Umberto Eco : Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana

Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana
Originalausgabe: La misteriosa flamma della regina Loana Bompiani, Mailand 2004 Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana Übersetzung: Burkhart Kroeber Carl Hanser Verlag, München / Wien 2004 ISBN 3-446-20527-6, 499 Seiten Taschenbuch: dtv, München 2006 ISBN 3-423-13489-5
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein aus dem Koma erwachter 59-jähriger Antiquar weiß zwar alles über Alexander den Großen, hat jedoch seinen eigenen Namen vergessen und erkennt weder seine Frau noch seine Töchter und Enkel. In seinem Geburtshaus, in dem er sich auf Spurensuche begibt, findet er Schulhefte, Comics, Bücher und Schallplatten aus seiner Kindheit, aber es gelingt ihm zunächst nicht, sich an sein Leben zu erinnern ...
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Kritik

Der "illustrierte Roman", den Umberto Eco nach einem billigen Comic-Heft "Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana" betitelt hat, beeindruckt nicht durch seinen formalen Aufbau, sondern nur durch die großenteils durchaus witzige Auswahl und Zusammenstellung der trivialen Elemente.
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Am 25. April 1991 erwacht der neunundfünfzigjährige Mailänder Bücherantiquar Giambattista („Yambo“) Bodoni aus dem Koma, in das er nach einem Herzinfarkt gefallen war. An seinem Bett steht der behandelnde Arzt.

„Ich bin Doktor Gratarolo. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle. Wie viele Finger zeige ich Ihnen hier?“
„Das ist eine Hand, und das sind Finger. Und es sind vier. Sind es vier?“
„Richtig. Und wieviel ist sechs mal sechs?“
„Sechsunddreißig, das ist doch klar.“ Die Gedanken purzelten mir durch den Kopf, aber sie kamen ganz von allein. „Die Summe der Flächeninhalte der Quadrate … über den Katheten … ist gleich dem Flächeninhalt des Quadrates über der Hypothenuse.“
„Kompliment. Ich glaube, das ist der Satz des Pythagoras, aber in Mathematik hatte ich im Gymnasium eine Fünf …“
„Pythagoras von Samos. Die euklidischen Elemente. Die verzweifelte Einsamkeit der Parallelen, die sich niemals begegnen …“
„Ihr Gedächtnis scheint ja in bester Verfassung zu sein. Bei dieser Gelegenheit übrigens: Wie heißen Sie?“
Das war’s, hier zögerte ich. Dabei hatte ich’s auf der Zunge. (Seite 10)

Bodoni weiß, dass er den Namen eines berühmten Typografen trägt: Giambattista Bodoni (1740 – 1813). Aber er muss erst von Dr. Gratarolo darüber aufgeklärt werden, dass er seit dreißig Jahren mit einer Psychologin verheiratet ist. Und von seiner Ehefrau Paola erfährt Bodoni, dass sie sich vor fünfunddreißig Jahren an der Universität Turin kennen lernten. Ihre gemeinsame Tochter Carla hat zwei Kinder – den fünfjährigen Alessandro und den zwei Jahre jüngeren Luca –, und Nicoletta, ihre andere Tochter, ist die Mutter eines Dreijährigen mit Namen Giangio. Bodini fragt sich, wieso er seine nächsten Angehörigen nicht erkennt, jedoch ohne weiteres seine Zähne putzen kann und sich offenbar an vieles Gelesene erinnert.

„Ich wusste alles über Alexander den Großen, aber nichts über meinen kleinen Alessandro.“ (Seite 25)

Dr. Gratarolo sagt dazu:

„Sie haben nicht das semantische Gedächtnis verloren, sondern das autobiografische, das Gedächtnis an die Episoden Ihres Lebens.“ (Seite 17)

Als seine Frau ihn vom Krankenhaus abholt und nach Hause bringt, wundert Bodini sich darüber, dass er nicht ahnt, was als Nächstes kommt. Geduldig erklärt ihm seine psychologisch geschulte Ehefrau:

„Wir leben in den drei Zeitstufen der Erwartung, der Aufmerksamkeit und der Erinnerung, und keine davon kann auf die andere verzichten. Du kannst dich nicht in die Zukunft wenden, weil du deine Vergangenheit vergessen hast.“ (Seite 35)

Schließlich erfährt Bodoni, dass er Literaturwissenschaften studierte, mit einer Arbeit über Hypnerotomachia Poliphili promovierte und in Mailand ein Antiquariat für seltene Buchausgaben führt, auf das während seiner Abwesenheit seine aus Polen stammende Assistentin Sibilla Jasnorzewska schaute. Bodoni sucht sein Geschäft auf. Der Anblick Sibillas erregt ihn, und er fragt sich, ob er mit ihr eine Affäre hatte. Sicherheitshalber erkundigt er sich bei Gianni Laivelli, mit dem er – wie er inzwischen erfahren hat – seit der Schulzeit befreundet ist. Laivelli versichert ihm, er habe nie etwas von einem Verhältnis zwischen ihm und seiner Assistentin mitbekommen, aber Bodoni argwöhnt daraufhin, seine Beziehung mit Sibilla könne so ernst gewesen sein, dass er nicht einmal seinen besten Freund eingeweiht habe.

