Irene Dische : Schwarz und weiß

Schwarz und weiß
Schwarz und weiß Originalausgabe: Übersetzung: Elisabeth Plessen Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2017 ISBN: 978-3-455-40477-7, 489 Seiten, 22 € (D) ISBN: 978-3-455-81343-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1972 kommt der afroamerikanische GI Duke Butler aus Vietnam nach New York, um Lili Stones zu besuchen, die er zwei Jahre zuvor in Nairobi kennengelernt hatte. Lilis Eltern, ein wohlhabendes jüdisches Ehepaar, zeigen den aus prekären Verhältnissen stam­men­den gutmütigen Tölpel in ihren Intel­lek­tuel­len-Kreisen herum, als wäre er Kaspar Hauser. Dabei halten sie sich für liberal, vorurteilsfrei und aufgeschlossen. Lili und Duke heiraten. Sie haben kometenhafte Karrieren vor sich ...
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Kritik

Irene Dische nimmt in dem zynisch-satirischen Roman "Schwarz und Weiß" die Kreise liberaler, wohl­haben­der Intellektueller in New York aufs Korn und dekonstruiert den amerikanischen Traum. Die Figuren bleiben klischeehaft, aber böser Witz sorgt für Unterhaltung.
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Duke Butler kommt nach New York

Der afroamerikanische, im Vietnam-Krieg eingesetzte GI Duke Butler erhält im Juni 1972 Heimaturlaub, um seinen kranken Vater in Florida besuchen zu können. Der 22-Jährige nutzt die Gelegenheit, um in New York bei Lili Stones vorbei­zu­schauen, die er zwei Jahre zuvor in Nairobi kennengelernt hatte.

Deren Eltern, der Komponist Vlado Stones und die feministische Essayistin Bucky Stones, finden den aus prekären Verhältnissen stammenden, ebenso ungeschliffenen wie arglosen und gutmütigen Schwarzen interessant, zeigen ihn wie einen Kaspar Hauser in ihren kulturellen Kreisen herum und sorgen dafür, dass er bei ihnen in New York bleibt, statt nach Orlando weiterzufliegen. Sie beschaffen Atteste, die Duke die Rückkehr nach Vietnam ersparen und vermitteln ihm eine Anstellung bei dem distinguierten Weinhändler Samuel Perkins. Der stellt rasch fest, dass der unverbildete junge Mann, der noch nie zuvor Wein getrunken hat, jede Geschmacksnuance unterscheiden kann.

Kometenhafte Karrieren

Nachdem Lili und Duke geheiratet haben, schenken ihnen Vlado und Bucky eine Wohnung im selben Apartmenthaus an der Upper West Side. (Später zieht das junge Ehepaar in eine eigene Wohnung nahe den Zwillingstürmen des World Trade Centers.)

Lili, die nach dem Chemiestudium in Harvard als Krankenschwester in New York anfing, wird im Alter von 22 Jahren als Model entdeckt. Parallel zu ihrer erfolgreichen internationalen Karriere avanciert der Önologe Duke zum Fernsehstar. Er erhält sogar eine eigene TV-Show, in der er für nationale Lagen wirbt: „The Wine Patriot“.

Lili und Duke gelten als schwarz-weißes Traumpaar. Sie leben verschwenderisch. Dukes 35. Geburtstag am 16. März 1985 feiern sie in Long Beach. Sie stecken eine 100-Dollar-Banknote in eine ausgetrunkene Champagnerflasche und werfen sie ins Meer. Versehentlich zertritt Lili Dukes Brille. Als sie dann im Restaurant Hummer essen, rutscht sie mit der Gabel aus und zersticht Duke das rechte Auge.

Lili konsumiert Drogen und leidet an Bulimie. Ihre Brüste lässt sie vergrößern. Auf ihren Reisen als Model verwüstet sie schon mal ein Hotelzimmer. In Paris verliert sie ihm Bett eines illegal in Frankreich lebenden Ägypters namens Dionysos das Bewusstsein. Er schleppt sie nach unten, setzt sie wie einen Junkie in den Hauseingang und ruft von einer Telefonzelle anonym die Polizei. Im Krankenhaus kommt Lili wieder zu sich. Sie ruft Duke an und behauptet, man habe sie überfallen und vergewaltigt. Er fliegt sofort nach Paris und holt sie zurück nach New York.

