Ferdinand von Schirach : Verbrechen
Inhaltsangabe
Fähner – Tanatas Teeschale – Das Cello – Der Igel – Glück – Summertime – Notwehr – Grün – Der Dorn> – Liebe – Der Äthiopier
Kritik
Fähner
Friedhelm Fähner, der Sohn eines praktischen Arztes in Rottweil, studiert Medizin in München. Im Alter von vierundzwanzig Jahren lernt er die drei Jahre ältere Apothekertochter Ingrid aus seiner Heimatstadt kennen. Sie brach die Realschule ab und arbeitet als Kellnerin. Sexuell ist sie erfahrener als Fähner. Die beiden heiraten nach wenigen Monaten.
Nach der Promotion fängt Fähner als Arzt im Kreiskrankenhaus von Rottweil an, und mit fünfunddreißig übernimmt er die Praxis seines Vaters.
Ingrid wird immer zänkischer.
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Als Friedhelm Fähner zweiundsiebzig Jahre alt ist, erträgt er das ständige Genörgel nicht länger. Er spaltet Ingrid im Keller mit einer Axt den Schädel und ruft dann die Polizei.
Ein Gericht verurteilt ihn zu drei Jahren Haft im offenen Vollzug.
Tanatas Teeschale
Berlin. Der siebzehnjährige Samir gerät mit einem Amateurboxer in Streit. Bevor dieser seine Jacke ausgezogen hat, tritt Samir ihm in die Hoden, rammt ihm das rechte Knie unters Kinn und bricht ihm mit einem Tritt zwei Rippen.
Samir fand, er habe sich fair verhalten. Er hatte nicht in das Gesicht getreten, und vor allem: Er hatte das Messer nicht benutzt. (Seite 22)
Dass der Jugendrichter ihn zu zwei Wochen Arrest und zum Besuch eines Antigewaltseminars verurteilt, hält Samir für ungerecht. Er sei nur schneller gewesen, meint er.
Sein ein Jahr älterer Freund Özcan holt ihn vom Arrest ab und erzählt ihm von seinem neuen Bekannten Manólis. Dessen Schwester kennt eine Putzfrau, die in einer Villa in Dahlem beschäftigt ist. Weil die Frau Geld benötigt, schlug sie Manólis unlängst einen Einbruch vor, schrieb ihm die Codes des elektronischen Türschlosses und der Alarmanlage auf, erklärte ihm alles, was er wissen musste und kündigte ihm an, dass der Besitzer in Kürze für vier Tage verreisen wird.
Manólis, Özcan und Samir brechen problemlos in die Villa ein und reißen den Tresor aus der Wand. Sie erbeuten 120 000 Euro in bar, sechs wertvolle Uhren und eine lackierte Holzkiste, in der sich eine Schale befindet. Özcan will sie wegwerfen, aber Mike, der von Entrümpelungen lebt, gibt ihnen 30 Euro dafür.
Der Besitzer der Villa, ein sechsundsiebzig Jahre alter Japaner namens Hiroshi Tanata, beauftragt seinen langjährigen Sekretär, bekanntzugeben, dass er bereit sei, die Teeschale zurückzukaufen, die sich seit mehr als vierhundert Jahren im Besitz seiner Familie befunden hat.
Pocol, der Betreiber mehrerer Geldspielsalons, liest von dem Raub und dem besonderen Interesse des Bestohlenen an der Teeschale in der Zeitung. Durch seine Kontakte findet er rasch heraus, wer die Täter waren und bestellt sie zu sich. Er verlangt 50 Prozent Beteiligung. Dann ruft er den Hochstapler und Betrüger Wagner an und fordert ihn auf, Herrn Tanata die Teeschale anzubieten.
Vier Stunden nachdem Wagner in der Villa angerufen hat, wird er in seiner Wohnung umgebracht.
Wagners Putzfrau stellte am nächsten Morgen die Einkäufe in die Küche und sah zwei abgeschnittene Finger in der Spüle kleben. Sie rief die Polizei. Wagner lag in seinem Bett, seine Oberschenkel waren mit einer Schraubzwinge zusammengepresst, in der linken Kniescheibe steckten zwei, in der rechten drei Zimmermannsnägel. Eine Garotte lag um seinen Hals, seine Zunge hing aus dem Mund. (Seite 33)
Auch Pocol wird ermordet. Samir, Özcan und Manólis, die sich inzwischen von Mike die Teeschale zurückgeben ließen, fürchten um ihr Leben. Sie wenden sich an den Rechtsanwalt, der die Geschichte erzählt, und bitten ihn, das Diebesgut zurückzugeben, ohne ihre Namen zu nennen.