Bodoni wurde im Haus seines Großvaters bei Solara geboren.

Ich bin dort geboren, aus Versehen, in den Weihnachtsferien des Jahres 1931. (Seite 38)

Bei seiner Geburt waren die Eltern seiner Mutter bereits tot, und seine andere Großmutter starb, als er fünf Jahre alt war. Der Großvater besaß ein Antiquariat, aber keines mit wertvollen, sondern eines für gebrauchte Bücher. Der Vater war Direktor in einer Import-Firma in Mailand, aber die Schulferien verbrachte Yambo Bodoni in Solara, und als in Mailand die Bomben fielen, wohnte er von 1943 bis 1945 ununterbrochen im Haus seines Großvaters. Die Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Yambo und seine jüngere Schwester Ada noch nicht erwachsen waren. Ada heiratete mit achtzehn und ging mit ihrem Mann nach Sydney.

Paola rät ihrem Mann, für einige Tage nach Solara zu ziehen und in den alten Sachen zu stöbern, denn möglicherweise kehrten dann Erinnerungen zurück. Auf dem großen Anwesen wird Bodoni von Amalia herzlich begrüßt: Sie ist die Tochter der Pächter seines Großvaters, zehn Jahre älter als Bodoni, und sie sah ihn aufwachsen. Amalia hat nie geheiratet und lebt noch immer in einem Trakt des Hauses.

Auf dem Dachboden findet Bodoni kistenweise Schulhefte, Bücher, Comics, Zeitschriften, Kalender, Fotografien, Schallplatten, Zigarettenpackungen, Schachteln und Dosen. In einem Schulaufsatz, den er 1942 in der fünften Klasse schrieb, vertrat er faschistische Gedanken:

„Jawohl! Ich werde Soldat sein, ich werde kämpfen, und wenn Italien es will, werde ich sterben für seine neue, heroische, heilige Kultur, die der Welt Wohlstand bringen wird und die nach Gottes Willen in Italien Wirklichkeit geworden ist.“ (Seite 231)

Glaubte er an den Faschismus, oder tat er nur so, um gute Noten zu bekommen?

Nach einer Weile fällt Bodoni auf, dass es drei Fenster gibt, die er nur von außen kennt. Wieso war er bei all seinen Streifzügen durchs Haus nie in den dazugehörigen Räumen? Er fragt Amalia. Sie will nichts sagen und beruft sich auf einen Eid, den sie seinem Großvater schwor, aber er lässt nicht locker, bis sie ihm erzählt, dass es sich um die Fenster einer ehemaligen Kapelle handelt. Dort versteckten sein Großvater, dessen Sohn und ihr eigener Vater damals vier Partisanen vor den Schwarzen Brigaden und mauerten sicherheitshalber die Tür zu. Wie bekamen sie dann aber etwas zu essen und zu trinken? Bodoni sucht im Speicher den Boden ab und stößt, wie erwartet, auf eine verborgene Falltür, die in die zugemauerte Kapelle führt.

Ein Comicheft aus dem Jahr 1935 trägt den Titel „La misteriosa fiamma della regina Loana. Nuove aventure di Cino e Franco“ (Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana. Neue Abenteuer von Cino und Franco).

Ich schlug das Heft auf und vertiefte mich in die fadeste, dümmste Geschichte, die je ein menschliches Hirn sich hatte ausdenken können. Es war eine roh zusammengehauene Erzählung, die in allen Scharnieren klapperte, die Geschehnisse waren repetitiv, die Leute entbrannten grundlos in plötzlicher Liebe […] (Seite 278)

Königin Loana bewahrt durch eine geheimnisvolle Flamme ihre Jugend, während sie zweitausend Jahre lang über einen afrikanischen Stamm herrscht. Damit ist es vorbei, als bei irgendeiner Katastrophe die Flamme erlischt.

