Michael Zeller : Die Kastanien von Charkiw

Die Kastanien von Charkiw
Die Kastanien von Charkiw Mosaik einer Stadt Vorwort: Andrej Kurkov assoverlag, Oberhausen 2021 ISBN 978-3-949461-02-6, 151 Seiten КАШТАНИ ХАРКОВА. Мозаїка міста Übersetzung: Oleksandra Kovaljova Maydan-Verlag, Charkiw 2021 ISBN 978-966-372-811-7
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Michael Zeller ist 2019 einen Monat lang Gast des ukrainischen PEN in der Autorenresidenz in Charkiw. Er geht durch die Stadt, nimmt Eindrücke auf und vergleicht sie mit früheren. Zurück in Nürnberg denkt er an seinen in der Nähe von Charkiw gefallenen Onkel und eine wahre deutsch-ukrainische Liebesgeschichte.
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Kritik

In seinem Buch "Die Kastanien von Charkiw. Mosaik einer Stadt" vermittelt Michael Zeller uns Eindrücke aus der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. Was der sensible, mit offenen Sinnen beobachtende Autor festhält, sind Impressionen, die ein Mosaik von Besonderheiten der Stadt und ihrer Bewohner ergeben.
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Charkiw

1805 wurde die Universität von Charkiw eröffnet. Heute ist die Millionenstadt im Nordosten der Ukraine mit Dutzenden von Universitäten und Hochschulen ein bedeutendes Bildungs- und Wissenschaftszentrum, zugleich auch ein bedeutender Industriestandort.

Anfang der Neunzigerjahre, bald nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs, unternahm Michael Zeller die erste von mehreren Reisen nach Charkiw. 1994 las er erstmals im Literaturmuseum von Charkiw. In seinem Buch „Die Kastanien von Charkiw. Mosaik einer Stadt“ schildert er Eindrücke, die er sammelte, während er 2019 einen Monat lang Gast des ukrainischen PEN in der neu gestifteten Autorenresidenz in Charkiw war und mit anderen Schriftstellern auch zu Schullesungen in die Oblast Donezk fuhr.

Hauptstadt der Sowjetrepublik Ukraine

Im Südwesten einer „gepflasterten Wüste“ im Zentrum von Charkiw, die seit der Unabhängigkeit der Ukraine (1991) Platz der Freiheit genannt wird, bestaunt Michael Zeller das Dershprom-Ensemble, „eine der großartigsten Architekturen in Osteuropa“. Die neun bis zu 68 Meter hohen Türme im Stil des Konstruktivismus wurden 1925 bis 1931 nach Entwürfen von Sergei Serafimow, Mark Felger und Samuil Krawez auf einer 60 000 m² großen Grundfläche errichtet und gelten als erster Stahlbetonbau der UdSSR.

Damals − von 1919 bis 1934 − war Charkiw die Hauptstadt der Sowjetrepublik Ukraine. Ab 1930 löste der von Josef Stalin geförderte Sozialistische Klassizismus (Zuckerbäckerstil) den Konstruktivismus auch in Charkiw ab. Um die sowjetische Herrschaft zu festigen, verschärfte der Diktator 1932/33 eine Hungersnot in der Ukraine und sorgte dafür, dass drei bis acht Millionen Menschen starben (Holomodor). Allein in Charkiw verhungerten mehr als 45 000 Menschen. 1934 wurde Charkiw von Kiew als Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik abgelöst.

Zweiter Weltkrieg

Im Oktober 1941 eroberte die Wehrmacht Charkiw, und sowjetische Befreiungsversuche scheiterten im Mai 1942 und im März 1943. Aber am 23. August 1943 vertrieb die Rote Armee die Deutschen endgültig aus Charkiw.

Am Platz des 23. August lässt Michael Zeller sich vom gigantischen Denkmal eines Rotarmisten beeindrucken. Er denkt an den jüngeren Bruder seines Vaters, den Oberleutnant Hermann Z., der am 14. August 1943 – gut ein Jahr vor der Geburt des Autors – zehn Kilometer südöstlich von Charkiw fiel. Und er lässt sich nach Rogun fahren, um sich den Ort anzusehen („Höhe 159,1“).

