Das süße Jenseits

Das süße Jenseits

Das süße Jenseits

Das süße Jenseits – Originaltitel: The Sweet Hereafter – Regie: Atom Egoyan – Drehbuch: Atom Egoyan nach dem Roman "Das süße Jenseits" von Russell Banks – Kamera: Paul Sarossy – Schnitt: Susan Shipton – Musik: Mychael Danna, Jane Siberry – Darsteller: Ian Holm, Sarah Polley, Bruce Greenwood, Gabrielle Rose, Tom McCamus, Alberta Watson, Maury Chaykin, Arsinée Khanjian, Simon Baker u.a. – 1997; 105 Minuten

Inhaltsangabe

Als ein Schulbus von der schneeglatten Straße abkommt und im zugefrorenen See einbricht, kommen 14 Kinder einer kanadischen Gemeinde ums Leben. Kurz darauf trifft der Rechtsanwalt Mitchell Stephens in dem Ort ein und versucht möglichst viele Eltern für eine Sammelklage zu gewinnen. Dabei wird er nicht nur von finanziellen Interessen getrieben, sondern auch von seiner persönlichen Wut und Verzweiflung, denn er hat ebenfalls eine Tochter verloren, und zwar durch deren Drogensucht ...
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Kritik

Bei seiner Verfilmung des Romans "Das süße Jenseits" von Russell Banks entwickelt Atom Egoyan die Geschichte nicht linear, sondern frag­mentarisch im ständigen Wech­sel sowohl der Handlungsstränge als auch der zeitlichen Ebenen.
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Wie an jedem anderen Werktag auch, liest die Busfahrerin Dolores Driscoll (Gabrielle Rose) in der kanadischen Gemeinde Sam Dent an diesem Wintermorgen die am Straßenrand wartenden Schulkinder auf, und der verwitwete Mechaniker Billy Ansel (Bruce Greenwood) folgt dem Schulbus auf dem Weg zur Arbeit in seinem Pick-up, um seinen stets ganz hinten sitzenden kleinen Kindern Jessica und Mason (Sarah Rosen Fruitman, Marc Donato) zuzuwinken. Gleichzeitig telefoniert er mit seiner Geliebten Risa Walker (Alberta Watson) und verabredet mit ihr ein Schäferstündchen während der voraussichtlichen Abwesenheit ihres Ehemanns, des Motelbesitzers Wendell Walker (Maury Chaykin). Auf Jessica und Mason soll dann wie üblich die schon etwas ältere Schülerin Nicole Burnell (Sarah Polley) aufpassen.

Plötzlich sieht Billy Ansel den Schulbus auf der schneeglatten Straße wegrutschen. Er bringt seinen Pick-up zum Stehen und muss hilflos zusehen, wie der Bus über die Böschung hinunter zum See rutscht und dort im Eis einbricht.

14 Kinder kommen bei dem Unfall ums Leben. Nur Dolores Driscoll und Nicole Burnell überleben. Dolores‘ ist verhältnismäßig leicht verletzt; Nicole ist jedoch querschnittgelähmt.

Vor dem Unfall verbrachte Nicole viel Zeit mit ihrem noch jungen Vater Sam Burnell (Tom McCamus), einem Musiker, der mit ihr zusammen davon träumte, aus ihr einen Rockstar auf einer nur von Kerzen beleuchteten Bühne zu machen. Einmal liegen sie in einer Scheune im Stroh und haben Kerzen angezündet. Bevor Nicole aus dem Krankenhaus entlassen wird, baut Sam vor dem Hauseingang eine Rampe für den Rollstuhl und richtet ihr Zimmer behindertengerecht ein. Als sie nach Hause kommt, ist ihr wichtig, dass er sofort ein Schloss an ihrer Zimmertür anbringt.

Der Rechtsanwalt Mitchell Stephens (Ian Holm) kommt nach Sam Dent und nimmt sich ein Zimmer im Motel. Er redet mit Wendell und Risa Walker, die ihren kleinen Sohn Sean (Devon Finn) bei dem Unfall verloren haben, und befragt sie nach den Eltern der anderen ums Leben gekommenen Kinder. Er wolle ihren Zorn lenken und die Schuldigen zur Rechenschaft ziehen, sagt er. Dabei denkt er nicht an einen Fahrfehler von Dolores, sondern an die Stadtverwaltung, die Schulbehörde und den Hersteller des Fahrzeugs, denn er ist überzeugt, dass aus Kostengründen bzw. Profitgier an der Sicherheit gespart wurde. Stephens rechnet damit, dass die Gegenseite eine Batterie teurer Juristen aufbieten wird, um die Ansprüche der Eltern verunglückter Kinder abzuwehren, aber er hält sich für fähig, ihnen Schmerzensgeldzahlungen abzuringen. Darin sieht er seine Aufgabe.

