James Baldwin : Giovannis Zimmer

Giovannis Zimmer
Originalausgabe: Giovanni's Room, 1956 Giovannis Zimmer Übersetzung: Axel Kamm und Hans-Heinrich Wellmann Rowohlt Verlag, Reinbek 1958 Die ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher Verlag Eder & Bach, München 2015 ISBN: 978-3-945386-09-5, 208 Seiten Neuübersetzung: Miriam Mandelkow Nachwort: Marianna Salzmann dtv, München 2020
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

David, ein Amerikaner Ende 20, packt in einem gemieteten Haus an der Riviera einsam seine Sachen. Seine Verlobte Hella verließ ihn, als seine Homosexualität nicht mehr zu übersehen war, und Giovanni, mit dem er zwei Monate lang in Paris zusam­men­lebte, wird man am nächsten Morgen zur Guillotine führen. In dieser schlaflosen Nacht gehen David die zwiespältigen Erlebnisse der letzten Monate nicht aus dem Sinn ...
mehr erfahren

Kritik

Die dramatische Entwicklung in dem tragischen Beziehungsdrama "Giovannis Zimmer" vollzieht sich weniger in äußeren Ereignissen als in psychischen Auseinandersetzungen, die James Baldwin tief ausleuchtet. Es ist eine packende, aufwühlende Lektüre und große Literatur.
mehr erfahren

David wurde in San Francisco geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb seine Mutter. Der verwitwete Vater zog mit seiner älteren, unverheirateten Schwester Ellen und dem Sohn nach Seattle, Manhattan, Brooklyn und wieder zurück nach Manhattan. David war 13 Jahre alt, als er hörte, wie seine Tante Ellen ihrem Bruder vorwarf, sich mit Frauen herumzutreiben und kein gutes Vorbild für seinen Sohn zu sein. An der Highschool hatte David einen etwa gleichaltrigen besten Freund. Er hieß Joey. Einmal, in den Sommerferien, als Joeys Eltern nicht zu Hause waren, küssten sich die beiden Jungen unversehens.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich den Körper eines anderen Wesens, nahm bewusst den Geruch eines anderen Wesens wahr.

Danach gingen sie sich verschämt aus dem Weg. Bei Militär erschrak David, als ein homosexueller Kamerad vor ein Kriegsgericht gestellt wurde. Während sich sein Vater nach dem Tod seiner Schwester Ellen mit seiner zweiten Ehefrau in Connecticut einrichtete, zog David nach Paris.

In einer Bar im Stadtteil Saint-Germain-des-Prés lernt er die zwei Jahre jüngere Hella Lincoln aus Minneapolis kennen. Ihr Vater arbeitet dort Syndikus. Sie kam fast gleichzeitig mit David nach Frankreich, um Malen zu lernen, hat aber inzwischen eingesehen, dass ihr Talent dafür nicht ausreicht. Nachdem David ihr im zweiten Jahr seines Paris-Aufenthalts einen Heiratsantrag gemacht hat, reist sie allein nach Spanien, um Abstand zu gewinnen und darüber nachdenken zu können.

David besitzt zwar ein Bankkonto in den USA, aber sein Vater wacht darüber und schickt ihm nur ungern Geld, denn er möchte seinen inzwischen auf die 30 zugehenden Sohn davor bewahren, mittellos in die USA zurückzukehren. Weil David sein Zimmer nicht mehr bezahlen kann, wendet er sich an Jacques, einen fast doppelt so alten amerikanischen Geschäftsmann belgischer Herkunft. Der lädt ihn zum Essen in ein Restaurant ein und leiht ihm 10.000 Francs. Danach nimmt er David mit in eine Schwulenbar, zu deren Stammgästen er zählt.

Dort freundet David sich noch in derselben Nacht mit dem aus Italien stammenden Barmann Giovanni an. Am Morgen begleitet er Giovanni, Jacques und den Patron Guillaume zu einem aus Austern und Weißwein bestehenden Frühstück in Les Halles. Giovanni erzählt ihm, dass er in den Hallen gearbeitet hatte, bis ihm Giullaume vor einem Monat eine Arbeitserlaubnis verschaffte und ihn einstellte, obwohl Giovanni keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht mit ihm ins Bett gehen würde.

Giovanni überredet David, nicht in das Haus zurückzukehren, in dem ihm die Concierge den Weg zu seinem Zimmer versperren würde, sondern zu ihm zu ziehen. Dabei ist Giovannis Zimmer eigentlich viel zu klein. Außerdem ist es schmutzig, und weil es keine Vorhänge gibt, hat Giovanni das Fenster zum Hof mit weißer Reinigungspaste bestrichen.

Wenn ich nicht sofort die Tür aufmache und gehe, dachte ich, dann bin ich verloren.

Obwohl David annimmt, dass es falsch ist, bleibt er bei Giovanni, und es bedeutet ihm viel, dessen Gesicht heiter machen zu können. Erst nach einem Monat erwähnt er Hella.

Manchmal, wenn er nicht bei mir war, dachte ich: Nie wieder werde ich mich von ihm berühren lassen. Und wenn er mich dann berührte, dachte ich: Es spielt keine Rolle, es ist nur der Körper, es ist bald vorüber. War es aber vorüber, so lag ich in der Dunkelheit, lauschte seinen Atemzügen und träumte von Händen, die mich berührten […]

Das Tier, das Giovanni in mir geweckt hatte, würde nie wieder einschlummern, aber eines Tages würde ich nicht mehr bei Giovanni sein. Und dann – ob ich dann wohl, wie all die anderen, auf Gott weiß welchen dunklen Straßen hinter allen möglichen jungen Männern herlief, ihnen in Gott weiß welche dunklen Verstecke folgte?
Bei diesem furchtbaren Gedanken brach in mir ein Hass auf Giovanni hervor, der ebenso gewaltig war wie meine Liebe und der aus denselben Wurzeln gespeist wurde.

Nach zwei Monaten schreibt Hella aus Mallorca, sie habe sich entschlossen, seinen Heiratsantrag anzunehmen, werde noch mit einer englischen Familie zehn Tage in Sevilla verbringen und dann nach Paris zurückkehren.

Alles, was ich empfand, war eine gewisse Erleichterung. Die Notwendigkeit, eine Entscheidung zu treffen, schien von mir genommen zu sein. […] Wenn sie jetzt kam, war mein Leben mit Giovanni zu Ende, war es nur noch eine Episode, die hinter mir lag.

Um sich seine Heterosexualität zu beweisen, sucht David nach einem Mädchen, bis er eine Bekannte namens Sue aus Philadelphia trifft. Zögernd willigt sie ein, ihn mit nach Hause zu nehmen. Aufgrund schlechter Erfahrungen ahnt sie, dass es bei einem One-Night-Stand bleiben wird. Ohne Sue zu begehren, schläft David mit ihr und verlässt sie dann mit schlechtem Gewissen.

Als er in Giovannis Zimmer zurückkommt, steht dieser wider Erwarten nicht hinter dem Tresen in der Bar, sondern wartet verzweifelt auf ihn und hat sich betrunken. Guillaume beschuldigte ihn in der letzten Nacht aus Eifersucht vor den Gästen eines Diebstahls, drohte mit der Polizei und warf ihn hinaus. Giovanni fleht David an, ihn nicht fallen zu lassen. In den nächsten Tagen bemüht er sich, das Zimmer für David zu verschönern und meißelt Mauersteine heraus.

Vielleicht war es ein verzweifelter Versuch, die andrängenden Wände zurückzuschieben, ohne sie zum Einsturz zu bringen.

Das war zu der Zeit, als Giovanni seine Stellung verloren hatte und wir abends spazieren gingen. Es waren bittere Abende. Giovanni wusste, dass ich ihn verlassen wollte, aber er wagte nicht, danach zu fragen, aus Angst, dass ich es bestätigen könnte.

David sagt Giovanni nichts von Hellas bevorstehender Rückkehr und verschweigt ihm auch, dass er sie vom Bahnhof abholt. Er versucht, nicht an Giovanni zu denken, von dem er weiß, dass er verzweifelt in seinem Zimmer auf ihn wartet. Mit großer Leidenschaft treibt er es mit Hella.

Ich hoffte, Feuer durch Feuer zu vertreiben.

Er schreibt seinem Vater, dass er eine Amerikanerin kennengelernt habe und heiraten wolle. Nach den Flitterwochen, so kündigt er an, werde er mit ihr in die USA zurückkehren. Nun soll ihm der Vater erst einmal Geld schicken.

Drei Tage verbringt David mit Hella, ohne sich bei Giovanni zu melden. Dann trifft das Paar zufällig in einer Buchhandlung mit Jacques und Giovanni zusammen. Jacques hat sich inzwischen Giovannis angenommen, der sich nichts mehr zu essen kaufen konnte. Hella erfährt auf diese Weise, dass David zwei Monate lang in Giovannis Zimmer wohnte. Später erklärt er ihr, ihm sei das Geld ausgegangen und Giovanni habe ohnehin fast alle Nächte bei seiner Geliebten verbracht. Die habe er inzwischen allerdings ebenso verloren wie seine Anstellung.

Am nächsten Abend besucht David Giovanni. Sie geraten in Streit. Giovanni klärt David darüber auf, dass er in einem italienischen Dorf in den Weinbergen gearbeitet und eine Frau gehabt habe. Sie waren glücklich, bis ihr Kind tot geboren wurde. Da bespuckte Giovanni das Kreuz an der Wand. Gleich nach der Beerdigung des kleinen Körpers verließ er die Frau und das Dorf.

David will fort aus Paris. Als sein Vater Geld schickt, mieten er und Hella ein Haus an der Riviera.

Vor der Abreise sieht er Giovanni hin und wieder auf der Straße, zuerst meistens mit Jacques, dann stattdessen mit Strichjungen. Von Yves, einem dieser jungen Männer, erfährt er, dass Giovanni und Jacques sich getrennt haben. Eine Woche später wird Guillaume in seiner Privatwohnung über der Bar tot aufgefunden. Man hat ihn mit der Kordel seines Morgenmantels erdrosselt. Das Geld, das der Patron bei sich hatte, fehlt, aber der Täter hat weder die gut gefüllte Brieftasche im Kleiderschrank noch die Registrierkasse in der Bar angerührt.