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Der Jurist setzt sich daraufhin mit Herrn Tanatas Sekretär in Verbindung, vereinbart einen Termin und bringt die Teeschale und die Uhren zur Villa des Japaners. Der empfängt ihn persönlich und erklärt ihm, die Teeschale sei 1581 von Chojiro, dem Gründer der Raku-Tradition, angefertigt worden. Der Anwalt verspricht auch die Rückzahlung des gestohlenen Geldes.
„Welches Geld?“, fragte er.
„Das aus Ihrem Tresor.“
„Da war kein Geld.“
Ich verstand nicht sofort.
„Meine Mandantschaft sagte “
„Wenn dort Geld gewesen wäre“, unterbrach er mich, „wäre es vielleicht unversteuert gewesen.“
„Ja?“
„Und da Sie eine Quittung der Polizei werden vorlegen müssen, würden Fragen gestellt. Auch in der Anzeige habe ich nicht angegeben, dass Geld gestohlen worden sei.“ (Seite 38)
Ein Anrufer bestellt Samir, Özcan und Manólis in ein Café auf dem Kurfürstendamm. Ein überaus höflicher Herr zeigt ihnen auf dem Display seines Handys die letzten Minuten in Pocols und Wagners Leben und entschuldigt sich für die suboptimale Qualität der Aufnahmen. Am nächsten Tag übergeben ihm die jungen Männer nicht nur die gestohlenen 120 000 Euro, sondern legen noch 28 000 Euro drauf. „Das wäre doch nicht nötig gewesen“, meint der Herr und steckt das Geld ein.
Tanatas Putzfrau ertrinkt zwei Jahre später während eines Urlaubs in Antalya. Trotz ruhiger See scheint sie beim Schwimmen im Meer mit dem Kopf gegen einen Felsen geschlagen zu sein.
Das Cello
Der erfolgreiche, in Bad Homburg wohnende Frankfurter Bauunternehmer Tackler überlässt die Erziehung seiner beiden Kinder Theresa und Leonhard nach dem tödlichen Unfall seiner ersten Ehefrau einer Krankenschwester, die schon ihn erzogen hatte.
In den darauffolgenden Jahren zog an den Kindern eine ganze Anzahl von ‚Müttern‘ vorbei. Keine blieb länger als drei Jahre. (Seite 45)
In den Ferien muss Leonhard auf dem Bau arbeiten, und Tackler fordert den Polier auf, ihn gehörig ranzunehmen.
Als Theresa, die seit längerer Zeit Cello spielt, im Alter von zwanzig Jahren am Konservatorium angenommen wird, beabsichtigt sie, den Vater zusammen mit ihrem jüngeren Bruder zu verlassen. Daraufhin stellt Tackler für jeden der beiden einen Scheck über 250 000 Euro aus und organisiert ein öffentliches Abschiedskonzert mit Theresa als Solistin. Die Nachwuchscellistin wird auch in den Feuilletons überregionaler Zeitungen gefeiert.
Die Geschwister bleiben zusammen und reisen viel.
In Sizilien verunglücken sie mit einer Vespa. Theresa verstaucht sich nur die Schulter, Leonhard quetscht sich den Kopf. Im Krankenhaus verschlechtert sich sein Zustand, denn kurz vor dem Unfall hatte er sich mit E.-Coli-Bakterien infiziert. Tackler schickt mit dem Privatjet seines Unternehmens einen Arzt aus Frankfurt. Nach sechs Tagen wird Leonhard in die Charité geflogen.
Dort führen die Ärzte vierzehn Operationen durch.
Daumen, Zeige- und Ringfinger der linken Hand wurden entfernt. Die linken Zehen wurden im Grundgelenk abgenommen, ebenso der rechte Vorderfuß und Teile des rechten Rückfußes. (Seite 53)
Als Leonhard nach neun Monaten aus dem Koma geholt wird, stellt sich heraus, dass er sein Gedächtnis verloren hat und selbst seine Schwester nicht mehr erkennt.
Theresa bezieht mit ihm eine Wohnung des Vaters in Berlin und pflegt ihn dort.
