Aldous Huxley : Schöne neue Welt

Schöne neue Welt
Originalausgabe: Brave New World, 1932 Welt – wohin?, 1932 Wackere neue Welt, 1950 Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft Übersetzung: Herberth E. Herlitschka Fischer Bücherei, Frankfurt/M 1953, 217 Seiten Neuübersetzung: Uda Strätling Nachwort von Tobias Döring S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2013, 365 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In "Schöne neue Welt" skizziert Aldous Huxley einen totalitären Weltstaat, der "Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit" durch künstliche Fortpflanzung, Konditionierung und Indoktrination sicherstellt. Es herrscht Frieden, die Gesellschaft funktioniert, aber der Preis ist der Verzicht auf Freiheit und Kultur.
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Kritik

Die Handlung in dem dystopischen Roman "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley ist rudimentär und dient nur dazu, die gesellschaftskritische Utopie zu beschreiben.
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Im Jahr 632 n. F. (nach Ford, nach der Produktion des ersten T-Modells in Detroit im Jahr 1908 nach der alten Zeitrechnung) führt der Brut- und Normdirektor (BUND) des Weltstaates Studenten durch die Brut- und Normzentrale in Berlin-Dahlem (im Original: Central London Hatchery and Conditioning Centre).

Kinder werden längst nicht mehr von Müttern geboren, sondern in isolierten Ovarien gezüchtet, die Frauen sich gegen eine Zahlung von sechs Monatsgehältern exstirpieren lassen. Mit einem einzigen Ovarium werden bis zu 15 000 Individuen erzeugt. Angestellte der Brut- und Normzentrale pflanzen die geprüften und künstlich befruchteten Eier in Lappen schweinischen Bauchfells und füllen sie in Flaschen. Durch die kontrollierte Zuführung von Blutsurrogat, Sauerstoff, Alkohol und anderen Stoffen wird die Kastenzugehörigkeit festgelegt. Während Embyronen für die Kasten Alpha und Beta einzeln heranwachsen, werden die befruchteten Eier, die für die niedrigeren Kasten – Gamma, Delta, Epsilon – bestimmt sind, durch das Bokanowsky-Verfahren dazu angeregt, sich so zu teilen, dass acht bis sechsundneunzig Klone entstehen. Solche Bokanowsky-Gruppen eignen sich vorzüglich als Belegschaft kleiner Fabrikbetriebe. Und sie entsprechen dem Wahlspruch des Weltstaates: „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“.

Die Studenten besichtigen als nächstes das Embryonendepot. Die Flaschen, in denen die Embryonen reifen, werden auf einem Förderband mit einer Geschwindigkeit von 33 1/3 Zentimeter pro Stunde in zweihundertsiebzig Tagen zum Entkorkungsraum transportiert.

Die kleinen Kinder sind zwar von Anfang an in Kasten eingeteilt, aber für die Aufgaben, die sie als Erwachsene erfüllen sollen, müssen sie erst noch in den Neo-Pawlow’schen Normungssälen konditioniert werden. Indem ihnen beispielweise beim Anblick von Blumen und Büchern Stromschläge verabreicht werden, assoziieren sie diese unproduktiven Dinge zeitlebens mit Unangenehmem und meiden sie dementsprechend. Während sie schlafen, werden sie durch Tonband-Botschaften indoktriniert. Sie lernen, froh zu sein, ihrer Kaste und keiner anderen anzugehören. Außerdem wird ihnen eingetrichtert, dass sie sich nur in der Gesellschaft wohlfühlen. 62 000-mal hören die Kinder den Wahlspruch „Jeder ist seines Nächsten Eigentum“.

Im Garten, wo die Kinder nackt herumtollen, werden sie zu sexuellen Spielen angehalten. Dass sexuelle Spiele unter Kindern früher als unanständig galten, können die Studenten, die auf ihrem Rundgang auch hierher kommen, kaum glauben. Einen weinenden Jungen, der sich weigert, mit einem Mädchen im Gebüsch zu spielen, bringt man zur psychologischen Aufsicht, damit sein abnormes Verhalten korrigiert werden kann.

