Michael Zeller : Falschspieler

Falschspieler
Michael Zeller (alias Jutta Roth): Falschspieler Originalausgabe: ars vivendi verlag, Cadolzburg 2008 ISBN: 978-3-89716-306-5, 287 Seiten Neuausgabe: Brockmeyer Verlag, Bochum 2015 ISBN: 978-3-8196-1000-4, 269 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als sich der Mediävist Klaus-Joachim Faber darauf vorbereitet, ein Nachwort zu einem Romanfragment seines tödlich verun­glück­ten Bruders Friedrich zu schreiben, stößt er auf einen Literaturskandal, von dem der Roman vermutlich handeln sollte. Friedrich Faber starb auf dem Weg zu Elmar Kiesling in Kanada, dessen Gedichte von dem Schriftsteller Leo Zurmühlen eigen­mächtig als Schöpfungen des angeblich im Indochina-Krieg verschollenen elsässischen Fremdenlegionärs Leon Desmoulins veröffentlicht wurden ...
mehr erfahren

Kritik

Der Roman "Falschspieler" ist eine witzige Satire auf den Literatur­betrieb, tangiert aber auch ernst gemeinte Fragen über die Rolle von Dichtern und Schriftstellern. Augenzwinkernd hat Michael Zeller die Eckdaten eines Literaturskandals der 50er-Jahre eingebaut.
mehr erfahren

Die Berlinerin Marga Faber lebt nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihren drei Söhnen Friedrich, Walter und Klaus in der Kleinstadt M. zwischen Würzburg und Aschaffenburg. Ihr Mann, ein hoher Beamter, wurde im Krieg nach Stettin versetzt und ist verschollen. In M. wohnen Marga Faber und ihre Söhne in der Mansarde des Hauses der Witwe Kiesling am Grauberg. Die Eigentümerin stammt aus Würzburg. Ihr unverheirateter Sohn Elmar, der 1943 vor Charkow verwundet worden war, lebt bei ihr. Ihre Tochter Kriemhild wohnt mit ihrem Mann und den Kindern auf der anderen Seite des Mains.

So oft wie möglich geht Marga Faber zum Berghof hinauf, zu ihrer 20 Jahre älteren Freundin Sophie Zurmühlen. Das Ehepaar Zurmühlen zog bereits 1942 von Berlin nach M. und erwarb das Anwesen auf dem Grauberg. Ihr Haus in Steglitz hatten sie verkauft. Neun Monate später wurde es zerbombt. Sophie hatte in Berlin als Prokuristin bei einer Bank gearbeitet. Ihr Mann Leo ist Schriftsteller. Wenn das Geld nicht reicht und Leo Zurmühlen seine Spielschulden nicht mehr begleichen kann, muss Sophie, eine geborene Bossert, zu ihren Verwandten in ein pfälzisches Weinbauerndorf fahren und sie um Lebensmittel anbetteln.

Marga Faber lässt im Lebensmittelladen anschreiben, und wenn sie den aufgelaufenen Betrag am Monatsende nicht bezahlen kann, schickt sie ihre Kinder zum Einkaufen oder weicht auf den Kaufmann Jelinek aus, der seine Ware in einer Garage anbietet.

Während der Besuche auf dem Berghof hilft der 14-jährige Friedrich einmal dem Hausherrn, Hefte mit der Aufschrift „Lee van Mill: Der Falschspieler“ stapelweise für den Versand zu verpacken. Friedrich ist auch dabei, als Leo Zurmühlens früherer Verleger Hinrich Knoebel aus Berlin kommt und der Schriftsteller ihm etwas zu essen auf einem angeschlagenen Teller vorsetzt, von dem alle bis auf den Gast wissen, dass es sich um den Fressnapf des fetten Dackels Scherry handelt.

Der Krankenhausarzt Dr. Ungers bietet Marga Faber die Ehe an, aber sie hält an ihrer Überzeugung fest, dass ihr Mann noch aus dem Krieg heimkehren werde. Als Dr. Ungers sich mit einer Arztpraxis in M. niederlässt und eine andere Frau aus dem Ort heiratet, eine Frisör- oder Metzgertochter, ärgert sich Marga.

Sie gefällt auch dem Kunstmaler Jockel Schulze-Köln, der in den Dreißigerjahren mit seiner Frau Trude aus Köln nach M. kam. Nachdem Marga Faber ihren jüngsten Sohn von ihm porträtieren ließ, überredet Jockel Schulze-Köln sie dazu, sich unentgeltlich von ihm malen zu lassen. Seiner Frau erklärt er, dass er das Porträt für die Jahresausstellung regionaler Künstler in Würzburg oder Aschaffenburg benötige. Marga ist entsetzt, als sie sich auf der Leinwand in einem dünnen, tief ausgeschnittenen und ärmellosen Kleid sieht. Sie sei doch eine verheiratete Frau mit drei Kindern, wendet sie ein, und Jockel Schulze-Köln bleibt nichts anderes übrig, als die nackten Arme mit langen Ärmeln zu übermalen.

Marga lässt sich auf eine Beziehung mit dem Architekten Joseph Stroibl ein, der aus dem Allgäu stammt, nach 1945 hier strandete, eine Hiesige aus reicher Familie heiratete und ein Haus baute. Nachdem er sich mit Frau und Tochter überworfen hat, gibt er sein Architekturbüro auf, lässt sich in Frankfurt als Regierungsbaurat in den Staatsdienst übernehmen und zieht mit Marga und deren Söhnen nach Oberursel. Aber als Marga herausfindet, dass Stroibl seit einer Leistenbruch-Operation impotent ist, zerbricht die wilde Ehe bevor sie richtig begann, und Marga Faber lässt das Schloss der Haustüre auswechseln.

Die Witwe Kiesling bleibt auch nicht länger in M. Nachdem ihr Sohn Elmar nach Kanada ausgewandert ist, verkauft sie das Haus und zieht zurück nach Würzburg

Elmar Kiesling schlägt sich in Toronto zunächst als Tellerwäscher durch. Seine aus Polen stammende Vermieterin, Mrs Kurczak, warf ihren Mann hinaus, weil er das Geld auf der Pferderennbahn verspielt hatte.

In dem Diner, in dem Elmar arbeitet, lernt er 1953 Linda Borck kennen, die Tochter einer aus Ostpreußen vertriebenen Familie, die am Konservatorium in Toronto studiert und sich das erforderliche Geld als Sängerin „Belinda“ in Klubs und Restaurants verdient. Am 12. Januar 1955 schreibt Elmar seiner Mutter nach Würzburg, dass er mit Linda zusammengezogen sei, zwischendurch als Tankwart gearbeitet habe und seit einiger Zeit beim Umzug der Universitätsbibliothek mit anpacke. Dr. Felix Erlanger vom Department of Modern Languages habe ihm die Stelle angeboten. Sie sei zwar schlechter bezahlt als die an der Tankstelle, gefalle ihm aber besser.

Vor allem korrespondiert Elmar Kiesling mit Leo Zurmühlen. Ihm schickt er auch vertrauensvoll seine Gedichte zur Begutachtung, denn er träumt von einem eigenen Buch und gibt viel auf die Meinung des Schriftstellers.

Friedrich Faber wird Schriftsteller, sein Bruder Walter Tierarzt, und der jüngste Sohn Marga Fabers Mediävist. Vermutlich wäre Klaus lieber Dichter geworden, weil er sich aber nicht mit dem neun Jahre älteren Bruder Friedrich hätte messen können, „rettete“ er sich nach seinen eigenen Worten ins Mittelalter – und entwickelt sich zu einem ebenso verstaubten und schrulligen wie von sich eingenommenen Wissenschaftler.

20 Jahre nachdem Klaus Faber einem Ruf der Universität Würzburg folgte, erhält er eine Anfrage des Verlags, der die Romane seines Bruders veröffentlichte. Friedrich Faber kam bei einem Verkehrsunfall in Kanada ums Leben und hinterließ ein unfertiges Manuskript, wohl das erste Kapitel eines neuen Romans, in dem er Kindheitserinnerungen schildert. Der Verlag beabsichtigt, das Fragment herauszubringen und bittet seinen Bruder um ein Nachwort dazu. Der ist auf Friedrich nicht gut zu sprechen. Er war bereits Ordinarius und benutzte bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten den vollen Namen Klaus-Joachim Faber, da musste er den neun Jahre älteren Bruder bitten, ihn nicht länger „Kläuschen“ zu nennen. Als er den Text seines Bruders liest, sieht er sich in seiner Abneigung bestätigt: Friedrich stellt die Mutter so dar, als sei sie ein Kebsweib gewesen und tituliert Joseph Stroibl als Regierungsbaurat, obwohl dieser zuletzt Oberregierungsbaurat war. Da wird Klaus vieles richtigstellen müssen.

Sein Kollege Prof. Dr. Holger Moebius, dem er Friedrichs Romanfragment zum Lesen gibt, weist ihn auf die Verbindung zu einem Literaturskandal hin und sucht für ihn Material darüber zusammen.

Daraus geht hervor, dass ein Dr. Karl Emil Fuhrig aus Aschaffenburg, der Bundeschorleiter des Maintalsängerbundes, dem Verleger Dr. Rupert Wilke, angeblich auf Anraten des Dichters Gottfried Benn, am 2. März 1952 deutschsprachige Gedichte eines jungen elsässischen Freundes schickte. Leon Desmoulins, so der Absender, sei am 12. Januar 1921 in der elsässischen Gemeinde Roufach als Sohn einer Deutschen und eines Franzosen zur Welt gekommen, habe in Strassburg und Paris studiert, dann als SS-Freiwilliger am Ostfeldzug teilgenommen und sei deshalb später als Kollaborateur verurteilt worden. 1948 sei Leon Desmoulins als Fremdenlegionär nach Indochina gegangen und seit den Kämpfen um den Song-Woi im November 1951 vermisst. Die Gedichte stammten laut Dr. Fuhrig aus Briefen, die ihm sein junger Freund in den letzten Jahren geschrieben hatte. Zwei Wochen später schickte Fuhrig dem Verleger weitere 18 Gedichte von Leon Desmoulins und erklärte dazu, diese seien ihm von der Frau eines Kameraden des Verschollenen übermittelt worden.

Rupert Wilke beabsichtigte, die Gedichte des vermissten Fremdenlegionärs zu veröffentlichen und wendet sich wegen eines Geleitworts an Gottfried Benn. (Der Mediävist Klaus-Joachim Faber schreibt geringschätzig „Dr. med. Gottfried Benn“.) Der Schriftsteller beantwortete die Anfrage zwar abschlägig, aber Leon Demoulins‘ Gedichte erschienen im September 1952 unter dem Titel „Weit wie die Liebe das Meer und mein Herz“. Als Herausgeber firmierte Dr. Karl Emil Fuhrig. Bereits im November musste eine zweite Auflage gedruckt werden. und innerhalb von drei Jahren verkauften sich 18 000 Exemplare. Auch die Literaturkritiker äußerten sich begeistert über die Gedichte. Aufgrund des Erfolgs ließ der Verlag einen zweiten Band folgen: „Nur der Wind weiß meinen Namen“. Weil Rupert Wilke zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass es Leon Desmoulins gar nicht gab, war der Titel infam. Der Verleger bat Leo Zurmühlen, den er für den Autor der Gedichte hielt, um ein Porträtfoto für das Buch und erhielt eine Aufnahme der während des Brennvorgangs verzogenen Büste, die der Berliner Bildhauer Justus Vierengel 1939 von Leo Zurmühlen gemacht hatte.

Angeblich tauchten auch noch von Leon Demoulins an eine Unbekannte geschriebene Feldbriefe auf. Die gab Karl Emil Fuhrig dann allein heraus, um sich den Profit nicht mit dem Verlag teilen zu müssen. Darüber erbost, verbreitete Rupert Wilke im Juni 1955 die Information, dass Leon Demoulins gar nicht existiere und die Gedichte von Leo Zurmühlen stammten. Damit löste er einen Literaturskandal aus.

Bei einer Familienfeier in Marktheidenfeld lernt Klaus-Joachim Faber einen angeheirateten Neffen seiner Frau Roswitha kennen, der bei der Stadtverwaltung in Aschaffenburg beschäftigt ist und auf seine Bitte hin im Register des Einwohnermeldeamts nach Dr. Karl Emil Fuhrig sucht, also den Herausgeber der Lyrikbände „Weit wie die Liebe das Meer und mein Herz“ und „Nur der Wind weiß meinen Namen“. Den gibt es jedoch ebenso wenig wie den dichtenden Fremdenlegionär Leon Desmoulins. Bei Dr. Karl Emil Fuhrig handelt es sich um eine weitere Schimäre Leon Zurmühlens.

Außerdem findet Klaus-Joachim Faber heraus, dass ein im zweiten Gedichtband in Faksimile abgedrucktes Gedicht von dem Kunstmaler Jakob Schulze-Köln gefälscht wurde. Und als der Antiquar Kilian Bröderlein dem Mediävisten einen vergilbten Groschenroman mit dem Titel „Der Falschspieler“ verkauft, erinnert sich dieser an die Passage in Friedrichs Kindheitserinnerungen, in denen er schildert, wie er Leo Zurmühlen beim Verpacken dieser Heftchen half.

Klaus-Joachim Faber wird zu einem Vortrag nach Berlin eingeladen. Die Gelegenheit nutzt er, um den inzwischen über 90 Jahre alten früheren Verleger Hinrich Knoebel zu besuchen. Der erzählt ihm, er und sein Lektor Fred Rosenthal hätten Leo Zurmühlen in den späten Zwanzigerjahren in Berlin kennengelernt und vor dem Krieg drei Romane von ihm veröffentlicht. Der erste trug den Titel „Soldatengötter“ und handelte von den Cäsaren. Im Herbst 1930 begegnete Leo Zurmühlen Joseph Goebbels. Die beiden trafen sich mehrmals, bis Goebbels zum Reichs­propaganda­minister aufstieg und einen neuen Bekanntenkreis aufbaute. Weil Leo Zurmühlen keinen Abstammungs­nachweis vorlegte, schloss ihn die Reichsschrifttumskammer aus, was für einen Schriftsteller einem Berufsverbot gleichkam. Leo Zurmühlen hatte gezögert, die geforderten Urkunden zu beschaffen, denn in der Familie wurde getuschelt, dass sich seine Großmutter mit einem „Pferdejud aus Ungarn“ eingelassen habe. Leo befürchtete deshalb, Vierteljude zu sein. Aber nach dem Ausschluss aus der Reichsschrifttumkammer ging seine Mutter entschlossen aufs Amt und ließ sich bestätigen, dass ihr Vater ein arischer, evangelisch-lutherischer Schreinermeister aus Königshuld in Oberschlesien gewesen sei. Damit konnte sich Leo Zurmühlen rehabilitieren.

Zurück in Margetshöchheim stößt Klaus-Joachim Faber zwischen seinen aus Berlin mitgebrachten Aufzeichnungen auf ein großes Kuvert, das ihm Hinrich Knoebel untergeschoben haben muss. Es enthält ein Konvolut an Leo Zurmühlen adressierter Briefe. Absender: Elmar Kiesling. Als Klaus Faber die Gedichte liest, die Elmar Kiesling aus Kanada schickte, begreift er, dass Leo Zurmühlen kein Fälscher, sondern ein Dieb ist: Er hat Gedichte und Briefe eines anderen vermarktet und zu diesem Zweck sowohl Leon Demoulins als auch Dr. Karl Emil Fuhrig erfunden.

In diesem Skandal offenbart sich, so meine ich, die ganze heikle Beschaffenheit (vorsichtig gesprochen) zeitgenössischen Schreibens und seiner Rezeption, und ich bin dankbarer als jemals, dass ich mich berufshalber in den lichten Höhen des Mittelalters aufhalten darf und nicht in diesen trüben Niederungen des Heute fischen muss, für die statt des zur Neutralität berufenen Wissenschaftlers oft genug ein entschlossener Staatsanwalt seines Amtes walten sollte.

Sobald man es mit lebender Literatur zu tun bekommt (will sagen: ihren Exekutoren), ist größte Wachsamkeit geboten. Denn die Besudelungs- und Ansteckungsgefahr ist eine beträchtliche.

Nachdem Prof. Dr. Klaus-Joachim Faber die Prolegomena abgeschlossen hat, macht er sich an die Niederschrift des erbetenen Nachworts zum Romanfragment seines Bruders.

Mein Nachwort soll ein schlankes werden, eine gestochen scharfe Diatribe. Gattungsgerecht (s. o.) darf es ja leider den Umfang des Haupttextes nicht übertreffen, im Gegenteil. Es sollte kürzer sein. Diesen Wettbewerbsvorteil vorab hat der Bruder – bewusst oder nicht, das bleibe mal dahingestellt – erweitert durch die Kürze seines Werkleins.

Bruder Friedrich zeichnet seine Kindheit auf, frei Hand, mit den ihm eigenen locker impressionistischen Strichen. Da er sich ausschließlich auf die Sicht des Kindes beschränkt, ist er natürlich fein heraus. Um gedankliche Tiefe, um historische Stimmigkeit muss er sich nicht scheren.

Alles nur, um Friedrichs Fehler, Auslassungen, Missverständnisse, Verdrehungen auszubügeln, seine gewaltigen Lücken aufzufüllen mit nachweisbaren, sauber erarbeiteten Informationen. Dafür steht mir dann nicht annähernd so viel Raum zur Verfügung wie ihm. Müsste es nicht umgekehrt sein?

Ein paar Wochen später vermittelt Friedrich Fabers langjähriger Lektor Labitzke dem Nachwuchsautor Marc Geldner ein New York-Stipendium.

Dem Labitzke läuft einfach zu viel Strom durchs Blut. Da kann’s schon öfter mal zu einem Kurzschluss kommen. […]
Immerhin hat er’s sich nicht nehmen lassen, mich in seinem Auto zum Flughafen zu bringen. Für mich war’s bequem, mit beiden fetten Koffern, und er hatte alle Zeit der Welt, sich vor mir aufzublähen.

Kurz vor dem Abschied kommt Labitzke noch auf den Literaturskandal um die unter den Titeln „Weit wie die Liebe das Meer und mein Herz“ und „Nur der Wind weiß meinen Namen“ veröffentlichten Gedichte zu sprechen. Friedrich Faber, so Labitzke weiter, habe darüber vermutlich einen Roman schreiben wollen, sei aber nicht über das erste Kapitel mit Kindheitserinnerungen hinausgekommen, das der Verlag in Kürze als Romanfragment veröffentlichen werde. Der Lektor klagt darüber, wie viel Arbeit es ihn gekostet habe, das bräsige Nachwort von Friedrich Fabers jüngerem Bruder zu kürzen und lesbar zu machen. Friedrich Faber starb auf dem Weg zu Elmar Kiesling, dem tatsächlichen Autor der Gedichte. Labitzke rät Marc Geldner zu einem Abstecher nach Toronto. Dort soll er bei Elmar Kieslings früherer Lebensgefährtin Linda Borck vorbeischauen und sich nach ihm erkundigen. Marc Geldner lässt sich die Adresse geben, obwohl er vermutet, dass Labitzke noch versuchen wird, ihn zum Weiterschreiben von Friedrich Fabers Roman zu überreden, wozu er überhaupt keine Lust hat.

Immerhin fliegt er von New York nach Toronto und bleibt fast eine Woche dort. Es wundert ihn, wie gut Linda Borck trotz ihres Alters aussieht. Sie singt inzwischen nicht mehr, erteilt nur noch Gesangsunterricht und lebt seit der Trennung von Elmar Kiesling allein.

Linda erzählt, dass Elmar deutsche Literatur studierte, obwohl er bereits die 30 überschritten hatte. Als sie dann ebenfalls in diesem Alter war, erhielt sie ein Angebot der Oper Montreal für eine Spielzeit. In dieser Zeit erwarb Elmar die kanadische Staatsangehörigkeit, wurde Associate Professor und nahm sich wieder ein eigenes Zimmer, diesmal im 15. Stockwerk eines Hochhauses in Toronto. Schließlich beendeten er und Linda ihre Beziehung, und er zog sich in eine Berghütte in British Columbia zurück. Vor drei oder vier Jahren stand der deutsche Schriftsteller Friedrich Faber überraschend bei Linda vor der Tür und fragte nach Elmar. Er wollte mit ihm sprechen und reiste mit Bus oder Bahn nach Westen. Das letzte Stück hätte er zu Fuß gehen müssen, aber auf der vorletzten Etappe nahm ihn ein Ranger auf dem Motorrad mit – und dabei verunglückte er tödlich.

Obwohl Linda Vertrauen zu Marc gefasst hat, gibt sie ein von Elmar zurückgelassenes „Logbuch“ nicht aus der Hand. Immerhin bietet sie dem Nachwuchsschriftsteller nach ein paar Tagen an, darin in ihrer Wohnung zu lesen, während sie am Konservatorium einen Kurs gibt und zwei Stunden fort sein wird. Marc Geldner blättert zunächst in dem Heft, dann lässt er sich in einem Taxi zum nächsten Copy Shop bringen und kopiert alles einschließlich der eingelegten Briefe, die Elmar von dem amerikanischen Soldaten Joe White Eagle aus Vietnam bekam. Wieder in New York, sichtet er das Material und übersetzt die Briefe aus dem Amerikanischen ins Deutsche.

Alles, was ich nicht brauchen kann, hab ich gleich weggeschmissen.

Bei Joe White Eagle handelte es sich um einen halbindianischen US-Bürger, der Sohn einer weißen Mutter und eines Meskwaki. Weil Joe Schriftsteller werden wollte, studierte er in Toronto deutsche Literatur. Er gehörte zu Elmar Kieslings besten Studenten, und zwischen ihm und dem Professor entwickelte sich etwas wie eine Freundschaft.

Dann wurde Joe nach Vietnam einberufen. Seine besorgte Mutter versuchte ihm einzureden, dass es sich nicht um einen gerechten Krieg handele und eine Beteiligung daran ein Verbrechen sei, aber sein Vater vertrat die Ansicht, jeder US-Bürgers habe die Pflicht, einem Aufruf der Regierung zu folgen ohne die Rechtmäßigkeit in Frage zu stellen. Joe dachte wie sein Vater und meldete sich zur Army.

Aus den Briefen, die Joe aus Vietnam schickte, geht hervor, dass er dort mit der Absicht ankam, die Vietnamesen zu respektieren. Rasch stellte er jedoch fest, dass sich verbündete und feindliche Vietnamesen nicht voneinander unterscheiden ließen; sie sahen alle gleich aus.

Unser Leutnant weiß immer Bescheid. Er kämpft schon lange hier. „Wenn es tot ist, ist es ein Vietkong“, sagte er und knatscht auf seinem Kaugummi.

Marc Geldner nimmt sich vor, seinen Debütroman um diese zwei Figuren zu bauen: Elmar Kiesling und Joe White Eagle.

Der alte Nazi und die Rothaut, sein Student. Sind doch wie geschaffen dafür.
Labitzke kann ja wohl im Ernst nicht meinen, dass ich ihm den Roman seines dahingegangenen Favoriten Friedrich Faber zu Ende schreibe, oder? Die ollen Kamellen, die der einem Leser von heute in einem ersten Kapitel aufgetischt hat, gehen mich wirklich nichts mehr an. […]
Meine Geschichte läuft ganz anders, da brauch ich weder einen Faber noch einen Kiesling. Vor allem: es ist meine Geschichte. Idee, Recherche, Ausführung und Copyright by Marc Geldner. Keiner sonst. Da soll mir niemand in die Quere kommen, tot oder lebendig.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Roman „Falschspieler“ von Michael Zeller ist eine aberwitzige Satire auf den Literaturbetrieb und eine durchaus ernst gemeinte Anspielung auf die Frage nach dem Selbstverständnis eines Dichters oder Schriftstellers. Darf er von vertraulichen Informationen Gebrauch machen? Wie steht er zu Plagiaten? Wie weit darf er bei der Vermarktung eines Buches gehen?

Michael Zeller hat „Falschspieler“ aus fünf Teilen konstruiert, in denen das Thema mehrfach variiert wird und ganz verschiedene Stimmen zu hören sind.

„Meine Kindheit. Aus dem Nachlass Friedrich Fabers“ besteht aus den in der Ich-Form aufgezeichneten Kindheitserinnerungen des (fiktiven) Schriftstellers Friedrich Faber. Es sind humorvolle Episoden aus der Sicht eines 14-Jährigen.

Im zweiten Teil – „In der Fremde. Elmar Kieslings Briefe aus Kanada“ – lesen wir Briefe von Elmar Kiesling an seine Schwester Kriemhild, vor allem aber an Leo Zurmühlen.

Danach kommt der ebenso verstaubte und schrullige wie eingebildete Mediävist Klaus-Joachim Faber zu Wort, der aufgefordert wird, zu dem Romanfragment seines tödlich verunglückten Bruders Friedrich ein Nachwort zu schreiben und dabei auf einen Literaturskandal stößt: „Prolegomena zu einem Nachwort von Prof. Dr. Klaus-Joachim Faber“.

Im vorletzten Teil tritt der skrupellose Nachwuchsautor Marc Geldner als Ich-Erzähler auf: „Ein Mann ging verschütt, weiß Marc Geldner zu sagen“.

Mit „Logbuch von Elmar Kiesling“ ist der fünfte Teil überschrieben. Dabei handelt es sich um das heimlich von Marc Geldner kopierte Material.

Michael Zeller hat jeder Figur in „Falschspieler“ eine eigene Sprache gegeben und in die Handlung augenzwinkernd die Eckpfeiler eines tatsächlichen Literaturskandals eingebaut, in dessen Mittelpunkt der von dem Lektor Karl Emerich Krämer erfundene dichtende Fremdenlegionär George Forestier stand.

Aber nicht genug damit: Der Roman „Falschspieler“ erschien 2008 unter dem Namen einer Autorin Jutta Roth. Dabei handelte es sich angeblich um eine 1967 in Siebenbürgen geborene, später nach Deutschland und schließlich nach Philadelphia ausgewanderte Deutsche, deren Porträtfoto der Verlag ebenfalls veröffentlichte. Diese Jutta Roth gab es jedoch ebenso wenig wie George Forestier oder Leon Demoulins. Im Herbst 2009 verriet der ars vivendi verlag, dass Michael Zeller sich einen zum Roman passenden Scherz erlaubt hatte.

Was für ein Spaß! Das gilt auch für die Lektüre dieses witzigen, originellen Romans von Jutta Roth, äh, Michael Zeller.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Universitätsverlag Dr. N. Brockmeyer

George Forestier / Karl Emerich Krämer (Literaturskandal)

Michael Zeller (Kurzbiografie / Bibliografie)
Michael Zeller: Die Sonne! Früchte. Ein Tod
Michael Zeller: BruderTod. Ein Kinderleben
Christian Oelemann (Hg.): Paternoster. Vom Auf und Ab des Lebens
Michael Zeller und Klasse 9a der Realschule Neue Friedrichstraße in Wuppertal: Flammen über der Stadt
Michael Zeller und Klasse 8a des Friedrich-Bährens-Gymnasiums in Schwerte: Bunt ist unser Leben
Michael Zeller: Die Kastanien von Charkiw. Mosaik einer Stadt
Michael Zeller: Abhauen! Protokoll einer Flucht

Doris Lessing - Das goldene Notizbuch
"Das goldene Notizbuch" ist ein vielschichtiger, anspruchsvoller Roman. Doris Lessing entschied sich bewusst gegen eine lineare Darstellung; die verschachtelte, fragmentierte Form ist ihr Kommentar zum traditionellen Roman.
Das goldene Notizbuch