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Als sie nach Monaten zum ersten Mal wieder Cello spielt, beginnt Leonhard zu masturbieren und möchte sie küssen. Theresa entkleidet sich und spielt mit geschlossenen Augen weiter, bis ihr Bruder eingeschlafen ist. Nachdem sie ihm das Sperma vom Bauch gewischt und ihn zugedeckt hat, übergibt sie sich im Bad.
Die Ärzte halten weitere Amputationen für erforderlich und befürchten eine Aphasie.
Da bereitet Theresa für ihren Bruder ein mehrgängiges Essen zu und mischt in alle Speisen Luminal. Er wird schläfrig. Sie führt ihn ins Bad und zieht ihn aus. Mit letzter Kraft steigt er in die gefüllte Badewanne. Theresa entkleidet sich ebenfalls und legt sich zu ihm ins heiße Wasser. Sie ist bei ihm, als er mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche gleitet [Sterbehilfe]. Erst nach zwei Stunden steigt sie aus dem kalten Wasser und ruft einen Rechtsanwalt an.
Man verhaftet Theresa. In der Zelle erhängt sie sich. Als Tackler die Nachricht erhält, erschießt er sich.
Der Igel
Der Libanese Walid Abou Fataris muss sich vor einem Gericht in Berlin verantworten. Er wird beschuldigt, in einem Pfandleihhaus 14 490 Euro geraubt zu haben. Als letzten Zeugen ruft das Gericht seinen Bruder Karim auf.
Karim ist der jüngste von neun Brüdern, die alle mehrfach vorbestraft sind. Sie leben alle zusammen mit ihrer verwitweten Mutter in Neukölln. Ebenso wie von seinen Brüdern wurde Karim in der Schule für einen Versager gehalten. Heimlich studierte er Mathematikbücher, aber in den Prüfungen machte er absichtlich ein paar Fehler, um nicht aufzufallen. Nach der Realschule lieh er sich von Walid 8000 Euro und ließ ihn in dem Glauben, das Geld für seinen Einstieg in den Drogenhandel zu benötigen. Stattdessen verdiente er mit Devisen- und Aktienspekulationen ein Vermögen, mietete ein Apartment und kaufte sich einen Computer.
Von seinem Doppelleben ahnte niemand etwas. Weder davon, dass Karim eine komplett andere Garderobe besaß, noch dass er spielend sein Abitur in der Abendschule nachgeholt hatte und zweimal pro Woche Mathematikvorlesungen an der Technischen Universität hörte. Er verfügte über ein kleines Vermögen, bezahlte Steuern und hatte eine nette Freundin, die Literaturwissenschaften studierte und nichts von Neukölln wusste. (Seite 63)
Walid hatte die Beute nach dem Überfall aufs Pfandleihhaus versteckt und die Pistole in die Spree geworfen. In der Wohnung der Familie fand die Polizei zwar kein Belastungsmaterial, aber der Bestohlene identifizierte Walid als Täter und beschrieb auch das apfelgrüne T-Shirt mit dem Aufdruck „Forced to Work“, das Walid bei der Festnahme trug.
Karim sagt als Zeuge überraschend aus, nicht Walid, sondern Imad, ein anderer seiner Brüder, habe die Tat begangen. Karim sei zur Tatzeit zu Hause gewesen. Anhand eines Fotos, auf dem alle neun Brüder abgebildet sind, weist Karim auf die große Ähnlichkeit von Walid und Imad hin. Die auffälligen T-Shirts hätten sie von einem Onkel bekommen und alle getragen. (In Wirklichkeit ließ Karim erst vor ein paar Tagen zwanzig Stück davon in einem Kopierladen bedrucken.) Er legt ein Kuvert mit 14 490 Euro auf den Richtertisch und behauptet, das habe ihm Imad nach dem Raubüberfall anvertraut.
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Walid wird freigesprochen.
Imad kann mit Ein- und Ausreisestempeln in einem Pass nachweisen, dass er zur Tatzeit im Libanon war.
Die Brüder, die Karims Schachzug nicht begreifen, halten ihn auch weiterhin für einen Versager.
Glück
Irina stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien. Nachdem ihr Bruder von vier Soldaten erschossen und sie von seinen Mördern vergewaltigt worden war, setzte sie sich mit Hilfe eines Schleppers nach Berlin ab. In der Heimat war sie Schneiderin, aber ohne Aufenthaltserlaubnis bekommt sie in Deutschland keine Arbeitsstelle. Notgedrungen prostituiert sie sich.