Unversehens trifft die Studentengruppe auf seine Fordschaft Mustafa Mannesmann (im Original: Mustapha Mond), den Weltaufsichtsrat für Mitteleuropa. Der referiert kurz über die Geschichte des Weltstaates und dessen Erfolge:

Nach dem Neun-Jahres-Krieg 146 n. F., bei dem Massenvernichtungswaffen eingesetzt wurden, kam es zu einem Zusammenbruch des globalen Finanz- und Wirtschaftssystems. Um die Krise zu überwinden, bildeten die damaligen Staatsregierungen einen Weltstaat. Der schuf durch die Überwindung der Barbarei eine friedliche, glückliche Gesellschaft. Vor 150 n. F. verfasste Bücher wurden verboten und Museen geschlossen. Anstelle von Kunst und Literatur gibt es das Fühlkino. Bildung beschränkt sich auf eine für die Gemeinschaft praktisch nützliche Wissensvermittlung. Die alten Religionen wurden durch einen Kult abgelöst, der auf die Verehrung von Henry Ford ausgerichtet ist, des Mannes, der die Fließbandfertigung erfand und das Auto für die breite Masse erschwinglich machte. Neben Henry Ford wird auch Sigmund Freud geschätzt, der Begründer der Psychoanalyse.

Die natürliche Fortpflanzung gilt als primitiv und ekelerregend. Sexuelle Kontakte dienen nur dem Vergnügen und sind ausdrücklich erwünscht, allerdings nur, solange sie nicht zu festen Bindungen führen.

Keuschheit heißt Leidenschaft. Keuschheit heißt Neurasthenie. Und Leidenschaft und Neurasthenie bedeuten Unbeständigkeit. Unbeständigkeit aber bedeutet das Ende der Zivilisation. (Seite 199)

Zwar werden nur siebzig Prozent der weiblichen Embryonen durch die Zugabe männlicher Sexualhormone unfruchtbar gemacht, damit stets genügend Ovarien zur Verfügung stehen, aber die Frauen, die Kinder bekommen könnten, nehmen Verhütungsmittel, und in Sanssouci gibt es eine Abtreibungsanstalt. Eine Schwangerschaft wird als skandalös empfunden, und jemanden nach seiner Mutter zu fragen, gilt als massive Beleidigung.

Liebe und andere Gefühlsaufwallungen sind verpönt. Als Antidepressivum steht überall eine als Soma bezeichnete Droge zur Verfügung, die zugleich als Aphrodisiakum wirkt.

Der Brut- und Normdirektor schwärmt vor den Studenten:

„Heutzutage – sehn Sie, das ist wahrer Fortschritt! – arbeiten die alten Männer, erfreuen sich ihrer Geschlechtskraft, sind immer beschäftigt, das Vergnügen lässt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken. Und selbst wenn sich durch einen unglückseligen Zufall eine Lücke in der ununterbrochenen Kette ihres Zeitvertrebs auftut, ist immer Soma zur Hand, das köstliche Soma! Ein halbes Gramm genügt für einen halbfreien Tag, ein Gramm fürs Wochenende, zwei Gramm für einen Ausflug in die Pracht des Orients, drei Gramm für eine dunkle Ewigkeit auf dem Mond. Und wenn sie zurückkehren, sind sie bereits über den Abgrund hinweg, stehn auf dem sichern Boden täglicher Arbeit und Unterhaltung, eilen von einem Fühlkino ins andre, von einem pneumatischen [großbusigen] Mädchen zum nächsten, von elektromagnetischem Golf zu …“ (Seite 60)

Impfungen im Embryonendepot verhindern Krankheiten. Und es besteht TLE-Behandlungszwang. TLE steht für Tolle-Leidenschaft-Ersatz. Dabei wird der ganze Organismus einmal im Monat mit Adrenalin durchflutet. Das hat die gleiche hygienische Wirkung wie Wut oder Angst. Die Menschen bleiben bis ins Alter vital und leistungsstark. Mit sechzig, siebzig Jahren sterben sie im Soma-Rausch. Schon die Kinder führt man durch Moribundenkliniken, damit sie durch die Sterbenormung die Todesangst ablegen.

Als ob ein Menschenleben der Rede wert wäre! (Seite 175)

Die Toten werden verbrannt. In den Krematorien gewinnt man allein in Deutschland pro Jahr 600 Tonnen Phosphor, der als Dünger in der Landwirtschaft zum Einsatz kommt.