Mitchell Stephens hat ebenfalls ein Kind verloren, wenn auch auf andere Weise: seine Tochter Zoe (Caerthan Banks) ist drogenabhängig. In den letzten zehn Jahren war sie immer wieder in Entzugskliniken, jedoch ohne Erfolg. Sie meldet sich nur bei ihm, wenn sie Geld benötigt. Er war gerde in Sam Dent eingetroffen und saß in seinem Auto in einer Wasch­anlage, als sie ihn aus irgendeiner Telefonzelle anrief. Als sie begriff, dass er ihr kein Geld mehr schicken wird, beschimpfte sie ihn wütend. Stephens blieb nach dem kurzen Gespräch in der Waschanlage stecken, und weil die Verbindung zur Telefon­vermittlung gleich wieder abbrach, blieb ihm nichts anderes übrig, als auszu­steigen und sich durch die rotierenden nassen Bürsten hindurchzukämpfen.

Zwei Jahre nach seinem Aufenthalt in Sam Dent wird er in einem Flugzeug zufällig neben Zoes früherer Schulfreundin Allison (Stephanie Morgenstern) sitzen und ihr erzählen, wie seine Tochter im Alter von drei Jahren nach einem Spinnenbiss zu sterben drohte. Das Mädchen (Magdalena Sokoloski) schlief während des Urlaubs im Sommerhaus zwischen ihm (James D. Watts) und seiner Frau Klara (Fides Krucker). Als er aufwachte, merkte er, dass Zoes Kopf massiv geschwollen war. Er rief im 45 Meilen entfernten Krankenhaus an. Der Arzt, mit dem er sprach, forderte ihn auf, das Kind sofort zu bringen und ein scharfes Messer mitzunehmen. Wenn das Mädchen zu ersticken drohe, müsse er einen Luftröhrenschnitt vornehmen, schärfte er ihm ein. Während der ganzen Autofahrt streichelte Mitchell Stephens seine kleine Tochter beruhigend und hielt in der anderen Hand ein Messer. – Er und Klara sind inzwischen längst geschieden.

Mitchell Stephens fährt er zu Wanda und Hartley Otto (Arsinée Khanjian, Earl Pastko), deren Sohn Bear (Simon Baker) in dem Schulbus saß. Das Hippie-Kleidung tragende Paar ist trotz seines Außenseitertums in der Gemeinde beliebt, nicht zuletzt wegen des besonders liebevollen Umgang mit dem Sohn. Wanda befürchtet, dass sie sich den Anwalt nicht leisten können, aber Stephens beruhigt sie: Er würde nur im Erfolgsfall ein Honorar verlangen, und zwar ein Drittel der erstrittenen Summe.

Dolores Driscoll trägt noch eine Halskrause und eine Armschiene, als Mitchell Stephens zu ihr kommt. Ihr Ehemann Abbott (David Hemblen) sitzt seit einem Schlaganfall im Rollstuhl und kann kaum noch sprechen. Aber er regt sich auf, als der Anwalt Dolores zu einer Schmerzensgeldklage zu überreden versucht, und seine Frau lehnt es daraufhin ab, Stephens ein Mandat zu erteilen.

Billy Ansel möchte auf keinen Fall gezwungen werden, als Zeuge des Unfalls vor Gericht auszusagen und all den Schmerz noch einmal zu spüren. Als er den Anwalt beim Wrack des Busses trifft, fordert er ihn auf, die Eltern der toten Kinder in Ruhe zu lassen. Dann fährt er zu Sam und Mary Burnell (Brooke Johnson), um sie von der Klage abzubringen. Sam erklärt ihm, dass das Geld von der Versicherung für die erforderlichen Umbauten nicht gereicht habe und sie deshalb auf zusätzliche Zahlungen angewiesen seien. Billy wäre bereit, das Geld beizusteuern, das er für seine eigenen beiden Kinder von der Versicherung bekam, und er weist darauf hin, dass sie sich in der Gemeinde doch bisher alle immer gegenseitig beigestanden hätten, aber Sam lässt sich nicht umstimmen.

Am nächsten Tag bringt Sam seine gelähmte Tochter ins Gemeindezentrum, damit sie dort ihre Aussage machen kann. Nicole, die Billys Gespräch mit ihren Eltern belauschte, kann sich zwar überhaupt nicht an den Unfall erinnern, behauptet nun jedoch, Dolores sei zu schnell gefahren und habe deshalb auf der schneeglatten Fahrbahn die Kontrolle über den Schulbus verloren. Dolores sagte aus, sie sei 50 Meilen/Stunde gefahren, aber Nicole will auf dem Tacho 72 Meilen/Stunde gesehen haben.

Nachdem Sam seine Tochter wieder ins Auto gesetzt hat, wendet er sich an Mitchell Stephens und versichert ihm, dass Nicole gelogen habe, aber der Anwalt erklärt ihm, dass damit alles vorbei sei und er nichts mehr tun könne.

Sobald Sam sich hinters Lenkrad gesetzt hat, fragt ihn Nicole, ob ihr der Anwalt wohl den PC lassen werde, den er ihr schenkte.

In der letzten Einstellung sehen wir Nicole am Abend vor dem Unfall. Während Billy bei Risa im Motel ist, passt Nicole auf seine Kinder auf. Sie hat ihnen das Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“ vorgelesen und sie ins Bett gebracht. Nun geht sie in den dunklen Flur, und als sie vor dem Fenster steht, wird es draußen schlagartig hell.

Nicole sagt: „Wir alle, die Gestorbenen und die, die überlebt haben, leben schon lange in einem Land mit eigenen Regeln: im süßen Jenseits.“

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1991 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Russell Banks (* 1940) den Roman „The Sweet Hereafter“ („Das süße Jenseits“, Übersetzung: Kerstin Gleba, München 1998, 287 Seiten, ISBN 3-442-44083-1). Der kanadische Regisseur und Drehbuchautor Atom Egoyan verfilmte die literarische Vorlage sechs Jahre später.

Man könnte „Das süße Jenseits“ für einen Katastrophenfilm halten, aber es geht Atom Egoyan keineswegs um spektakuläre Action-Szenen, ganz im Gegenteil: Er zeigt den Unfall des Schulbusses erst in der Mitte des Films und auch dann nur kurz. Viel wichtiger ist ihm die Frage, wie die Eltern mit dem Tod ihrer Kinder um­gehen und ob sie sich von einem Rechtsanwalt zu einer Sammel­klage gegen die Stadtverwaltung, die Schulbehörde bzw. den Hersteller des Busses überreden lassen.

Als Leitmotiv dient dabei das von den Brüdern Grimm erzählte Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“, das Nicole zwei kleinen Kindern vorliest. Die seit dem Unfall gelähmte Schülerin kommt sich vor wie eines der beiden Kinder im Märchen, die von den anderen zurückgelassen werden.

Warum Nicole die Bestrebungen ihrer und anderer Eltern, mit Hilfe des Rechtsanwalts Mitchell Stephens Gelder zu erstreiten, mit einer bewussten Falschaussage zum Scheitern bringt, bleibt offen. Hat Billy Ansel sie überzeugt, dass es auf die Solidarität innerhalb der Gemeinde ankomme? Will sie wie er ein Gerichtsverfahren verhindern, das all den Schmerz noch einmal aufwühlen würde? Handelt sie aus Frustration, weil sie ihren Traum von einer Karriere als Sängerin aufgeben muss? Oder will sie sich an ihrem Vater Sam rächen, etwa, weil er eine inzestuöse Beziehung mit ihr führte oder weil er diese nach ihrer Lähmung beendete?

Ein zweiter Erzählstrang in „Das süße Jenseits“ handelt von Mitchell Stephens, dessen Ehe gescheitert ist und der seine Tochter durch deren Drogensucht verloren hat. Seine Verzweiflung treibt ihn dazu, auch im Fall des verunglückten Schulbusses Schuldige zu suchen.

Atom Egoyan erzählt zwar einfühlsam, aber unsentimental und unpathetisch. Er entwickelt die erschütternde Geschichte nicht linear, sondern fragmentarisch im Vor und Zurück zwischen der Vergangenheit (Spinnenbiss der dreijährigen Zoe, Tag vor dem Busunfall, Busfahrt), der Gegenwart (Mitchell Stephens‘ Aufenthalt in Sam Dent) und Zukunft (Flugreise). Gleichzeitig wechselt Atom Egoyan zwischen den Handlungssträngen und lässt Nicole immer wieder – teilweise aus dem Off – Passagen aus dem Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“ vorlesen. Ruhige Einstellungen bewahren „Das süße Jenseits“ allerdings vor einem hektischen Rhythmus.

Die Dreharbeiten für „Das süße Jenseits“ fanden in Toronto, Stouffville/Ontario und Merritt bzw. Spences Bridge/British Columbia statt.

Der Song „Courage“ wurde 1992 von der kanadischen Rockband „The Tragically Hip“ eingespielt und Hugh MacLennan gewidmet. In „Das süße Jenseits“ hören wir die Originalversion und auch eine 1997 von Sarah Polley gesungene Fassung.

Bei dem Buch, aus dem Nicole das Märchen „Der Rattenfänger von Hameln“ vorliest, handelt es sich um eine 1888 in London und New York veröffentlichte, von Robert Browning (1812 – 1889) nachgedichtete und Kate Greenaway (1846 – 1901) illustrierte Ausgabe: „The Pied Piper of Hamelin“.

„Das süße Jenseits“ wurde 1998 in zwei Kategorien für einen „Oscar“ nominiert: Beste Regie und Bestes adaptiertes Drehbuch.

Die Bundeszentrale für politische Bildung nahm „Das süße Jenseits“ im Juli 2003 in einen aus 35 Titel bestehenden Kanon von besonders für den Schulunterricht geeigneten Filmen auf.

Beim Toronto International Film Festival im September 2004 wurde „Das süße Jenseits“ zum drittbesten kanadischen Film überhaupt erkoren.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015

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