In der Straße, in der sie in die Autos der Freier einsteigt, pflegt der Obdachlose Kalle zu sitzen. Nach einiger Zeit tun sie sich zusammen und mieten eine Ein-Zimmer-Wohnung. Dort empfängt Irina nun ihre Freier.
Als einer von ihnen während der Fellatio tot aufs Bett sinkt, erschrickt Irina und flüchtet zu einer Freundin. Dort will sie warten, bis Kalle abends von der Arbeit kommt.
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Zufällig ist Kalle an diesem Tag ungewöhnlich früh zu Hause und findet den Toten dort vor. Er nimmt an, Irina habe den Kerl in Notwehr getötet. Um zu verhindern, dass sie verhaftet und abgeschoben wird, zerstückelt er die Leiche in der Badewanne und packt die Teile in schwarze Müllbeutel.
Während er die vier gefüllten Müllbeutel im Stadtpark vergräbt, kommt Irina zurück. Der Tote ist nicht mehr da. Offenbar hat Kalle ihn fortgeschafft. Damit er nicht in Schwierigkeiten kommt, ruft sie die Polizei an und lässt sich festnehmen. Kalle sieht, wie die Polizei sie abführt, läuft aufgeregt hin – und wird ebenfalls verhaftet.
Schließlich führt er die Ermittler zu der Stelle, wo die Leichenteile vergraben sind. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass der Mann einem Herzinfarkt erlag.
Die Haftbefehle werden aufgehoben. Irina beantragt Asyl und darf vorerst in Deutschland bleiben.
Summertime
Consuela arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel in Berlin. Um 15.26 Uhr stößt sie im Zimmer 239 auf die nackte Leiche einer jungen Frau, deren Kopf nur noch eine „matschig-blutige Masse aus Knochen, Haaren und Augen“ ist. Daneben liegt eine eiserne Lampe.
Bei der Toten handelt es sich um die Studentin Stefanie Becker.
Ihr fester Freund Abbas wuchs in Shatila auf, einem Palästinenserlager in Beirut. Um ihm eine bessere Zukunft zu ermöglichen, bezahlten seine Eltern einer Schlepperbande viel Geld. Sein Vater hatte ihn geohrfeigt, als er einmal auf dem Markt einen Apfel stahl, aber in Berlin begann Abbas mit Einbrüchen. Später verlegte er sich auf den Drogenhandel. Immerhin konnte er der im Libanon zurückgebliebenen Familie regelmäßig Geld schicken. Als er jedoch nicht mehr von den Spielautomaten wegkam, mieden ihn seine kriminellen Geschäftspartner und er geriet in finanzielle Schwierigkeiten.
Nachdem ihm ein Gläubiger den kleinen Finger der rechten Hand mit einer Kneifzange abgezwickt hatte, beichtete er Stefanie, was mit ihm los war. Um das Geld für ihn zusammenzukriegen, gab Stefanie heimlich eine Anzeige auf. Mit dem Industriellen Percy Boheim, der sich daraufhin gemeldet hatte, traf sie sich seit zwei Monaten bis zu zweimal pro Woche und erhielt dafür jeweils 500 Euro.
Abbas schöpfte Verdacht, überprüfte ihr Handy und stellte fest, dass Stefanie sich offenbar häufig mit einem Mann verabredete. Er beschattete sie und fand heraus, in welchem Hotel die beiden sich trafen.
Percy Boheim wird festgenommen. Unzweifelhaft stammt das im Haar der Toten sichergestellte Sperma von ihm. Seine Aussage, er habe das Hotel gegen 14.30 Uhr verlassen, wird durch die Aufnahme einer Überwachungskamera in der Tiefgarage wiederlegt, auf der die Uhrzeit 15.26 Uhr angezeigt wird.
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Sein Verteidiger merkt jedoch, dass die Überwachungskamera um eine Stunde vorgeht. Percy Boheim verließ das Hotel also tatsächlich um 14.26 Uhr. Das ist wichtig, denn in der Stunde bis zum Auffinden er Leiche konnte jemand anders die Studentin ermordet haben.
Der Industrielle wird ohne weitere Beweisaufnahme freigelassen.
Der Verdacht fällt nun auf Abbas, aber der junge Mann legt kein Geständnis ab, und es kann ihm nichts nachgewiesen werden.