Bondoni fragt sich, ob er eine Mitschülerin anhimmelte und erkundigt sich telefonisch bei Gianni Laivelli. Sein Freund erzählt ihm von Sibilla („Lila“) Saba. Yambo richtete es immer wieder so ein, dass er ihr begegnete, initiierte eigens eine Schultheateraufführung, um vor ihr auf der Bühne stehen zu können und ließ sich Zähne plombieren, um vom Wartezimmer des Zahnarztes auf den Balkon von Lilas Wohnung schauen zu können, aber er sprach sie niemals an. Dann verschwand sie unvermittelt mit ihren Eltern. Es hieß, ihr Vater habe sich wegen betrügerischen Bankrotts nach Brasilien absetzen müssen. Lilas Busenfreundin Sandrina, die vermutlich mehr wusste, verriet nichts. Neulich traf Laivelli zufällig Sandrina wieder und erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass Lila im Alter von achtzehn Jahren gestorben war. Kurz nachdem er seinem Freund darüber berichtet hatte, erlitt dieser den Herzinfarkt.

Bondoni ist entsetzt: Wegen des Namens fühlte er sich wohl zu seiner Assistentin hingezogen; vermutlich hat auch Paola immer nur als Ersatz für seine verlorene Jugendliebe herhalten müssen, und es sieht so aus, als sei er sein ganzes Leben hinter einer Frau her gewesen, die seit Jahrzehnten tot war. Aber er kann sich nicht daran erinnern.

Ich fühlte mich verwirrter als zu Beginn meiner Suche. Vorher hatte ich wenigstens keine Erinnerungen gehabt, es war die absolute Leere gewesen. Jetzt erinnerte ich mich noch immer nicht, aber ich hatte zu viel gelernt. (Seite 238)

Als Bodoni in einer Kiste auf dem Dachboden auf eine äußerst seltene Shakespeare-Ausgabe aus dem Jahr 1623 stößt, bricht er vor Aufregung mit einem weiteren Herzinfarkt zusammen.

Wie kommt es, dass ich mich plötzlich an all das erinnere? Wo bin ich? Ich wechsle von nebulös verschwommenen Panoramen zu überscharf klaren Bildern häuslicher Szenen und sehe eine große souveräne Ruhe. Aber nichts davon ist außer mir, alles ist in mir drinnen. Ich versuche, einen Finger zu bewegen, eine Hand, ein Bein, doch es ist, als hätte ich keinen Körper. Als schwömme ich im Nichts und schwebte über Abgründen, die sich zu Abgründen öffnen. (Seite 341)

In dem erneuten Koma lebt Bodoni in seinen Erinnerungen: Er ist wieder der kleine Junge, der ein Schwesterchen bekommt und macht noch einmal die Zeit der Partisanenkämpfe mit. Zwischendurch stellt er sich vor, dass Paola, Carla, Nicoletta und Dr. Gratarola an seinem Bett stehen und beratschlagen, ob sie die Geräte abschalten sollen oder nicht (Sterbehilfe).

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Witzig und einfallsreich schildert Umberto Eco in „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ zunächst das Erwachen des Protagonisten aus dem (ersten) Koma. Die Gedanken des Mailänder Antiquars sind mit Zitaten durchflochten. Sobald Giambattista Bodoni sich in seinem Geburtshaus auf Spurensuche begibt, wird der Roman vollends zur Collage aus Zitaten, Bezügen und Abbildungen.

Da mein Held sein persönliches Gedächtnis verloren hat, muss er versuchen, es anhand objektiver Materialien zu rekonstruieren – und die hat er mit seiner ganzen Generation gemein. (Umberto Eco in einem Interview)

Giambattista Bodoni versucht, sein autobiografisches Gedächtnis wieder aufzufüllen und seine Identität zurückzuerlangen. Damit scheitert er zwar zunächst, aber er rekonstruiert dabei den Horizont seiner Altersgenossen während der letzten Jahre des Mussolini-Regimes, und zwar mit allen Gegensätzen, denn da stehen faschistisch wirkende Schulaufsätze neben tumben Comics, Schnulzen und erbaulichen Traktaten, die in wohl gesetzten Worten vor der „Selbstbefleckung“ warnen. Vielleicht hat Umberto Eco bei „Die geheimnisvolle Flamme der der Königin Loana“ auch an eine Parodie des Erfahrungshorizonts im Medienzeitalter gedacht.

Der „illustrierte Roman“, den Umberto Eco nach einem billigen Comic-Heft aus dem Jahr 1935 benannt hat – „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ –, beeindruckt nicht durch seinen formalen Aufbau, sondern nur durch die großenteils durchaus witzige Auswahl und Zusammenstellung der trivialen Elemente. Persönlich ziehe ich die älteren Romane Umberto Ecos vor, allen voran „Der Name der Rose“ und „Baudolino“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Gedächtnisverlust, Amnesie
Koma, Wachkoma, Apallisches Syndrom

Umberto Eco (kurze Biografie / Bibliografie)
Umberto Eco: Der Name der Rose
Umberto Eco: Nachschrift zum Namen der Rose
Umberto Eco: Das Foucaultsche Pendel
Umberto Eco: Die Insel des vorigen Tages
Umberto Eco: Baudolino
Umberto Eco: Nullnummer

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.