Eine Woche lang fahndet die Polizei nach dem Mordverdächtigen Giovanni, dann entdeckt ihn ein Feuerwehrmann auf einem am Seine-Ufer vertäuten Lastkahn. Er wird festgenommen und wegen Raubmords angeklagt. Giovanni bekennt sich schuldig. Das Gericht verurteilt den Lebensmüden zum Tod.

An der Riviera fällt David auf, dass er Hellas Körper reizlos findet. Wenn sie ihm bei Tisch etwas serviert und dabei mit der Brust seinen Arm streift, schreckt er zusammen.

Ein Körper, der mit so albernen, schräggeschnittenen Kleidungsstücken bedeckt werden musste, war in meinen Augen lächerlich.

Hella merkt selbstverständlich, dass etwas nicht stimmt, aber er kann nicht darüber reden.

„Was ist los, David? Was willst du?“
„Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!“

Eines Nachts schleicht er sich davon, während Hella schläft, und fährt nach Nizza. Dort treibt er sich mehrere Tage und Nächte mit einem Matrosen herum, bis Hella die beiden in einer Schwulenbar aufspürt. Bis zu diesem Augenblick wollte sie nicht wahrhaben, was sie bereits ahnte: dass David sich mehr aus Männern als aus Frauen macht. Sie packt unverzüglich ihre Sachen, nimmt den Zug nach Paris und kehrt von dort in die USA zurück.

Eine Woche nach ihrer Abreise verlässt auch David das gemietete Haus an der Riviera. Am letzten Abend kommt die Hausverwalterin, um das Inventar zu überprüfen. Sie sei besorgt um ihn gewesen, sagt sie, weil ihn seit Tagen niemand gesehen habe.

Während David in dieser letzten Nacht einsam aufräumt und die Koffer packt, gehen ihm die Erlebnisse nicht aus dem Sinn. Er weiß, dass Hella dabei ist, den Atlantik auf einem Schiff zu überqueren und man Giovanni im Morgengrauen zur Guillotine führen wird.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

James Baldwin (1924 – 1987) veranschaulicht in seinem erschütternden Roman „Giovannis Zimmer“ die Qualen eines Mannes, der seine gleichgeschlechtlichen Neigungen nicht wahrhaben will. Mit ihm leiden auch andere.

Erzählt wird die Geschichte vom Protagonisten David in der Ich-Form. Dafür hat James Baldwin die Form einer Rahmengeschichte gewählt: In der Nacht vor Giovannis Hinrichtung packt David einsam seine Sachen, und die Ereignisse der letzten Monate gehen ihm noch einmal durch den Sinn. Das geschieht natürlich nicht chronologisch, sondern im ständigen Vor und Zurück. James Baldwin nutzt diese gelungene Komposition geschickt, um Schlüsselereignisse früh anzudeuten und auf diese Weise Spannung aufzubauen. Da er die Guillotine bereits auf der vierten Seite erwähnt, ahnen wir von Anfang an das tragische Ende des Beziehungsdramas.

Die Entwicklung in „Giovannis Zimmer“ vollzieht sich weniger in äußeren Ereignissen als in psychischen Auseinandersetzungen. James Baldwin leuchtet sowohl die Situationen als auch die Charaktere tief aus. Dabei bleibt er dezent und subtil.

Trotz des verstörenden Inhalts, der allesamt einsamen und unglücklichen Figuren sowie der dicht-düsteren Atmosphäre stellt „Giovannis Zimmer“ keine qualvolle Lektüre dar, ganz im Gegenteil: sie ist packend und aufwühlend. James Baldwin hat mit „Giovannis Zimmer“ große Literatur geschaffen.

Die dtv-Verlagsgesellschaft plant für 2019 oder 2020 eine Neuübersetzung des Romans.

Als das Buch 1956 veröffentlicht wurde, löste es einen Skandal aus, denn James Baldwin brach damit zwei Tabus, einmal, weil er als Afroamerikaner über Weiße schrieb und vor allem, weil er Homosexualität unter Männern thematisierte. Die stand in den USA noch bis 2003 unter Strafe.

Den Roman „Giovannis Zimmer“ von James Baldwin gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Jens Wawrczeck (ISBN 978-3942210355). Und eine Neuausgabe der deutschen Übertragung von Axel Kamm und Hans-Heinrich Wellmann erschien in der „ZEIT Bibliothek der verschwundenen Bücher“. Moritz Scheper schrieb dazu ein Nachwort. Die Bände sind bibliophil gestaltet (Leinenrücken, Lesebändchen, farbiger Vorsatz):

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

James Baldwin: Beale Street Blues

Don Winslow - Die Sprache des Feuers
"Die Sprache des Feuers" ist ein fulminanter Kriminalroman. Don Winslow reißt uns in atem­berau­ben­der Geschwindigkeit durch eine Handlung mit immer neuen Wen­dun­gen. Die Sprache besteht aus kurzen, flotten Sätzen.
Die Sprache des Feuers