Notwehr
Die beiden Hooligans Beck und Lenzberger pöbeln auf einem Berliner Bahnhof einen Mann an, der allein auf einer Bank sitzt und einen Apfel isst. Beck rülpst ihm ins Ohr, schlägt ihm den Apfel aus der Hand und fuchtelt mit seinem Messer herum, aber der Fremde blickt nicht einmal auf. Erst als Beck das Hemd des Mannes aufschlitzt und seine Brust etwa zwanzig Zentimeter lang ritzt, reagiert er.
Beck holte erneut Schwung. Lenzberger johlte. Der Mann umfasste Becks Messerhand und schlug dabei in seine rechte Armbeuge. Der Schlag änderte die Richtung des Messers, ohne den Schwung zu unterbrechen. Die Klinge beschrieb einen Bogen. Der Mann dirigierte die Spitze zwischen Becks dritte und vierte Rippe, Beck stach sich selbst in die Brust. Als der Stahl die Haut durchdrang, schlug der Mann hart auf Becks Faust. Alles war eine einzige Bewegung, fließend, fast ein Tanz. Die Klinge verschwand vollständig n Becks Körper. Sie zerschnitt sein Herz. (Seite 124)
Lenzberger reißt seinen Baseballschläger hoch, aber bevor er zuschlagen kann, trifft ihn der Fremde auf den Sinus caroticus. Er stirbt durch Herzversagen.
Der Fremde setzt sich wieder und wartet, bis er festgenommen wird. Er sagt kein einziges Wort. Papiere hat er keine bei sich, aber 16 543 Euro in bar. In seiner Kleidung fehlen die Etiketten.
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Die Polizei kann den Tathergang aufgrund von Zeugenaussagen und Aufnahmen einer Überwachungskamera genau nachvollziehen. Der Staatsanwalt will zwar auf einen Notwehrexzess hinaus, aber der Haftrichter ordnet die sofortige Freilassung des Mannes an.
Danach wird bekannt, dass am Morgen in Wilmersdorf ein Toter gefunden wurde. Er starb durch einen Messerstich ins Herz. Die Polizei kann weder DNA-Spuren, noch Fingerabdrücke oder Fasern sicherstellen. Offenbar handelt es sich um die Tat eines Profikillers.
Grün
Der neunzehnjährige Philipp von Nordeck tötet seit Monaten Schafe. Dabei sticht er jeweils genau achtzehn Mal zu und entfernt die Augen der Tiere. Sein Vater, Graf von Nordeck, bezahlt den Bauern den Schaden.
Als in einer von Philipp versteckten Zigarrenkiste Schafsaugen und ein Foto der Lehrertochter Sabine Gerike mit ausgestochenen Augen gefunden werden, ruft Graf von Nordeck besorgt ihren Vater an. Sabine sei unterwegs zu einer Freundin in München, meint Gerike. Aber dort taucht sie nicht auf.
Erst nach einer Woche meldet sie sich: Sie war heimlich mit dem Bauarbeiter Lars zum Baden nach Kollund gefahren.
Dem von seinem Vater eingeschalteten Rechtsanwalt vertraut Philipp an, dass er Menschen und Tiere als Zahlen sehe. Angst habe er vor der 18, denn das sei der Teufel. Auch Schafe seien 18. Deshalb müsse er sie töten und ihnen die Augen ausstechen.
Philipp von Nordeck wird in eine psychiatrische Klinik der Schweiz gebracht. Die Diagnose lautet: paranoide Schizophrenie.
Der Dorn
Feldmayer war bereits Briefträger, Kellner, Fotograf, Pizzabäcker und Schmied. Mit fünfunddreißig fängt er als Aufseher im städtischen Antikenmuseum an. Weil seine Karteikarte in der Personalabteilung verlorengeht, nimmt er nicht wie alle anderen Aufseher an der alle sechs Wochen vorgenommenen Rotation durch die verschiedenen städtischen Museen teil, sondern bleibt ständig in einem Saal, in dem eine antike Statue mit dem Motiv „Der Dornauszieher“ steht.
Nach acht Jahren glaubt Feldmayer, den Knaben vom Schmerz befreien zu müssen, aber selbst mit einer mitgebrachten Lupe kann er keinen Dorn finden. Er kauft gelbe Reißnägel und geht damit in ein Schuhgeschäft. Kurz darauf schreit ein Mann auf, der gerade Schuhe probiert. Stöhnend zieht er sich einen gelben Reißnadel aus dem Fußballen.