Duke bringt die von Dionysos Schwangere schließlich in eine Abtreibungsklinik, wo sie alles über sich ergehen lässt. Kurz darauf muss sie wegen heftiger Blutungen erneut ins Krankenhaus, und die Ärzte entfernen ihre Gebärmutter.

1987 zieht sich Samuel Perkins aus dem Weingeschäft zurück und übergibt Duke auch seinen Besitz. Als er an Demenz erkrankt, bringt Duke ihn im besten Seniorenheim der Stadt unter.

Vlado Stones hört zu Beginn der Neunzigerjahre mit dem Komponieren auf und wird Lehrer. Dabei entdeckt er seine Päderastie und Homosexualität. Bald nach der Scheidung erkrankt Bucky an einem Glioblastom und stirbt.

Florida

Als Lili sich mit einem Mädchen namens Tilly anfreundet, ergreift deren Mutter Inez Johnson die Gelegenheit, reich zu werden: Sie droht Lili Butler mit einer Klage wegen der Verführung und des sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen und schlägt eine außergerichtliche Einigung vor: Lili soll 10 Millionen Dollar zahlen. Der von Lili engagierte Rechtsanwalt ist zunächst überzeugt, alles abwehren zu können, aber am Ende müssen die Butlers sogar 12 Millionen Dollar zahlen – und sind finanziell ruiniert.

Daraufhin fliegt Duke nach Florida, zu seiner Tante Bessy Pickens, die in Dunmovin lebt, wohin die Familie Butler 1920 gezogen war. Sie beauftragt ihren Neffen, die Asche ihres unehrenhaft aus der Armee entlassenen, am 17. Januar 1977 im Alter von 56 Jashren gestorbenen Bruders Ulysses Butler, den Duke für seinen Vater hält, auf dem Nationalfriedhof Arlington zu bestatten. Unbemerkt von den Wachen gräbt er dort unter einem Baum ein Loch, schüttet die Asche aus und schnitzt den Namen Ulysses Butler in die Rinde, verkehrt herum, weil er von oben her arbeitet.

Bessy trauert nicht nur um ihren Bruder, sondern auch um ihren Sohn Carl. Der hatte seinen jüngeren, pazifistischen Cousin beim Militär schikaniert und später in New York mit einem Besuch überrascht. Als er durch eine Überdosis Drogen bewusstlos war, brachte Duke ihn ins Krankenhaus und verständigte die Polizei, die nach Carl Pickens fahndete. Im Gefängnis wurde Carl erstochen.

Lucy Akomo

In der von Tante Bessy seit mehr als zwei Jahrzehnten für den Neffen aufgehobenen Post findet Duke ein an ihn adressiertes Aerogramm aus Nairobi von Anfang der Siebzigerjahre. Die Absenderin heißt Lucy Akomo. Sie ist seine Tochter.

Als sich Duke und Lili 1968 in Nairobi begegnet waren, hatte sich Lili zwar der Entjungferung verweigert, aber darauf bestanden, dass er zu einer Prostituierten ging und die Afrikanerin Miriamu für ihn ausgesucht. Die legte es darauf an, einen Touristen erpressen zu können. Sie wurde zwar schwanger, aber sie hatte vergessen, sich Dukes Kontaktdaten zu besorgen. Erst ihre Tochter Lucy schrieb schließlich an die Adresse der Familie Butler in Florida.

Duke verheimlicht Lili, dass er eine Tochter hat und schließt sich in seinem Zimmer ein, wenn er mit Lucy telefoniert. Lili findet es dennoch heraus.

Sie verhökert ihren Dealern inzwischen aus Geldmangel Hausrat. Einmal verursacht sie den Tod eines jungen Paars auf einem Motorrad, indem sie nachts das Fernlicht am geparkten Auto einschaltet, um den Fahrer zu blenden und zu erschrecken.

Anfang 1999 fliegt Lucy Akomo mit einem One-Way-Ticket von Nairobi über London nach Orlando. Duke kauft ihr eine Eigentumswohnung neben Disney World und meldet sie in einem College an.

Das tragische Ende

Bei einem Streit von Vater und Tochter wird Rotwein auf einem Teppich verschüttet. Duke fährt los und holt Gin, um damit den Fleck zu entfernen, aber Lucy nimmt die Flasche und trinkt daraus. Duke folgt ihrem Beispiel, bis sie die Flasche absichtlich zertrümmert und ihre Handflächen in die Scherben presst. Dann rennt sie auf den Balkon. Duke versucht, sie zurückzuhalten, aber sie stürzt sie sich über die Brüstung in der 5. Etage. Die von Nachbarn alarmierte Polizei findet Duke verstört und blutverschmiert vor. Auf dem Teppich scheint ein großer Blutfleck zu sein. Zeugen sagen aus, sie hätten einen lautstarken Streit gehört und gesehen, wie Duke die junge Frau in die Tiefe gestoßen habe. Gerüchten zufolge hatte der Vater mit seiner Tochter ein inzestuöses Verhältnis.

Statt um einen Freispruch zu kämpfen, unterschreibt Duke Butler am 16. März 1999 ein Geständnis.

Am Tag seiner Hinrichtung dreht seine Mutter Jo Bolin im Haus der Butlers das Gas auf, wartet dann auf die Rückkehr Lilis vom Gefängnis und wirft eine Handgranate ins Gebäude. Lili überlebt zwar die Explosion, aber ihr Gesicht wird durch die Verletzungen entstellt. Sie verkauft Jo das Anwesen mit der Ruine und zieht wieder nach New York.

Vorgeschichte

Duke wurde 1950 in Berlin geboren. Seine Mutter Jutta Kunz, die Tochter eines Postangestellten und einer Hausfrau, war damals 15 Jahre alt. Am 14. Juni 1949 hatte sie den GI Ludwig Nijoya kennengelernt. Dessen Vater, ein Jazzmustiker und Schauspieler, war vor Hitlers Machtergreifung aus Kamerun nach Deutschland gekommen.

Einige Zeit nach der Geburt ihres Sohnes wurde Jutta Kunz die Geliebte des US-Sergeants Ulysses Butler. Weil dieser das Kleinkind dazu brachte, ein Glas Whiskey auszutrinken und Duke daraufhin das Bewusstsein verlor, wurde Ulysses Butler unehrenhaft aus der Armee entlassen.

1954 nahm er Jutta Kunz und Duke mit nach Florida. Aber dort erfuhr Jutta, dass Ulysses bereits verheiratet war und Thelma Butler sich einer Scheidung verweigerte. Trotzdem lebten Ulysses, Jo (diesen Namen wählte Jutta in den USA) und Duke wie eine Familie zusammen, bis der ehemalige Sergeant eines Tages aus dem Dachfenster kletterte, Duke im Garten salutieren ließ – und in die Tiefe stürzte. Im Krankenhaus schrie er bei Dukes Anblick „Dieser blauäugige Nigger ist nicht mein Sohn!“ Daraufhin ließ Jo ihn in eine Irrenanstalt einweisen und brannte mit dem Biker Jerry Bolin durch. (Bessy Pickens holte ihren Bruder Ulysses gleich wieder aus der Irrenanstalt.) Jo heiratete Jerry Bolin 1968 und erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft. Aber gleich nach der Geburt der Tochter Anne machte sich Jerry Bolin aus dem Staub.

Duke erfuhr erst als Erwachsener von der Existenz einer Halbschwester und wusste auch lange nichts von seinem leiblichen Vater Ludwig Nijoya, der übrigens am 5. Juni 1972, dem Tag, an dem Duke in New York eintraf, auf einer U-Bahn-Treppe überfallen und erschossen wurde.

Jo Bolin berichtet zehn Jahre nach der Hinrichtung ihres Sohnes und der Explosion seines Hauses Tilda Johnson über all das. Die als Jugendliche mit Lili Butler befreundete Drehbuchautorin beabsichtigt nämlich, eine Fernsehserie über Lili und Duke Butler zu schreiben.

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Im Zentrum des Romans „Schwarz und Weiß“ von Irene Dische steht ein schwarz-weißes Paar. Der Afroamerikaner Duke Butler ist ein gutmütiger Tölpel, der aus prekären Familienverhältnissen aufsteigt und sich manipulieren lässt, bis ein Ereignis aus der Vergangenheit den Parvenü einholt und zerstört. Lili, die Tochter eines wohl­haben­den jüdischen Ehepaars aus New Yorker Intellektuellen­kreisen, beherrscht im Gegensatz zu Duke das Spiel mit dem oberflächlichen Schein und reüssiert dementsprechend als Model. Sie leidet unter Bulimie, nimmt Drogen, betrügt ihren Mann und sorgt immer wieder für Katastrophen. Ihren Namen assoziiert man wohl nicht zufällig mit der mythologischen Figur Lilith.

Im Klappentext heißt es:

Mit Schwarz und Weiß durchschreitet Irene Dische die letzten drei Jahrzehnte des letzten Jahrtausends, um nichts weniger als unsere Gegenwart auszuleuchten. Was als großartiger, scharfsinniger wie auch scharfzüngiger New York-Roman beginnt, entwickelt sich nach und nach zu einer brillanten Auseinandersetzung mit Projektionen und Heilsversprechen, mit individuellen Träumen und sozialen Realitäten.

Das ist ein wenig übertrieben, denn für ein Gesellschaftsporträt fehlt es „Schwarz und Weiß“ an Tiefgang, und die Figuren sind zu klischeehaft. Gewiss, Irene Dische nimmt beispielsweise die Kreise wohlhabender jüdischer Intellektueller in New York (denen sie selbst entstammt) aufs Korn. Lilis Eltern zeigen einen naiven, ungehobelten Afroamerikaner herum, als wäre er Kaspar Hauser. Dabei halten sie sich für liberal, vorurteilsfrei und aufgeschlossen. Diese exaltierte Überheblichkeit prallt in „Schwarz und Weiß“ auf das bodenständige Leben in der Provinz, das zugleich mit der Disney World kontrastiert. Den amerikanischen Traum konterkariert Irene Dische mit den kometenhaften Karrieren von Duke und Lili.

„Schwarz und Weiß“ ist ein satirischer Aufsteigerroman und eine Familiensaga mit gesellschaftskritischen Zügen. Schwarz und Weiß wechseln sich dabei ebenso ab wie Licht und Schatten, Höhen und Tiefen.

Irene Dische hat die Geschichte von Duke und Lili Butler in einen Rahmen eingefügt: Dukes zynische Mutter Jo Bolin, geborene Jutta Kunz, erzählt einer Drehbuchautorin zehn Jahre später die ganze Geschichte. Was zwischen 1972 und 1999 stattfindet, stellt Irene Dische aus einer auktorialen Perspektive dar. Dann und wann meldet sich aber auch Jo zu Wort („Ich bin’s, Jo“), und von ihr erfahren wir unter anderem, was vor 1972 geschah.

Durch Jos Prolog wissen wir von Anfang an, dass die Geschichte kein Happy End hat. Irene Dische erzählt sie einfallsreich, rasant und unterhaltsam, aber es fehlt „Schwarz und Weiß“ an Stringenz. Vieles bleibt punktuell. Es gibt Episoden, die für das Ganze bedeutungslos sind und Figuren, die kurz auftauchen und später keine Rolle mehr spielen. „Schwarz und Weiß“ erinnert ein wenig an den Roman „Das Hotel New Hampshire“, aber John Irving hat mehr Esprit als Irene Dische, obwohl auch in „Schwarz und Weiß“ immer wieder böser Witz funkelt:

Lottospielen war albern, eine Geldverschwendung für Habenichtse. Börsenspekulation hingegen war eine intellektuelle Herausforderung für die Klugen, die wussten, wie man gewinnt.

In der Therapie lernte man, anderen die Schuld an den eigenen Fehlern zu geben; man vergab sich selbst. In der Kirche lernte man, sich selbst die Schuld zu geben; man vergab den anderen.

Irene Dische wurde 1952 in New York als Tochter des Biochemikers Zacharias Dische und der Ärztin und Biochemikerin Renate Rother geboren. Im Alter von 17 Jahren brach sie zu einer Weltreise auf. Ab 1970 assistierte sie dem berühmten Paläoanthropologen Louis Leakey in Ostafrika. Nach dessen Tod im Jahr 1972 kehrte sie in die USA zurück und studierte in Harvard. Sie ist mit dem deutschen Rechtsanwalt Nicolas Becker verheiratet, einem Sohn des Bildungspolitikers Hellmut Becker und der Schriftstellerin Antoinette Becker, der in den Siebzigerjahren RAF-Mitglieder vor Gericht verteidigte.

Der Eichborn Verlag veröffentlichte 1989 sieben Geschichten von Irene Dische unter dem Titel „Fromme Lügen“. Ihr Romandebüt folgte 1993 mit “ Ein fremdes Gefühl oder Veränderungen über einen Deutschen“ im Rowohlt Verlag.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Hoffmann und Campe Verlag

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