Umberto Eco : Die Insel des vorigen Tages

Die Insel des vorigen Tages
Originalausgabe: L'isola del giorno prima, Mailand 1994 Die Insel des vorigen Tages Übersetzung: Burkhart Kroeber Carl Hanser Verlag, München / Wien 1995
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In geheimer Mission des Kardinals Mazarin geht Roberto de La Grive Ende 1642 in Amsterdam an Bord eines Schiffes, um einen englischen Forscher auszuspionieren, der offenbar dabei ist, eine Methode für die Ermittlung der Längengrade zu entwickeln. Als das Schiff in der Südsee kentert, treibt Roberto tagelang im Wasser, bis er zu einem gestrandeten Schiff mit dem Namen "Daphne" gelangt ...
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Kritik

In "Die Insel des vorigen Tages" prunkt Umberto Eco mit zahlreichen Details und Exkursen über die Kultur im Barockzeitalter. Wieder hat er sich einen fantastische Kosmos ausgedacht.
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Der Erzähler gibt vor, die folgende Geschichte anhand von Aufzeichnungen aus dem 17. Jahrhundert geschrieben zu haben.

Roberto de La Grive wächst im Piemont als Sohn eines Landadeligen auf. Weil er sich einsam fühlt, erfindet er einen Halbbruder, den er Ferrante nennt. Im Alter von 16 Jahren marschiert Roberto mit seinem Vater und dessen Untertanen nach Casale, um die Stadt gegen die Spanier zu verteidigen. Dabei kommt sein Vater ums Leben, und Roberto fühlt sich noch hilfloser und verlassener als zuvor. Seines Besitzes beraubt, reist er schließlich nach Paris. Die Intellektuellen in der Stadt laden den gebildeten Pietmontesen zwar gern zu ihren Abendgesellschaften ein, weil sie die geistreichen Diskussionen mit ihm schätzen, Freunde findet er allerdings auch unter ihnen nicht. Er verliebt sich in die schöne Witwe Lilia, doch er wagt nicht, es ihr zu sagen.

Ende 1642 taucht ein Hauptmann bei ihm auf, verhaftet ihn und bringt ihn zu Kardinal Mazarin. Während Kardinal Richelieu nebenan auf dem Sterbebett liegt, beschuldigt Mazarin den Gefangenen des Hochverrats. Seine einzige Chance, der Todesstrafe zu entgehen, sei die Durchführung einer Geheimmission. Ein um die 20 Jahre alter Mann namens Colbert — der sich „auf vielversprechende Weise in die Geheimnisse der Staatsverwaltung einarbeitet“ — erläutert Roberto, um was es geht: Auf hoher See kann man zwar mit Hilfe der Gestirne und bereits seit der Antike bekannten Navigationsinstrumenten den jeweiligen Breitengrad ermitteln, aber das genügt natürlich nicht, um beispielsweise eine bestimmte Insel später wiederzufinden. Dazu müsste man auch den entsprechenden Längengrad kennen. „Doch leider“, so Colbert, „hat sich bisher jedes Mittel, das zur Bestimmung der Längengrade erdacht worden ist, als untauglich erwiesen.“ Wenn man außer der Ortszeit auch die genaue Zeit z.B. in Paris kennen würde, wäre es möglich, die Zeitdifferenz in einen Winkel bzw. einen Längengrad umzurechnen, denn eine Stunde entspricht 15 Längengraden. Aber es gibt keine Uhr, die genau genug geht, und wie soll man irgendwo auf dem Meer wissen, wieviel Uhr es gerade in Paris ist? Die französische Regierung hat erfahren, dass der englische Forscher Doktor Bryd sich auf eine Expedition zur Erforschung des Problems vorbereitet. Aus Gründen der Tarnung wird er dazu nicht ein englisches, sondern ein holländisches Schiff benützen. Roberto soll nach Amsterdam reisen, mit an Bord der „Amerilli“ gehen und heimlich beobachten, was Doktor Bryd unternimmt.

Bald findet Roberto heraus, wie Doktor Bryd jede Nacht heimlich die Uhrzeit in London ermittelt: Auf dem Schiff ist ein Hund versteckt, den man vor der Abreise mit einem Messer verletzt hat. Offenbar reizt Doktor Bryd die klaffende, eiternde Wunde auch noch mit Salz, damit sie nicht verheilt. Immer um Mitternacht hält jemand in London das Messer ins Feuer — und in diesem Augenblick heult der sonst nur wimmernde Hund laut auf.

Als die „Amerilli“ im Juli oder August 1643 in einem Orkan kentert, treibt Roberto tagelang im Wasser, bis er zu einem gestrandeten Schiff mit dem Namen „Daphne“ gelangt. Mit letzter Kraft klettert er eine Strickleiter hinauf und schläft auf dem Deck erschöpft ein.

Als er wieder erwacht, stellt er fest, dass die Rettungsboote fehlen und das Schiff offenbar von seiner Besatzung verlassen wurde. In Sichtweite befindet sich eine paradiesische Südseeinsel, die jedoch für einen Nichtschwimmer wie Roberto unerreichbar ist. In der Kombüse findet er reichlich zu essen. Als er seltsame Geräusche hört, zieht er sich ängstlich in die Kapitänskajüte zurück.