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Dreiundzwanzig Jahre lang bewacht Feldmayer den Saal mit dem „Dornauszieher“. Am Tag seiner Pensionierung wuchtet er die Statue vom Sockel und zertrümmert sie.
Die beiden Polizisten, die ihn nach Hause bringen, wundern sich darüber, dass er kaum Einrichtungsgegenstände besitzt. Dafür sind die Wände mit Tausenden von Fotos tapeziert. Das Motiv ist immer das Gleiche, nur die Orte und Personen wechseln: Alle abgebildeten Menschen ziehen sich einen gelben Reißnagel aus dem Fuß.
Der Psychiater konnte sich nicht entscheiden: Einerseits, so meinte er, habe Feldmayer unter seiner Psychose gelitten, andererseits könne es sein, dass er sich durch das Zerstören der Statue selbst geheilt habe. (Seite 173)
Liebe
Die beiden BWL-Studenten Patrick und Nicole sind seit zwei Jahren ein Paar.
Nach dem Koitus liegt Nicole mit dem Kopf auf seinem Oberschenkel. Sie sind beide nackt. Patrick zeichnet mit dem Finger liebevoll ihre Wirbelsäule nach. Dann nimmt er sein Taschenmesser vom Nachttisch. Nicole wundert sich über die Erektion so kurz nach dem letzten Orgasmus. Im nächsten Augenblick schreit sie, schlägt seine Hand zur Seite und springt auf: Patrick hat ihr mit dem Messer einen fünfzehn Zentimeter langen Schnitt auf dem Rücken zugefügt.
Sie will nichts mehr mit ihm zu tun haben und zeigt ihn an.
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Dem Anwalt, der ihn vertritt, vertraut Patrick an, er habe plötzlich das Bedürfnis verspürt, aus Liebe ein Stück Fleisch aus Nicoles Körper zu essen [Kannibalismus]. Der Jurist will mit ihm zur Notfallpsychiatrie, aber Patrick bittet um Bedenkzeit und verspricht, am nächsten Morgen wiederzukommen.
Er bleibt aus, und dem Anwalt wird das Mandat entzogen.
Zwei Jahre später wird er in Zürich von einem Strafverteidiger aus St. Gallen auf seinen früheren Mandanten angesprochen: Patrick habe vor zwei Monaten eine Kellnerin getötet, das Motiv sei völlig unklar.
Der Äthiopier
Als Säugling wurde Frank Xaver Michalka in einer Plastikwanne auf der Treppe des Pfarrhauses einer kleinen Gemeinde bei Gießen ausgesetzt. Nach ein paar Monaten im Kinderheim gaben ihn die Behörden zur Adoption frei, und er kam zu einem kinderlosen Hopfenbauern und dessen Ehefrau in Oberfranken. Sie hießen Michalka und gaben ihm die Vornamem Frank Xaver.
Michalka absolviert eine Schreinerlehre, und nach dem Militärdienst zieht er nach Hamburg, wo er Arbeit in einer Bauschreinerei in Fuhlsbüttel bekommt. Als jedoch Geld aus einem Spind gestohlen wird, entlässt man ihn. Zwei Wochen später stellt sich heraus, dass ein Drogenabhängiger der Dieb war. Michalka kommt als Hausmeister in einem Bordell unter, aber die Schulden wachsen ihm über den Kopf. Er beschließt, sich ins Ausland abzusetzen. Um sich das erforderliche Geld zu beschaffen, überfällt er mit einer Spielzeugpistole eine Sparkassenfiliale und erbeutet 12 000 Euro.
Von dem Geld kauft er sich ein Flugticket nach Addis Abeba. Dort will er ein neues Leben beginnen, aber das Elend, das er dort jeden Tag sieht, deprimiert ihn so, dass er nach einem halben Jahr an Selbstmord denkt. Allerdings möchte er nicht in Addis Abeba sterben. Er fährt mit dem Zug in Richtung Dschibuti und wandert durchs Weideland. Bereits während der Bahnfahrt infizierte er sich mit Malaria.
Kaffeebauern finden den Schwerkranken in den Plantagen. Sie holen einen Arzt aus der Stadt und pflegen ihn. Er wohnt bei Ayana, einer einundzwanzigjährigen Witwe, deren Ehemann vor zwei Jahren bei einem Unfall ums Leben kam.
Als Michalka wieder gesund ist, stellt er fest, dass sich die schwere Arbeit der schwarzen Kaffeebauern kaum lohnt.