„Ein schöner Gedanke, dass wir dem Gemeinwohl nützen können, auch wenn wir schon tot sind!“ (Seite 72)

Lenina Braun (im Original: Lenina Crowne), eine der Beta-Kaste zugehörige neunzehnjährige Mitarbeiterin der Brut- und Normzentrale in Berlin-Dahlem, wird von ihrer Freundin Stinni (Fanny) kritisiert, weil sie sich bereits seit drei Monaten immer wieder mit ihrem Kollegen Henry Päppler (Henry Foster) trifft.

„Allen Ernstes: ich glaube, du solltest vorsichtiger sein. Es ist schrecklich ungehörig, so lange mit einem und demselben Mann zu gehen. Als Vierzig-, als Fünfundvierzigjährige ist das vielleicht verzeihlich. Aber in deinem Alter, Lenina! Es gehört sich wirklich nicht.“ (Seite 47)

Da vertraut Lenina ihrer Freundin an, dass sie ein Auge auf den Psychologen Sigmund Marx (im Original: Bernard Marx) geworfen hat, obwohl er als Außenseiter gilt. Sigmund ist zwar sehr intelligent, aber er leidet darunter, dass er – vermutlich aufgrund eines Fehlers im Embryonendepot – acht Zentimeter kleiner ist, als es sich für einen Alpha-Mann gehört. Den Minderwertigkeitskomplex kompensiert er durch nonkonformistische Anschauungen. Befreundet ist er nur mit Helmholtz Holmes-Watson (Helmholtz Watson), einem Lektor am Schriftstellerseminar der Hochschule für Emotionstechnik, der in seiner Freizeit als Gefühlsingenieur tätig ist, also bei der Produktion von Filmen mitwirkt.

Als Lenina mit Sigmund ausgeht, fragt er:

„Wie wäre es, wenn ich könnte, wie ich wollte; wenn ich frei wäre, nicht mehr der Sklave meiner Normung?“
„Sigmund, du sagst so grauenhafte Sachen.“ (Seite 86)

Lenina wundert sich, warum er nicht Soma nimmt, wenn er so schreckliche Einfälle hat.

Ein Bekannter namens Benito Hoover lädt Lenina ein, ihn zum Nordpol zu begleiten, aber sie zieht es vor, mit Sigmund ein Reservat in New Mexico zu besichtigen. Reservate sind Gebiete, in denen Wilde leben, die sich nicht in die zivilisierte Gesellschaft integrieren lassen. Die Bewohner zeugen und gebären Kinder noch auf die barbarische Weise. – Sigmund ersucht den Brut- und Normdirektor um eine entsprechende Reiseerlaubnis. Der BUND erinnert sich, wie er vor zwanzig Jahren selbst in dem Reservat war und seine Begleiterin in einem Sturm verlor. Sie gilt als verschollen.

Mit der Blauen Pazifikrakete fliegen Sigmund und Lenina in sechseinhalb Stunden nach Santa Fé. Dort übernachten sie in einem Hotel, bevor sie am nächsten Morgen zum Pueblo Malpais weiterreisen. Vom Anblick stillender Mütter ist Lenina ebenso entsetzt wie von der Begegnung mit kranken, gebrechlichen und altersschwachen Menschen.

Bei einem religiösen Geißelungs-Ritual der Wilden fällt Sigmund und Lenina ein blonder, blauäugiger und hellhäutiger Mann auf. Michel (im Original: John) – so heißt er – wuchs im Reservat bei seiner Mutter Filine (Linda) auf, die aus der Zivilisation stammt, aber von ihrem Begleiter Tomakin während eines Unwetters in dem Reservat zurückgelassen wurde. Jäger fanden sie und pflegten sie gesund. Damals war sie bereits schwanger, und weil es im Pueblo Malpais keine Möglichkeiten zur Abtreibung gibt, gebar sie einen Sohn. Weil Filine aufgrund ihrer Sozialisation in Deutschland an Promiskuität gewöhnt ist, gilt sie als lasterhaft und wird von den monogam lebenden Bewohnern des Reservats gemieden. Ihren Kummer versucht sie durch Alkohol zu vergessen.

Sigmund ahnt, dass es sich bei Michels Vater um den Brut- und Normdirektor in Berlin handelt und er weiß inzwischen auch, dass dieser vorhat, ihn wegen seiner Unangepasstheit nach Island zu versetzen. Um die Pläne des Direktors zu durchkreuzen, bittet er den für Mitteleuropa verantwortlichen Weltaufsichtsrat, Filine und Michel mit nach Berlin bringen zu dürfen. Aus Neugierde erteilt Mustafa Mannesmann die Genehmigung.

Wie befürchtet, will der BUND ein Exempel statuieren und vor der versammelten Belegschaft der Brut- und Normzentrale in Berlin-Dahlem Sigmund Marx‘ Versetzung bekanntgeben. Doch da lässt dieser Michel und dessen Mutter hereinkommen. Auf diese Weise erfahren alle, dass der Direktor mit einer Frau ein Kind zeugte. Der Skandal veranlasst ihn, seine Stelle von sich aus aufzugeben.

Weniger Glück hat Sigmund in der Liebe: Die von ihm angestrebte dauerhafte Beziehung mit Lenina bleibt ein Wunschtraum, denn sie hält alles, was über eine unbedeutende Affäre hinausgeht, für unnormal.

Während Filine, die aufgrund ihrer Alkoholkrankheit ausgezehrt ist, die meiste Zeit im Soma-Rausch verbringt, werden Sigmund Marx und Helmholtz Holmes-Watson beauftragt, den Wilden zu betreuen, der von den Menschen der Alpha-Kaste wie ein exotisches Tier bestaunt wird. Viele von ihnen nehmen Kontakt zu Sigmund auf, um Michel aus der Nähe beobachten zu können. Die Popularität ermöglicht es Sigmund, mit so vielen Frauen Sex zu haben wie nie zu vor. Doch als Michel sich eines Tages weigert, sich von eigens angereisten prominenten Gästen begaffen zu lassen, wird Sigmund wieder zum Außenseiter.

Michel betet Lenina an, und sie ist von ihm fasziniert. Als er ihr eine Liebeserklärung macht, versteht sie das allerdings nur als Aufforderung zum Sex.

„Warum hast du das dann nicht gleich gesagt?“, flüsterte sie […]
„Du dummer Junge!“, sagte sie. „ich hab ja solches Verlangen nach dir gehabt!“ (Seite 164)

Sie zieht sich erregt aus, aber da weicht der Wilde erschrocken vor ihr zurück.

Er besucht seine sterbende Mutter in der Moribundenklinik in Potsdam. Eine Gruppe von Kindern wird herumgeführt. Als ein Junge sich über Filines Aussehen lustig macht, ohrfeigt Michel ihn. Die Pflegerin ist entsetzt, denn damit gefährdet er die Konditionierung der Kinder, die lernen sollen, dass der Tod etwas Normales ist.

Beim Verlassen der Klinik trifft Michel auf hundertzweiundsechzig hier angestellte Deltas, die sich in der Halle drängen, weil gerade die tägliche Soma-Ration verteilt wird.

„Gefällt euch etwa euer Sklavendasein?“, rief der Wilde […]
Sein Gesicht glühte, seine Augen brannten vor Eifer und Entrüstng. „Wollt ihr Kleinkinder bleiben?“ (Seite 180)

Er wirft das Soma aus dem Fenster und versucht, die Deltas zu einer Rebellion anzustiften. Aber diese sind wütend, weil er ihnen das Soma wegnimmt und greifen ihn an. Sigmund und Helmholtz werden alarmiert und eilen herbei. Während Helmholtz Michel beisteht, hält Sigmund sich ängstlich zurück, bis es der Polizei gelungen ist, die aufgebrachten Deltas mit Soma-Dämpfen und Lautsprecher-Durchsagen zu beruhigen.

Sigmund und Helmholtz werden zusammen mit Michel festgenommen und zu Seiner Fordschaft Mustafa Mannesmann gebracht. Der Weltaufsichtsrat vertraut den Häftlingen an, dass er verbotene Literatur wie „Der Sturm“ („Mir klimpern manchmal viel tausend helle Instrument‘ ums Ohr“) kenne. Als der Wilde, der mit Werken von William Shakespeare das Lesen gelernt hat, „Othello“ erwähnt und meint, das Stück sei besser als jeder Fühlfilm, gibt Mustafa Mannesmann ihm Recht.

„Selbstverständlich“, stimmte der Aufsichtsrat bei. „Aber diesen Preis müssen wir eben für die Beständigkeit der Welt bezahlen. Man muss zwischen menschlichem Glück und dem wählen, was die Leute hohe Kunst zu nennen pflegten. Wir haben die hohe Kunst geopfert. Dafür haben wir Fühlfilme und die Duftorgel.“ (Seite 186)

Dann kommt Mustafa Mannesmann darauf zu sprechen, dass eine nur aus Alphas bestehende Gesellschaft nicht funktioniere. Das habe ein Experiment bewiesen. 473 n. F. habe man die Insel Zypern geräumt und mit 22 000 Alphas neu besiedelt. Sie bekamen alle für Industrie und Landwirtschaft erforderlichen Resourcen.

„Das Ergebnis entsprach haargenau aller theoretischen Voraussicht. Der Boden wurde nicht ordentlich bestellt, in den Fabriken gab es Streiks, die Gesetze wurden missachtet, Befehle nicht befolgt, alle für einige Zeit zu untergeordneten Arbeiten Bestimmten intrigierten unablässig um höhere Posten, und die Höhergestellten spannen Gegenintrigen, damit sie um jeden Preis auf ihren Plätzen bleiben könnten. Binnen sechs Jahren gab es einen prima Bürgerkrieg. Als neunzehntausend von den zweiundzwanzigtausend gefallen waren, richteten die Überlebenden eine einstimmige Eingabe an den Weltaufsichtsrat, die Regierungsgewalt über die Insel wieder zu übernehmen.“ (Seite 188)

Der Wilde fragt, ob man nicht die Arbeitszeit reduzieren könne. Das sei technisch ganz einfach, meint Mustafa Mannesmann, aber man halte entsprechende Erfindungen unter Verschluss, denn bei einem vor mehr als hundertfünfzig Jahren in Irland durchgeführten Versuch mit einem Vier-Stunden-Tag für die unteren Kasten kam es zu Unruhen und einem erhöhten Soma-Verbrauch. Die Menschen konnten mit ihrer Freizeit nichts anfangen und waren deshalb unglücklich.

Als der Weltaufsichtsrat die Verbannung der drei Männer ankündigt, wirft Sigmund sich vor ihm auf die Knie und distanziert sich von Michel und Helmholtz. Mustafa Mannesmann lässt ihn hinausschaffen und meint:

„Wenn er nur einen Funken Verstand hätte, sähe er ein, dass seine Stafe eigentlich eine Belohnung ist. Er kommt auf eine Insel, das heißt, an einen Ort, wo er die interessantesten Leute der Welt antreffen wird, lauter Menschen, denen aus irgendeinem Grund das Bewusstsein ihrer Individualität so sehr zu Kopf gestiegen ist, dass sie sich nicht mehr ins Gemeinschaftsleben eingliedern ließen. Lauter mit der orthodoxen Lebensordnung Unzufriedene, die unabhängige, eigene Ideen haben. Kurz jeder, der jemand ist. Ich beneide Sie fast, Herr Holmes-Watson.“ (Seite 191)

Nachdem er angeordnet hat, Sigmund nach Island und Helmholtz auf die Falkland-Inseln zu verbannen, bleibt er mit dem Wilden allein zurück. Der Weltaufsichtsrat erklärt Michel, warum die Religion abgeschafft wurde.

„Wir erleiden keine Verluste, für die wir entschädigt werden müssten; demnach ist das religiöse Gefühl überflüssig. Und wozu sollten wir einem Ersatz für jugendliche Triebe nachjagen, wenn der jugendliche Trieb nimmer aufhört? Einem Ersatz für Zerstreuungen, wenn wir uns bis ganz zuletzt an den alten Narreteien erfreuen? Wozu brauchen wir Ruhe, wenn unser Geist und Körper weiter in Tatkraft schwelgen? Wozu Trost, wenn wir Soma haben? Wozu etwas Bleibendes, solange es die Gesellschaftsordnung gibt […]
Gott ist unvereinbar mit Maschinen, medizinischer Wissenschaft und allgemeinem Glücklichsein. Man muss wählen. Unsre Zivilisation hat Maschinen, Medizin und Glücklichsein gewählt.“ (Seite 197)

In der modernen Gesellschaft gibt es weder Scheitern noch Leid. Der Wilde wendet ein, dass es auch keine Freiheit gebe. Er vermisst in der Zivilisation das Edle und Erhabene.

„Mein lieber junger Freund“, sagte Mustafa Mannesmann, „die Zivilisation hat nicht den geringsten Bedarf an Edelmut oder Heldentum. Derlei Dinge sind Merkmale politischer Untüchtigkeit. In einer wohlgeordneten Gesellschaft wie der unsern findet niemand Gelegenheit zu Edelmut und Heldentum. Solche Gelegenheiten ergeben sich nur in ganz ungefestigten Verhältnissen. Wo es Kriege gibt, Zwiespalt der Pflichten, Versuchungen, denen man widerstehn, und Liebe, die man erkämpfen oder verteidigen muss, – dort, ja, dort haben Heldentum und Edelmut einen gewissen Sinn. Heute gibt es keine Kriege mehr. Übergroße Liebe zwischen zwei Menschen verhindern wir mit möglichster Sorgfalt. Gewissenskonflikte gibt es auch nicht; man wird so genormt, dass man nichts andres tun kann, als was man tun soll. Und was man tun soll, ist, im ganzen genommen, so angenehm und gewährt den natürlichen Trieben so viel Spielraum, dass es auch keine Versuchungen mehr gibt. Sollte sich durch einen unglücklichen Zufall wirklich einmal etwas Unangenehmes ereignen, dann gibt es Soma […] Immer ist Soma zur Hand, Zorn zu besänftigen, einen mit seinen Feinden zu versöhnen, Geduld und Langmut zu verleihen. Früher konnte man das alles nur durch große Willensanstrengung und nach jahrelanger harter Charaktererziehung erreichen. Heute schluckt man zwei, drei Halbgrammtabletten, und damit gut! Jeder kann heutzutage tugendhaft sein.“ (Seite 199f)

Die Frage des Weltaufsichtsrats, ob er bereit sei, Unglück in Kauf zu nehmen, bejaht der Wilde. Daraufhin erlaubt ihm Mustafa Mannesmann, dass er sich als Einsiedler in einen verlassenen Leuchtturm auf dem Hügelrücken zwischen Schneverdingen und Amelinghausen zurückzieht.

In der Einsamkeit überkommt Michel das Verlangen nach Lenina. Dafür geißelt er sich. Als einige Deltas beobachten, wie er sich mit nacktem Oberkörper auspeitscht, unterrichten sie die Presse. Drei Tage später umlagern Reporter und Schaulustige den Leuchtturm, und der berühmte Großwildfotograf Darwin Schillings filmt Michel aus einem Versteck.

Henry Päppler fliegt mit seinem Hubschrauber hin und nimmt Lenina mit. Als sie sich Michel mit ausgestreckten Armen nähert, um ihn zu begrüßen, stürzt dieser sich auf sie und beschimpft sie als „Metze“. Rasend vor Zorn schlägt er mit seiner Geißel auf sie ein. Lenina flieht entsetzt, stolpert jedoch – und ruft vergeblich um Hilfe: Henry hat sich bereits mit dem Hubschrauber in Sicherheit gebracht.

Die Schaulustigen fassen Michels Aggression als orgiastische Ausschweifung auf und beginnen zu singen, zu tanzen und sich zu paaren.

Als Michel zu sich kommt, fühlt er sich so erbärmlich, dass er sich erhängt [Suizid].

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In seinem dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ skizziert Aldous Huxley einen totalitären Weltstaat, der „Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit“ durch künstliche Fortpflanzung, Konditionierung und Indoktrination sicherstellt. Es herrscht Frieden, die Gesellschaft funktioniert, aber der Preis ist der Verzicht auf Freiheit und Kultur. Im Vorwort schreibt Aldous Huxley:

Es gibt natürlich keinen Grund, warum der neue Totalitarismus dem alten gleichen sollte. Ein Regieren mittels Knüppeln und Erschießungskommandos, mittels künstlicher Hungersnot, Massenverhaftungen und Massendeportationen ist nicht nur unmenschlich (darum schert sich heutzutage niemand viel); es ist beweisbar leistungsunfähig – und in einem Zeitalter fortgeschrittener Technik ist Leistungsunfähigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist. Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre einer, worin die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrschen, die gar nicht gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben. Ihnen die Liebe zu ihr beizubringen, ist in heutigen totalitären Staaten die den Propagandaministerien, den Zeitungsredakteuren und Schullehrern zugewiesene Aufgabe. Aber deren Methode sind noch immer plump und unwissenschaftlich. (Aldous Huxley im Vorwort zur Ausgabe von 1949)

„Schöne neue Welt“ weist Parallelen zu einer um 370 v. Chr. verfassten Utopie auf: „Politeia“. Platons Staat wird von Philosophen geführt. Mustafa Mannesmann, einer der zehn Weltaufsichtsräte in Huxleys Roman, ist zwar Physiker, kann aber durchaus auch als Philosoph angesehen werden. Den fünf Kasten in der „Schönen neuen Welt“ entsprechen die drei Stände in der „Politeia“: Regenten, Wächter, Handwerker und Bauern. Platon dachte zwar noch nicht an Retortenbabys und Konditionierung, aber in der von ihm beschrieben Gesellschaft werden die Kinder auch nicht von den Eltern, sondern in staatlichen Institutionen erzogen.

Die Handlung in „Schöne neue Welt“ ist rudimentär und dient nur dazu, die gesellschaftskritische Utopie zu beschreiben.

Den Titel „Brave New World“ bzw. „Schöne neue Welt“ entnahm Aldous Huxley dem Drama „Der Sturm“ von William Shakespeare. Der „Wilde“ zitiert Miranda: „O brave new world, That hath such people in’t!“ (5. Aufzug; hier: Seite 139)

„Brave New World“ erschien 1932. Noch im selben Jahr übersetzte Herberth E. Herlitschka den Roman ins Deutsche. Der Titel lautete hier zunächst „Welt – wohin?“, ab 1950 hielt man sich enger an den Originaltitel: „Wackere neue Welt“, und seit 1953 heißt das Buch „Schöne neue Welt“. 1978 veröffentlichte der Verlag Das Neue Berlin eine Neuübersetzung von Eva Walch, ebenfalls mit dem Titel „Schöne neue Welt“. Im Unterschied zu Herberth E. Herlitschka verlegte Eva Walch die Handlung nicht von London nach Berlin, und sie behielt auch die ursprünglichen Namen bei.

Hörspielfassungen von „Schöne neue Welt“ gibt es von Helmut Helmar (Regie: James Meyer, 1969) und Helmut Swoboda (Regie: Wolf Euba, 1984).

Der Roman „Schöne neue Welt“ wurde auch verfilmt, von Burt Brinckerhoff (1980), Leslie Libman und Larry Williams (1998). 2008 kündigte Ridley Scott eine Neuverfilmung an, in der angeblich Leonardo DiCaprio den Wilden spielen sollte, doch das Projekt wurde inzwischen verschoben.

Originaltitel: Brave New World – Regie: Burt Brinckerhoff – Drehbuch: Doran William Cannon, Robert E. Thompson, nach dem Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley – Kamera: Harry L. Wolf – Schnitt: James T. Heckert – Musik: Paul Chihara – Darsteller: Julie Cobb, Bud Cort, Keir Dullea, Ron O’Neal, Marcia Strassman, Kristoffer Tabori, Dick Anthony Williams, Jonelle Allen u.a. – 1980; 180 Minuten

Geklonte Zukunft – Originaltitel: Brave New World – Regie: Leslie Libman, Larry Williams – Drehbuch: Dan Mazur, David Tausik, nach dem Roman „Schöne neue Welt“ von Aldous Huxley – Kamera: Ronald Víctor García – Schnitt: Cindy Mollo – Musik: Daniel Licht – Darsteller: Peter Gallagher, Leonard Nimoy, Tim Guinee, Rya Kihlstedt, Sally Kirkland, Patrick J. Dancy, Steven Flynn, Wendy Benson-Landes u.a. – 1998; 85 Minuten

Roland Maier (Libretto) und Stefan Wurz (Musik) adaptierten „Schöne neue Welt“ als Musical. Die Uraufführung fand am 8. Oktober 1994 im Kulturhaus Osterfeld in Pforzheim statt. Am 2. November 2006 fand im GRIPS-Theater in Berlin die Premiere einer von Laura Huxley – der Witwe von Aldous Huxley – lizenzierten Musical-Version des Romans „Schöne neue Welt“ statt, für die Achim Gieseler die Musik komponiert und Volker Ludwig den Text geschrieben hatte.

1958 veröffentlichte Aldous Huxley den Essayband „Brave New World Revisited“. Das Buch wurde ebenfalls von Herberth E. Herlitschka ins Deutsche übersetzt: „Dreißig Jahre danach oder Wiedersehen mit der wackeren neuen Welt“ (Piper Verlag, München 1960, 154 Seiten)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Fischer Bücherei

Aldous Huxley: Zeit muss enden
Aldous Huxley: Die Teufel von Loudun (Verfilmung)

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