Michael Zeller : Die Sonne! Früchte. Ein Tod

Die Sonne! Früchte. Ein Tod
Die Sonne! Früchte. Ein Tod Originalausgabe: Oberon, Frankfurt/M 1987 Neuausgabe: Assoverlag, Oberhausen 2019 ISBN 978-3-938834-92-3, 137 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hans Anderland, ein (fiktiver) 39 Jahre alter deutscher Geschichtslehrer, hat sich in Paris ein Zimmer gemietet, um eine Tragödie über Jean Paul Marat zu schreiben, denn er möchte Dramatiker werden. Im Februar 1906 zieht neben ihm die aus Worpswede angereiste zehn Jahre jüngere Künstlerin Paula Modersohn-Becker ein – und er ist hingerissen von ihr ...
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Kritik

In "Die Sonne! Früchte. Ein Tod" lässt Michael Zeller einen Ich-Erzähler auftreten und verknüpft eine fiktive Geschichte mit historischer Realität. Es ist ein nachdenklicher Roman mit langen Dialogen über die Französische Revolution, Liberalismus und Demokratie, über die Kunst, die Emanzipation der Frauen und die inneren Konflikte einer sich selbst verwirklichenden Frau.
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Die neue Nachbarin

Der 39-jährige Gymnasiallehrer Hans Anderland kündigte seine Anstellung in Mainz und zog mit seinen Ersparnissen nach Paris, wo er ein möbliertes Zimmer gemietet hat, um ganz in der Nähe des damaligen Geschehens Material für eine Tragödie über Jean Paul Marat zu sammeln, denn er möchte Dramatiker werden. Seine Braut Luise verließ ihn vor einem Jahr, nicht zuletzt wegen seiner Mittellosigkeit, an der sich wohl so schnell nichts ändern wird.

Nebenan zieht im Februar 1906 eine junge Deutsche ein. Madame Vavin, die Concierge, raunt Hans Anderland zu, die neue Mieterin sei mit einem berühmten deutschen Maler verheiratet und nicht zum ersten Mal allein in Paris.

Neugierig klopft Hans Anderland bei der Nachbarin – und wundert sich darüber, dass die 30-Jährige Paula Becker heißt, denn einen Maler mit diesem Nachnamen kennt er nicht. Erst später erfährt er, dass sie mit Otto Modersohn verheiratet ist. Da erzählt ihm Paula Modersohn-Becker dann auch, dass sie sich von ihrem Mann in Worpswede getrennt habe und nicht mehr in die Künstlerkolonie zurückkehren wolle.

Paula und „Doktor“

Sie möchte von ihm mit „Paula“ angesprochen werden und bittet ihn, ihm den Spitznamen „Doktor“ geben zu dürfen.

Lärm im Stiegenhaus, fremder Lärm. Schritte, schwer. Aha, ein Mann. Langsam, Stufe für Stufe – aufwärts: etwas wird getragen, eine Last. Pause. Angekommen. Wo? Klopfen nebenan. Eine tief verbrummelte Stimme, französisch, fragend. Hell Paula, fröhlich: „Mais oui, c’est juste ici!“ Ein Möbelrücken dann, merkwürdiges Schwappen, das Stimmenduo – hell und dunkel. Paulas Lachen. Die Türe geht, die Männerschritte verlieren sich stufenweise. Wieder Ruhe.

Als Anderland kurz darauf hinübergeht, sitzt Paula auf einem soeben ausgerollten Teppich und schwärmt von dessen Farben. Weil er ihr so gefällt, ließ sie ihn zur Ansicht kommen, obwohl sie gar nicht die Absicht hat, ihn zu kaufen. Sie möchte den Teppich nur einen Tag lang anschauen können. Unvermittelt sagt Paula zu ihrem Nachbarn:

„Ich weiß und ich wusste es schon immer: ich werde nicht lange leben.“

Und als er bei dieser Prophezeiung zusammenzuckt, fährt sie fort:

„Ist ein Fest schöner, weil es länger dauert? Oder ein Traum? Oder der Teppich hier? Soll ich ihn für ein ganzes langes Leben behalten wollen, bis meine Sinne stumpf werden und ich seine Farben nicht mehr sehe? Mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest.“

Paula Becker und Hans Anderland reden über Marat und die Französische Revolution, die Emanzipation der Frauen und Kunst. Die Malerin, die tagsüber Anatomiekurse der École des Beaux Arts und Vorlesungen über Kunstgeschichte besucht, hält es für richtig, dass die angehenden französischen Künstler bereit sind, zuallererst ihr Handwerk zu erlernen.