Der Mann, der die getrockneten Kaffeebohnen abholte, verdiente mehr und hatte weniger Arbeit. Aber der Mann besaß einen alten Laster, und im Dorf konnte niemand Auto fahren. (Seite 193)
Michalka kauft einen Lastwagen, fährt die Ernte selbst in die Fabrik und erzielt den neunfachen Preis. Den Erlös teilt er unter den Bauern auf. Dann bringt er einem jungen Afrikaner das Autofahren bei, errichtet zwischen dem Dorf und den Plantagen eine Güterseilbahn und verbessert die Trocknungsmethoden. Außerdem engagiert er eine Lehrerin aus der Stadt für die Kinder des prosperierenden Dorfes. Die Bewohner schätzen den Weißen und fragen ihn auch in Streitfällen um Rat.
Ayana und Michalka bekommen eine Tochter.
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Nach sechs Jahren fragen Behörden nach Michalkas Visum. Das ist längst abgelaufen. Er muss zur deutschen Botschaft in Addis Abeba. Dort verhaftet man ihn wegen des Bankraubs in Hamburg. Zwei Sicherheitsbeamte bringen ihn nach Deutschland. Drei Monate später wird er zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Weil das äthiopische Dorf keine Postadresse hat, kann er Ayana keine Nachricht schicken.
Als er drei Jahre Haft verbüßt hat, darf er die Justizvollzugsanstalt erstmals ohne Aufsicht verlassen.
Michalka will nur zurück zu Ayana. Drei Tage lang irrt er ohne Essen in der Stadt herum, dann überfällt er eine Bankfiliale, um sich das Geld für den Flug zu besorgen. Wieder benutzt er eine Spielzeugpistole. Die Bankangestellte wird später aussagen, er sei sehr höflich gewesen und habe ihr leid getan.
Die Polizisten, die mit drei Streifenwagen angefahren kommen, beachten ihn nicht. Er sitzt in Sichtweite der Bank auf dem Rasen. Nach einer Weile kommt die Bankangestellte vor die Tür und deutet auf ihn. Michalka wird festgenommen.
Fünf Monate später beginnt der Prozess gegen ihn. Der Verteidiger hat einen Äthiopier ausfindig gemacht, der mit Michalka befreundet ist, nach Deutschland kommt und dem Gericht nicht nur berichtet, was der Weiße für das äthiopische Dorf getan hat, sondern das auch mit Videoaufnahmen beweist.
Michalka wird zu weiteren zwei Jahren Haft verurteilt.
Die Schöffen legen für sein Flugticket nach Addis Abeba zusammen.
Als Michalka nach der Verbüßung der Hälfte seiner Strafe freikommt, fliegt er wieder nach Äthiopien. Ayana bringt noch zwei Kinder zur Welt, und Michalka bekommt die äthiopische Staatsangehörigkeit.
Ferdinand von Schirach (* 1964) ist seit 1994 als Rechtsanwalt in Berlin tätig. 2009 debütierte er als Schriftsteller sehr erfolgreich mit einer Sammlung von Kurzgeschichten bzw. Erzählungen unter dem Titel „Verbrechen“.
Diese Fälle sind wahr, aber nicht in dem Sinne, dass alle so passiert sind. Sie sind wie diese schönen alten Drucker-Setzkästen, wo 38-mal das „A“ drinnen ist. Wenn man lange Strafverteidiger war, hat man einen großen Setzkasten von Personal, Ereignissen und Szenen. (Ferdinand von Schirach in einem Interview mit Rebecca Casati, Süddeutsche Zeitung, 31. Juli 2010)
Die elf „Stories“ – so der Untertitel – handeln von grundverschiedenen Menschen, deren Motive und Charaktere lebendig und anschaulich dargestellt werden. Die meisten von ihnen sind in Tötungsdelikte verstrickt. In zwei Geschichten („Igel“, „Der Äthiopier“) geht es „nur“ um Raubüberfälle, und zwei der Protagonisten sind schlichtweg verrückt („Grün“, „Der Dorn“). Ferdinand von Schirach zeigt Verständnis für Menschen, die aus Liebe morden oder in einer Notlage zu Dieben werden. „Verbrechen“ ist ein Appell an die Gerichte, die Angeklagten individuell zu beurteilen und nicht über einen Kamm zu scheren. Niemand darf glauben, die ganze Wahrheit zu kennen. Außerdem weist der Autor darauf hin, dass sich persönliche Schuld und juristische Sanktionen nicht notwendigerweise entsprechen.