Nachdem er sich ausgeruht hat, wagt er es, den Geräuschen nachzugehen. Dabei entdeckt er ein Gewächshaus mit exotischen Pflanzen und eine Voliere. Die Vögel sind offensichtlich gerade erst gefüttert worden! Ist er doch nicht allein an Bord? Erschreckt versteckt sich Roberto wieder in der Kapitänskajüte.

Am nächsten Morgen findet er ein Fässchen Branntwein und betrinkt sich. Laute Geräusche wecken ihn aus seinem Rausch. Wieder macht er sich auf die Suche. Hinter der Voliere entdeckt er zahlreiche Uhren und andere Messinstrumente. Hat auch jemand auf diesem Schiff versucht, eine Methode zur Bestimmung der Längengrade zu erproben? Systematisch untersucht er das Schiff und überrascht schließlich den alten Jesuitenpater Caspar Wanderdrossel. Der deutsche Gelehrte erzählt Roberto, er habe die Seereise unternommen, um unbekannte Tiere und Pflanzen zu sammeln. Als er jedoch aufgrund eines Insektenstiches hohes Fieber bekam und der Kapitän Pestsymptome zu entdecken glaubte, floh die Besatzung auf die nahe Insel. Dort wurden die Männer von Eingeborenen getötet.

Aufgrund seiner Beobachtungen ist Caspar Wanderdrossel überzeugt, dass zwischen der Insel und dem Schiff der 180. Längengrad verläuft: die Datumsgrenze. Auf der Insel ist es also noch gestern! Da sie beide nicht schwimmen können, wären sie nur mit einem Floß in der Lage, zu der Insel hinüberzukommen. Um eines zu bauen, bräuchten sie Werkzeuge. Die aber nahmen die Matrosen mit auf die Insel. Vergeblich müht Roberto sich ab, das Schwimmen zu lernen. Weiter als bis zu einem Korallenriff kommt er nicht. Die Insel ist noch vier- oder fünfmal weiter entfernt. Da schlägt der Pater vor, eine Art Taucherglocke zu bauen, mit der er auf dem vermutlich nicht allzu tiefen Meeresgrund zur Insel hinübergehen will. Pater Caspar fürchtet geradezu, die Sünde der Hoffart zu begehen, so stolz ist er darauf, als erster Mensch in die geheimnisvolle Meereswelt hinunterzusteigen. Er legt die Ausrüstung an, und Roberto hievt ihn mit einer Winde ins Wasser. Dann wartet er vergeblich darauf, dass der Pater wieder zum Vorschein kommt.

In seiner Verlassenheit denkt er sich einen Roman über Lilia und Ferrante aus. Sein böser Halbbruder hatte sich als Roberto ausgegeben, an Lilia herangemacht und sie von der Notwendigkeit überzeugt, mit ihm auf ein Piratenschiff mit dem Namen „Tweede Daphne“ zu kommen, um einem Dokument von größter Bedeutung für die Geschicke Frankreichs nachzujagen.

In blindem Hass verfolgt er Roberto. Als die Schiffsbesatzung in der Südsee meutert und das Schiff in einem Orkan kentert, bindet Ferrante Lilia auf eine aus den Angeln gerissene Tür. Damit strandet sie auf der Insel in Robertos Nähe. Ferrante aber wird an den Strand einer anderen Insel gespült, die sich als Vorhölle erweist, in der sich Tote in verschiedenen Stadien der Verwesung nach dem Ende sehnen. Lilia ist aufgrund der Strapazen fast tot und kann ohne Trinkwasser nicht überleben. Um sie zu retten, macht sich Roberto selbst zur Romanfigur. Wenn er es schafft, auf die Insel hinüberzukommen, überlegt er, ist er durch den Zeitsprung einen Tag vor Lilias Ankunft dort und kann ihr beistehen, sobald sie gestrandet ist. Er hält es aber für unwahrscheinlich, dass er die Insel erreicht. In diesem Fall, so malt er sich in seinem Wahn aus, würde er sich genau auf dem 180. Längengrad treiben lassen, auf der Grenzlinie zwischen heute und gestern, außerhalb der Zeit — auf diese Weise die Zeit auch auf der Insel anhalten und den Tod der Geliebten für immer hinauszögern.

Er öffnet die Vogelkäfige, setzt das Schiff in Brand und lässt sich nackt ins Wasser gleiten …

Abschließend weist der Erzähler darauf hin, das Schiff sei offenbar nicht völlig verbrannt, weil man sonst die Aufzeichnungen Robertos nicht hätte finden können. Abel Tasman oder Captain Bligh könnten später das Wrack entdeckt und die Papiere an sich genommen haben. Aber mit dieser Frage möchte sich der Erzähler nicht weiter beschäftigen.

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In „Die Insel des vorigen Tages“ prunkt Umberto Eco mit zahlreichen Details und Exkursen über die Kultur im Barockzeitalter. Wieder hat er sich einen fantastische Kosmos ausgedacht. Die Geschichte und die zahlreichen kuriosen Abschweifungen haben mich allerdings nicht ganz so überzeugt wie „Der Name der Rose“ oder „Baudolino“.

„Das Buch hat Längen“, schreibt Elisabeth Endres in der Süddeutschen Zeitung (6. März 1995). „Der Physiker hält es weniger mit den literarischen Parodien; der Schöngeist hat seine Schwierigkeiten: Was dreht sich wann um sich selbst und wie um einen anderen Himmelskörper? Der Theologe erfährt mehr über die Höllen, als er vielleicht wissen will. Wer durchschaut schon die Kuriositätenschau der vielen technischen Apparaturen?“

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

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