Nationalbewusstsein

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts wurde die Ukraine 1991 unabhängig. 2014 begann in der Ostukraine ein bis heute anhaltender militärischer Konflikt mit sezessionistischen Bewegungen im Donbass (Donezbecken), während Russland die Krim annektierte. Dadurch wurde Charkiw zur Frontstadt mit Zehntausenden von Flüchtlingen aus den Oblasten Donezk und Luhansk.

„Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen.“ Aber die Literatur-Professorin Oleksandra Kowaljowa veröffentlichte 2017 trotz der Kämpfe drei zweisprachige Sammlungen von deutscher Lyrik.

Im Park neben der Oper schaut Michael Zeller das nach der Auflösung der Sowjetunion errichtete Standbild des Lyrikers und Künstlers Taras Schewtschenko (1814 − 1861) an.

Schewtschenko ist der Dichter der Ukraine, bis heute. Was in Italien Dantes „Divina Commedia“ und in Griechenland Homer, was den Franzosen Corneille und Racine, den Polen Mickiewiczs‘ Epos „Pan Tadeusz“ und für uns Deutsche der „Faust“ (einstmals wenigstens), das bedeutet in der Ukraine Schewtschenkos „Der Kobsar“. Diese Sammlung von Gedichten und Liedern ist 1840 erstmals erschienen. […]
Nicht zuletzt ist Schewtschenko das in Erz gegossene Symbol für die Eigenständigkeit des Landes – sprachlich, kulturell, national – gegenüber dem dominanten Einfluss des östlichen Nachbarn Russland.

Bei einem Kosaken-Konzert in der Philharmonie mit Liedern aus der Revolutionszeit erlebt Michael Zeller die aus dem Gemeinschaftsgeist der Ukrainer gespeiste Lebensenergie. Während die meisten Deutschen seit dem NS-Regime vor Nationalismus zurückzucken, wird das nationale Bewusstsein in der Ukraine hochgehalten. Auch die nicht zuletzt wegen der weit verbreiteten Korruption hohe Staatsverdrossenheit ändert nichts daran. Das zeigt sich auch an dem Konflikt zwischen dem russischen und dem ukrainischen Sprachgebrauch. Ein Teil der Bewohner von Charkiw grüßt russisch mit „Dobroje utro“, ein anderer ukrainisch mit „Dobrohu ranku“. Auf das russische Wort Charkow reagieren die Ukrainer allergisch; sie nennen ihre Stadt Charkiw.

Der Stadtname Lwiw jedenfalls ist in Lemberg unangefochten durchgesetzt. Das russische Lwow oder gar das polnische Lwów hörte ich nirgends. Selbst wenn einem in Deutsch geführter Unterhaltung der Name Lemberg herausrutscht, kann das Gespräch für einen Wimpernschlag stocken. Der Grund ist hauchdünn, auf dem man sich bewegt, sobald es um die beiden Sprachen geht, die in dem Land gesprochen werden. Für einen, der von außen kommt, sind all die haarfeinen Verästelungen kaum zu überschauen. Zu durchschauen erst recht nicht.

Städtepartnerschaft

Zurück aus Charkiw, in seinem Wohnort Nürnberg, beschäftigt sich Michael Zeller mit dem Nachlass seines Vaters, zu dem auch Dokumente über seinen 1943 bei Charkiw gefallenen Onkel gehören.

Im Kapitel „Schnee ist geduldig“ zitiert er seitenlang aus dem Bericht des Psychologie-Professors Gustav („Gustl“) L. über den Kriegswinter 1941/42, den dieser als 21-jähriger Sanitätssoldat bei Charkiw erlebte.

Was damals geschah, liest er auch in einem 1992 verfassten Bericht von Gottfried M. Der war im August 1944 in Kriegsgefangenschaft geraten und musste zwei Jahre lang im Elektromotorenwerk in Charkiw arbeiten, wo er – anders als in den Lagern zuvor – gut behandelt wurde: „Erinnerungen an das Lager CHEMS (Charkower Elektromotorenwerk), von Frühjahr 1946 bis Frühjahr 1948“. Im Januar 1990 bat Gottfried M. um eine Besuchserlaubnis der Industrieanlage und reiste dann mit 14 ehemaligen Kriegskameraden nach Charkiw. Er engagiert sich besonders in der seit 1990 bestehenden Städtepartnerschaft von Charkiw und Nürnberg.

Die wahre Legende von Wera und Werner

Michael Zeller erzählt dann noch „Die wahre Legende von Wera und Werner“. Die ukrainische Dolmetscherin, Tochter eines 1937 von den Kommunisten verhafteten und zwei Jahre später in Sibirien gestorbenen Professors, arbeitete in der Kommandantur von Charkiw. Dort verliebte sich die 24-Jährige 1943 in den Deutschen Werner, der als Kraftfahrer der feindlichen Wehrmacht ins Land gekommen war und ihre Gefühle erwiderte. Ihr Glück war von kurzer Dauer, denn bereits im August desselben Jahres zog sich die Wehrmacht vor der Roten Armee zurück, so plötzlich, dass Werner sich nicht einmal von Wera verabschieden konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg durchtrennte der Eiserner Vorhang Europa. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion suchte der zweifache Witwer Werner nach Wera – und spürte sie tatsächlich in Charkiw auf. Sie folgte ihm in die Schwäbische Alb und heiratete ihn, aber der 80-Jährige starb knapp ein Jahr später.

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Auf den ersten 100 Seiten seines Buches „Die Kastanien von Charkiw. Mosaik einer Stadt“ vermittelt Michael Zeller uns Eindrücke aus der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. Der sensible Autor geht nicht mit dem Ohr am Telefon, sondern mit offenen Augen durch Straßen, über Plätze und durch Parks. Was er festhält, sind Impressionen, keine Analysen oder lange Erläuterungen. Sie ergeben, wie im Untertitel angekündigt, ein Mosaik von Besonderheit der Stadt und ihrer Bewohner.

Es hat seinen ganz eigenen Reiz, über die Straßen dieser osteuropäischen Großstadt zu gehen. Flanieren traue ich mich kaum zu sagen, obwohl mein Gehen kein anderes Zile hat als zu gehen – zu gehen mit offenen Sinnen.

Das Übliche, bisher, beim Reisen durch eine unbekannte Gegend: Augen auf, Bilder sammeln, innerlich notieren.

Kastanien, die neben ihm auf den Boden fallen, haben Michael Zeller zu dem Titel „Die Kastanien von Charkiw“ inspiriert.

Auf meinen Wegen durch die Stadt – es sind weite Wege, die ich gehe – klopfen seit Tagen Kastanien auf den Asphalt. Ich höre und sehe sie neben meinen schritten niederfallen auf den unfruchtbaren Grund der Straßen: Stein, Asphalt, Beton. Auf diesem trostlosen Grau rollen sie aus, eine frischer und appetitlicher als die nächste. […]
Die von gestern und vorgestern haben schon ihren unglaublichen Glanz verloren.

Auf Seite 109 wechselt Michael Zeller den Stil. Er ist nun nicht mehr in Charkiw, sondern zurück in Nürnberg. Auf den letzten 40 Seiten seines Buches „Die Kastanien von Charkiw“ zitiert er aus Dokumenten und Berichten von Zeitzeugen, beispielsweise eines Psychologie-Professors über den Kriegswinter 1941/42, den er als 21-jähriger Sanitätssoldat bei Charkiw erlebte („In der Ankerwicklerei“). Mit etwas mehr als neun Seiten ist es eines der beiden längsten Kapitel. Elf Seiten umfasst das Kapitel „Die wahre Legende von Wera und Werner“, in dem Michael Zeller eine wahre deutsch-ukrainische Liebesgeschichte erzählt, die 1943 in Charkiw begonnen hatte.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © assoverlag

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