Ferdinand von Schirach erzählt in kurzen, einfachen, präzisen Sätzen, lakonisch und schnörkellos, ohne Ausschmückung durch Metaphern. Er beschränkt sich auf das Sichtbare und verzichtet darauf, Gedanken und Gefühle der Figuren introspektiv wiederzugeben. Nicht zuletzt durch diesen Stil wirken die Geschichten realistisch.
Die Stories, die Ferdinand von Schirach unter dem Titel „Verbrechen“ zusammengefasst hat, gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Burghart Klaußner (Regie Hanspeter Krüger, Berlin 2009, 3 CDs, ISBN: 978-3-89813-859-8).
Die Kurzgeschichte „Glück“ wurde von Doris Dörrie verfilmt: „Glück“. Aus diesem Anlass brachte der Piper Verlag unter dem Titel „Glück und andere Verbrechen“ eine Sonderausgabe mit Fotos aus dem Film heraus.
Für das ZDF wurden sechs Geschichten aus dem Buch „Verbrechen“ von Ferdinand von Schirach in einer Miniserie verfilmt. Die Hauptfigur, der Rechtsanwalt Friedrich Leonhardt, wird von Josef Bierbichler dargestellt.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Originaltitel: Fähner – Regie: Hannu Salonen – Drehbuch: André Georgi, nach „Fähner“ von von Ferdinand von Schirach – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Julia Oehring – Musik: Solo Avital – Darsteller: Josef Bierbichler, Edgar Selge, Annette Paulmann, Fabian Busch, Britta Hammelstein u.a. – 7. April 2013; 45 Minuten
Originaltitel: Tanatas Teeschale – Regie: Jobst Christian Oetzmann – Drehbuch: Jobst Christian Oetzmann, nach „Tanatas Teeschale“ von von Ferdinand von Schirach – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Julia Oehring – Musik: Solo Avital – Darsteller: Josef Bierbichler, Denis Moschitto, Adam Bousdoukos, Kida Khodr Ramadan, Alpa Gun, Jockel Tschiersch u.a. – 7. April 2013; 45 Minuten
Originaltitel: Grün – Regie: Hannu Salonen – Drehbuch: Nina Grosse, nach „Grün“ von von Ferdinand von Schirach – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Julia Oehring – Musik: Solo Avital – Darsteller: Josef Bierbichler, Vladimir Burlakov, Jan Fedder, Bettina Zimmermann, Robert Gallinowski, Sven Lehmann, Peter Jordan, Rainer Sellien u.a. – 14. April 2013, 45 Minuten
Originaltitel: Der Igel – Regie: Jobst Christian Oetzmann – Drehbuch: Jobst Christian Oetzmann, nach „Der Igel“ von Ferdinand von Schirach – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Julia Oehring – Musik: Solo Avital – Darsteller: Josef Bierbichler, Karim Chérif, Hassan Chahrour, Conrad F. Geier, Meriam Abbas, Ute Willing, Matthias Bundschuh u.a. – 14. April 2013, 45 Minuten
Originaltitel: Summertime – Regie: Hannu Salonen – Drehbuch: Nina Grosse, nach „Summertime“ von Ferdinand von Schirach – Kamera: Hanno Lentz – Schnitt: Julia Oehring – Musik: Solo Avital – Darsteller: Josef Bierbichler, Katja Flint, Pierre Besson, Hassan Akkouch, Friederike Becht, Jürgen Schornagel u.a. – 21. April 2013, 45 Minuten
Originaltitel: Notwehr – Regie: Jobst Christian Oetzmann – Drehbuch: Jobst Christian Oetzmann, nach „Notwehr“ von von Ferdinand von Schirach – Kamera: – Schnitt: Julia Oehring – Musik: Solo Avital – Darsteller: Josef Bierbichler, Tomas Arana, Gustav Peter Wöhler, Thomas Thieme, Antonio Wannek, Conrad F. Geier u.a. – 21. April 2013, 45 Minuten
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 / 2012
Textauszüge: © Piper Verlag
Doris Dörrie: Glück
Ferdinand von Schirach: Schuld
Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini
Ferdinand von Schirach: Der Bäcker
Ferdinand von Schirach: Tabu
Ferdinand von Schirach: Terror (Verfilmung)
Ferdinand von Schirach: Strafe
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten
Ferdinand von Schirach: Gott. Ein Theaterstück
Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück