlossen sie sich der allgemeinen Meinung an, dass die Spender keine Seele haben. Sie betrachteten die Kollegiaten – also die Klone – als Ersatzteillager.

„Die Welt wollte nicht wissen, wie das Spendenprogramm in Wahrheit ablief. Sie wollte nicht über Kollegiaten wie Sie nachdenken oder über die Umstände, unter denen Sie aufgezogen wurden.“ (Seite 321)

Deshalb wurden Sie lange Zeit totgeschwiegen, und die Leute taten alles, um nicht über Sie nachdenken zu müssen. Und wenn sie es dennoch taten, versuchte man sich einzureden, dass Sie in Wirklichkeit anders seien als wir. Nicht ganz menschlich eben, sodass es keine Rolle spielte. (Seite 319)

Um dies zu ändern, gründeten Emily und „Madame“ Marie-Claude Hailsham. Ähnliche Einrichtungen wie Glenmorgan House und Saunders Trust folgten. Die Betreiber wollten der Welt beweisen, dass sich Kollegiaten, die in einer kultivierten Umgebung aufwachsen, wie normale Menschen zu empfindsamen und intelligenten Wesen entwickeln können. Deshalb wurden sie in Hailsham zu kreativen Tätigkeiten angehalten. Marie-Claude sammelte die besten Zeichnungen, präsentierte sie in den Siebzigerjahren auf Ausstellungen, zu denen sie Regierungsmitglieder, Bischöfe und andere Meinungsführer einlud. Außerdem wurden Vorträge gehalten und Spenden gesammelt. Allmählich begann sich die öffentliche Wahrnehmung der Kollegiaten zu ändern. Der eine oder andere begriff, dass die Kollegiaten auch eine Psyche, einen Charakter, Empfindungen, Erfahrungen und Sehnsüchte haben.

Dann machte jedoch der Morningdale-Skandal alle Anstrengungen zunichte. Der Wissenschaftler James Morningdale, der ein Labor in Schottland betrieb, bot Eltern an, ihnen zu Kindern mit – je nach Wunsch – besonderen intellektuellen oder sportlichen Fähigkeiten zu verhelfen. Das überschritt den gesetzlichen Rahmen, und Enthüllungen darüber lösten einen Skandal aus.

„Der Skandal […] schuf eine gewisse Atmosphäre, verstehen Sie. Er erinnerte die Leute an eine Furcht, die sie schon immer gehabt hatten. Kollegiaten, wie Sie es sind, für das Spendenprogramm zu erzeugen ist eine Sache. Aber eine Generation künstlich gezeugter Kinder, die ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen würden? Kinder, die uns anderen nachweislich überlegen wären? Um Gottes willen. Das machte den Leuten Angst. Davor schreckten sie zurück.“ (Seite 320)

Mit dem Meinungsumschwung in Bezug auf die Gentechnik hatte sich auch die Einstellung gegenüber den Kollegiaten geändert; die Sponsoren waren abgesprungen, und schließlich hatten Hailsham, Glenmorgan House und Saunders Trust schließen müssen.

Kathy und Tommy fragten, warum Miss Lucy Hailsham damals verlassen habe. Emily erklärte es ihnen: Lucy Wainright hatte es für Verrat gehalten, die Zöglinge nicht voll über ihr Los aufzuklären. Emily und die anderen Kolleginnen waren jedoch anderer Meinung gewesen.

„Das bedeutete bisweilen auch, dass wir Ihnen manches verschweigen mussten, dass wir Sie belogen. Ja, in vielerlei Hinsicht haben wir Sie getäuscht. Ich denke, Sie können es wohl so nennen. Aber wir haben Sie beschirmt in all den Jahren, und wir haben Ihnen eine Kindheit geschenkt. Lucy hat es wirklich gut gemeint. Aber wenn sie sich durchgesetzt hätte, wäre es mit Ihrer glücklichen Zeit in Hailsham sehr schnell vorbei gewesen. Sehen Sie sich doch heute an! Ich bin so stolz, Sie beide zu sehen. Sie haben Ihr Leben auf den Fundamenten errichtet, die wir Ihnen geschaffen haben. Sie wären nicht die, die Sie heute sind, wenn wir Sie nicht beschützt hätten. Sie hätten sich nicht für den Unterricht interessiert. Sie hätten sich nicht ins Schreiben und Malen vertieft – wieso auch, wenn Sie gewusst hätten, was Sie alle erwartet. Sie hätten sich gesagt, das sei doch alles sinnlos, und was hätten wir Ihnen entgegenhalten können? Aus diesem Grund musste Lucy Wainright gehen.“ (Seite 325)

Nach dem enttäuschenden, schockierenden Besuch in Littlehampton schliefen Kathy und Tommy zwar noch hin und wieder miteinander, aber ihre Beziehung wurde brüchig. Dafür näherte Tommy sich anderen Spendern und meinte des Öfteren, Kathy könne ihn nicht verstehen, weil sie noch keine Spenderin sei.

Zu der Frage, ob Betreuer wichtig seien, meinte er kurz vor seiner vierten Spende:

„Okay, es ist sehr nett, eine gute Betreuerin zu haben. Aber ist es letzten Endes tatsächlich so wichtig? So oder so werden die Spender alle spenden und dann abschließen.“ (Seite 342)

Tommy befürchtete, dass das Gerücht wahr sein könnte, demzufolge es Kollegiaten gibt, die auch nach der vierten – also eigentlich letzten – Spende noch irgendwie bei Bewusstsein bleiben und mitbekommen, dass ihnen weitere Organe entnommen werden. In dieser Phase gibt es jedoch keine Erholungszentren, keine Betreuer und keine Freunde mehr; man liegt hilflos ausgeliefert da, bis die Ärzte einen abschalten.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

„Alles, was wir geben mussten“ wird konsequent aus der Perspektive der Protagonistin in der Ich-Form erzählt. Es gibt also auch keinen Blick „von außen“. Kathy H. erinnert sich an ihre Kindheit und Jugend in Hailsham, einer Art Internat oder Waisenhaus, und wie sie als Betreuerin ihre damaligen Freunde Ruth und Tommy wiedersah, die inzwischen nach mehreren Spenden abgeschlossen haben. Das Buch beginnt wie ein Internats-Roman, auch wenn Begriffe wie Betreuer, Spender, Abschluss irritieren. Wir ahnen bald, um was es sich bei den Kindern und Jugendlichen in Hailsham handelt, obwohl es erst in der Mitte des Buches explizit erwähnt wird. Spätestens dann haben wir auch begriffen, dass die Handlung gewissermaßen in einer Parallelwelt stattfindet. „Alles, was wir geben mussten“ ist kein herkömmlicher Science-Fiction-Roman. Es geht um eine beunruhigende Utopie, die Kazuo Ishiguro nicht in die entfernte Zukunft verlegt, sondern am Ende des 20. Jahrhunderts in England spielen lässt.

Eindringlich warnt Kazuo Ishiguro vor dem Missbrauch der Gentechnik, aber er verzichtet auf ethische und technische Exkurse, denn es geht ihm in „Alles, was wir geben mussten“ nicht um Technologiekritik oder Kulturpessimismus, sondern um die Frage nach dem Wesen des Menschseins.

Ein Rebell gegen die „Schöne neue Welt“ (Aldous Huxley, 1932) endet im Wahnsinn. In „Alles, was wir geben mussten“ lehnen sich die „Spender“ nicht gegen das grausame System auf, sondern nehmen es widerstandslos hin. Kazuo Ishiguro stellt auch keinen totalitären Überwachungsstaat dar, wie es George Orwell in „1984“ tat. Stattdessen unterläuft er unsere Erwartungen und erzeugt gerade durch die inhaltliche und formale Zurückhaltung eine beklemmende Atmosphäre. Kazuo Ishiguro unterlässt jede Effekthascherei. Sanft, schlicht, sachlich und unaufgeregt ist die Sprache, die er seiner Protagonistin in den Mund legt. Gerade das macht den Schrecken so erschütternd. „Alles, was wir geben mussten“ ist ein bewegender, nachdenklicher und sehr poetischer Roman auf hohem Niveau.

Den Roman „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Corinna Kirchhoff (Regie: Walter Adler, Dänikon/Zürich 2007, ISBN: 978-3952308752).

Mark Romanek verfilmte den Roman: „Alles, was wir geben mussten“.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2011
Textauszüge: © Karl Blessing Verlag

Mark Romanek: Alles, was wir geben mussten

Gentechnik
Klonen

Kazuo Ishiguro (kurze Biografie, Bibliografie)
Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb
Kazuo Ishiguro: Als wir Waisen waren

Bertolt Brecht - Dreigroschenroman
Die Figuren im "Dreigroschenroman" wirken zynisch gebrochen, und die Zusammenhänge von Kriminalität und Kapitalismus sind satirisch übersteigert. Stilistisch knüpft Bertolt Brecht in seinem einzigen Roman an das Genre des Thrillers an, aber es geht nicht um Unterhaltung, sondern um gesellschaftliche Missstände.
Dreigroschenroman