[…] und das unterschätzt man gerade bei uns in Deutschland immer wieder: nur wenn man durch harte Arbeit hindurchgegangen ist, gewinnt man das Leichte. Leichtigkeit ist kein Geschenk vorab, sie kommt zuletzt, zuallerletzt. Das, verzeihen Sie, das Künstlerische in der Kunst, dieses Nichtfertigdrehen, das Leichte, das besitzen die Franzosen in hohem Maße, und nur, weil sie das solide Handwerk im Rücken haben. Wir Deutschen, wir malen immer pflichtgetreu unser Bild herunter und sind zu schwerfällig, aus dem Stegreif eine kleine Farbskizze zu machen, die …, die duftet, die oft mehr sagt als das ausgeführte Bild. Da werfen sie hier allerliebste Sachen so hin. Oft im kleinsten Format. Bei uns, da eröffnet jeder Maler mit seinen Bildern eine eigene Kunstgeschichte […]

Rilke

Während eines früheren Aufenthalts in Paris vermittelte ihr Rainer Maria Rilke, der Ehemann der mit ihr befreundeten Worpsweder Künstlerin Clara Westhoff, der seit einiger Zeit in Paris lebt, einen Besuch bei dem Bildhauer Auguste Rodin. Dabei stellte er Paula nicht als Künstlerin, sondern als Ehefrau eines Malers vor.

Hans Anderland hört nebenan wiederholt die Stimme des deutschen Dichters, und Paula gibt ihm Rilkes 1903 veröffentlichtes Buch über Worpswede zum Lesen. Dass er Rilke nicht mag, hat auch etwas mit Eifersucht zu tun. Die Abneigung verstärkt sich, als Paula ihn mit Rilke bekannt macht und dieser Marat als Mann des Pöbels bezeichnet. Nach der schrecklichen Begegnung betrinkt sich Hans Anderland in seinem Zimmer.

[…] da wurde mir die schmerzlich-schöne Gewissheit zuteil, dass ich sie liebe, diese wundervolle Frau. Mein Schwur! Nie will ich’s mehr vergessen, dass ich dich liebe, Paula! Niemals! Das wäre Verrat an uns, und außerdem … Dann weckte mich eine innere Bedrängnis, und ich hatte, schon etwas wankenden Schrittes, einen unaufschiebbaren Gang zu tun. Leider zog ich an der falschen Schnur danach, sodass das Oberlichtfenster herunterstürzte und mich um ein Haar erschlagen hätte. Wenn doch dieser andere an meiner statt guillotiniert worden wäre …

Geburtstag

Hans Anderland wurde zwar am 29. Februar des Schaltjahres 1866 geboren, feiert seinen Geburtstag jedoch seit längerem am 1. Mai. So auch 1906. Den Nachmittag verbringt er mit Paula in ihrem Zimmer, und am Abend lädt er sie zur Feier des Tages in ein Restaurant à prix fixe ein.

Paula meint, es wäre gerechter, am Geburtstag eines Menschen dessen Mutter zu feiern. „Du sollst Vater und Mutter ehren“, stehe schon in der Bibel.

„Ja, Vater und Mutter ehren“, spottete Paula und stellte ihre Tasse mit Aplomb auf den Tisch. „Den Vater zuerst, natürlich, wie immer. Und wofür? Was hat er beigesteuert! Lächerlich doch, diese schlichte Samengabe, im höchsten Maße lächerlich. Wissen Sie, woran mich das erinnert, Doktor?“ Ich konnte nicht im mindesten ahnen, was ihr zu diesem heiklen Punkt noch alles einfiel, und so versteckte ich mich hinter meinem irisblauen Petit four.“
An einen Mückenstich, jawohl! Nichts weiter. Das ist der Beitrag des Mannes an der ganzen Geschichte. Ein Mückenstich. Pieks! Dauert gerade ein paar Sekunden. Mehr leistet er nicht, der gottvolle Mann, bei der Erhaltung unserer Gattung.“

Durchbruch

Einige Male hört Hans Anderland im Nachbarzimmer die Stimme eines anderen Deutschen und erfährt schließlich, dass es sich um den seit einigen Jahren in Paris lebenden 32 Jahre alten Maler und Architekten Bernhard Hoetger handelt.

Paula verlässt schließlich kaum noch ihr Zimmer und hat auch keine Zeit mehr für ihren Mitbewohner. Als dieser sie nach längerer Zeit wieder einmal besucht, sieht er, dass sie zahlreiche Bilder gemalt hat. Und sie erklärt ihm, Hoetger habe ihr „die Tore geöffnet“.

Während Paula von der Concierge hinausgerufen wird, dreht Hans Anderland eines der Gemälde um. Es handelt sich um ein Selbstbildnis, auf dem Paula sich mit nacktem Oberkörper schwanger dargestellt hat. Einer Notiz entnimmt Hans Anderland, dass sie es am 15. Mai malte, an ihrem sechsten Hochzeitstag. Eifersüchtig überlegt er, wer der Vater des Ungeborenen sein könnte, aber als sie ins Zimmer zurückkommt, stellt er fest, dass ihr Bauch nach wie vor flach ist.

Im Herbst berichtet sie Hans Anderland, Otto Modersohn habe ein großes Atelier in Paris gemietet und sie zum Umzug aufgefordert, aber sie wolle hier bleiben, um eigenständig arbeiten zu können.

Enttäuschung

Unvermittelt begegnet Hans Anderland im Treppenhaus Otto Modersohn, der Paula beim Abtransport ihrer Sachen hilft. Sie wird nun doch zu ihm in das große Atelier ziehen.

Wimpfen am Neckar

Hans Anderland, der es nach dem Auszug seiner Nachbarin nicht mehr in Paris aushielt, erfährt Anfang 1908 in Bad Wimpfen, dass Paula Modersohn-Becker bereits am 20. November des Vorjahres in Worpswede bei der Geburt eines Kindes starb. Die Künstlerin wurde nur 31 Jahre alt.

Nachwort des Herausgebers

Der spätere Herausgeber des vorliegenden Buches verbringt Ende 1986 einige Zeit in der Benediktiner-Abtei Grüssau in Bad Wimpfen, wo ihm der Bibliothekar Pater Serapion Schulz Zugang zu den Buchbeständen gewährt. Dabei stößt er auf ein in Packpapier eingewickeltes Manuskript mit dem Titel „Paris 1906“.

Schon nach der ersten hastigen Lektüre – es war mehr ein Verschlingen als ein Lesen – dachte ich sofort an eine Veröffentlichung dieser Papiere. Es war nicht so sehr ihr literarischer Wert, den ich persönlich nicht allzu hoch ansetzen würde, es war ihr Dokument-Charakter, die offensichtliche Authentizität ihres Inhalts war es, die mich fesselte.

Vom Leiter des Stadtarchivs in Bad Wimpfen erfährt er, dass Hans Anderland am 29. Februar 1866 in Maulbronn geboren wurde, 1894 an der Universität Tübingen das Staatliche Examen ablegte und ab Oktober 1906 als Lehrer für Geschichte und Heimatkunde an der Großherzoglichen Realschule in Wimpfen tätig war. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich der 48-Jährige offenbar freiwillig, denn er fiel am 26. September 1914 in Loivre nördlich von Reims.

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In seinem Roman „Die Sonne! Früchte. Ein Tod“ verknüpft Michael Zeller eine fiktive Geschichte mit historischer Realität. Erzählt wird sie in der subjektiven Ich-Form von der erfundenen Figur eines Deutschen, der im Alter von 40 Jahren eine Tragödie über Jean Paul Marat schreiben möchte und sich in einem möblierten Zimmer in Paris daranmacht. Im Februar 1906 zieht neben ihm die aus Worpswede angereiste zehn Jahre jüngere Künstlerin Paula Modersohn-Becker ein – und er ist hingerissen von ihr. Aber im Oktober desselben Jahres folgt sie ihrem Ehemann Otto Modersohn, der in Paris ein großes Atelier gemietet hat, obwohl sie sich noch kurz zuvor von ihm trennen wollte, um eigenständig arbeiten zu können. Gut ein Jahr später stirbt die 31-Jährige bei der Geburt eines Kindes. Erst nach ihrem Tod wird erkannt, dass Paula Modersohn-Becker eine der wichtigsten Vertreterinnen des Expressionismus und eine der bedeutendsten Künstlerinnen des frühen 20. Jahrhunderts war.

„Die Sonne! Früchte. Ein Tod“ veranschaulicht eine Frau, die sich selbst verwirklichen will, obwohl ihr künstlerisches Schaffen von Männern wie Rainer Maria Rilke nicht respektiert wird. Angespornt von Bernhard Hoetger malt Paula Modersohn-Becker 1906/07 ein Bild nach dem anderen, aber sie möchte auch nicht auf eine Mutterschaft verzichten, malt sich an ihrem sechsten Hochzeitstag am 15. Mai 1906 mit Schwangerschaftsbauch und widerruft im September ihren Entschluss, sich von Otto Modersohn scheiden zu lassen.

Michael Zeller hat den 1906 in Paris spielenden Kern des Plots um einen kurzen, eineinhalb Jahre später datierten Epilog ergänzt und beides in eine Rahmengeschichte eingefügt. „Die Sonne! Früchte. Ein Tod“ ist ein nachdenklicher Roman mit langen Dialogen über die Französische Revolution, Liberalismus und Demokratie, über die Kunst, die Emanzipation der Frauen und die inneren Konflikte einer sich selbst verwirklichenden Frau. Die Sprache wechselt zwischen den pathetischen Formulierungen des ironisch und tragikomisch porträtierten Möchtegern-Dramatikers, der lockeren Ausdrucksweise der Künstlerin und impressionistisch skizzierten Einschüben.

Michael Zeller beschäftigte sich 1994/95 während eines Stipendiums in Worpswede mit Paula Modersohn-Becker. Die Originalausgabe seines Romans „Die Sonne! Früchte. Ein Tod“ erschien 1987. Die vierte Auflage wurde 2007 aus Anlass des 100. Todestages von Paula Modersohn-Becker gedruckt. Eine Neuausgabe brachte der Assoverlag in Oberhausen 2019 heraus.

1989 dramatisierte Wolf B. Heinz, der Leiter des „Theaters im Altstadthof“ in Nürnberg, den Roman „Die Sonne! Früchte. Ein Tod“. Auf der Bühne wurden Paula Modersohn-Becker und Hans Anderland von Anke Burgmann bzw. Gerd Ritter verkörpert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Assoverlag

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