Wer wenn nicht wir

Wer wenn nicht wir

Wer wenn nicht wir

Originaltitel: Wer wenn nicht wir – Regie: Andres Veiel – Drehbuch: Andres Veiel, nach dem Buch "Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus" von Gerd Koenen – Kamera: Judith Kaufmann – Schnitt: Hansjörg Weißbrich – Musik: Annette Focks – Darsteller: August Diehl, Lena Lauzemis, Alexander Fehling, Thomas Thieme, Imogen Kogge, Michael Wittenborn, Susanne Lothar, Sebastian Blomberg u.a. – 2011; 125 Minuten

Inhaltsangabe

1961 begegnen sich Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Bernward ist hin- und hergerissen zwischen der Verehrung seines Vaters, eines Blut-und-Boden-Dichters, und seiner politisch linksgerichteten Haltung, die er literarisch zu verbreiten versucht. Gudrun wirft ihrem Vater vor, aus seiner opposi­tio­nellen Haltung gegenüber dem National­sozialismus keine Konsequenzen gezogen zu haben. Auf keinen Fall möchte sie so werden wie er; bei ihr sollen Denken und Handeln übereinstimmen. Zunächst versucht sie, die Gesellschaft mit Texten aufzurütteln, aber als das Echo ausbleibt, schreckt sie nicht vor Gewalttaten zurück ...
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Kritik

Andres Veiel vermittelt in "Wer wenn nicht wir" das Milieu der 60er-Jahre und erzählt am Beispiel von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper – die von Lena Lauzemis und August Diehl eindrucksvoll verkörpert werden – die Vorgeschichte der RAF.
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Bernward Vesper (Jonas Hämmerle) ist der Sohn des Dichters Will Vesper (Thomas Thieme), der 1931 in die NSDAP eintrat und die seit 1923 herausgegebene Zeitschrift „Die schöne Literatur“ unter dem neuen Titel „Die Neue Literatur“ zur führenden Literaturzeitschrift des NS-Regimes machte. Will Vesper editierte sie bis 1943. Parallel dazu schrieb er selbst Prosa und Lyrik im Geist der Blut-und-Boden-Ideologie.

Nachdem Bernwards Katze zum wiederholten Mal einen Vogel gefressen hat, meint der Vater, es reiche. Der elfjährige Junge versteckt das räuberische Tier zwar im Kaninchenstall, kann aber nicht verhindern, dass sein Vater die Katze erschießt. Danach erklärt Will Vesper seinem Sohn, dass Katzen nicht zu ihnen passen würden. „Sie stammen aus dem Orient und sind die Juden unter den Tieren.“

Tübingen 1961. Bernward Vesper (August Diehl) – inzwischen 23 Jahre alt – studiert Literatur, schreibt gesellschaftskritische Texte und lebt mit seiner Freundin Dörte (Vicky Krieps) zusammen, bis er der zwei Jahre jüngeren Studentin Gudrun Ensslin (Lena Lauzemis) begegnet.

Ihr Vater, der Pastor Helmut Ensslin (Michael Wittenborn), stand den Nationalsozialisten zwar kritisch gegenüber und gehörte der Bekennenden Kirche an, meldete sich aber dennoch zum Kriegsdienst in der Wehrmacht. Gudrun wirft ihm diese Diskrepanz zwischen seiner oppositionellen Einstellung und seinem Handeln vor. Für sie kommt es darauf an, konsequent zu sein; ihre politische Überzeugung und ihr Handeln sollen übereinstimmen.

Bevor Will Vesper am 11. März 1962 auf Gut Triangel bei Gifhorn stirbt, nimmt er seinem Sohn das Versprechen ab, für Neuauflagen seiner Bücher zu sorgen.

Bernward Vesper und Gudrun Ensslin verlieben sich, ziehen zusammen und gründen 1963 den Kleinverlag „Studio neue Literatur“. Helmut und Ilse Ensslin (Susanne Lothar) sind entsetzt über das Vorhaben ihrer politisch links eingestellten Tochter, in dem Verlag die Blut-und-Boden-Lyrik von Will Vesper neu herauszugeben und dafür ihr Studium schleifen zu lassen. Sie schreibt sogar in einem rechtsgerichteten Blatt lobend über Will Vespers Werk. Helmut und Ilse Ensslin drohen Gudrun mit dem Entzug der monatlichen Zahlungen, wenn sie das geplante pädagogische Aufbaustudium nicht durchführt. Notgedrungen wechselt sie zur Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch-Gmünd, wohnt während der Woche bei ihren Eltern und sieht Bernward nur am Wochenende.

Als Gudrun herausfindet, dass Bernward auch mit einer anderen jungen Frau ein Verhältnis hat, fordert sie ihn auf, diese mitzubringen und meint, ein Dreieck müsse nicht immer zur Geraden zurecht geklopft werden. Im Geist der Zeit propagiert sie die freie Liebe, aber es fällt ihr schwer, ihre Eifersucht zu unterdrücken, wenn sie Bernward und ihre Nebenbuhlerin im Bett stöhnen hört. Sie flieht in eine Berghütte in den Alpen. Dort zerbricht sie eine Flasche, zieht ihren Schlüpfer aus und setzt sich in selbstmörderischer Absicht in die Scherben und Splitter. Bernward, der von ihrem Vater erfahren hat, wo sie sich aufhält und ihr nachgeeilt ist, findet sie im Wald. Sie liegt bewusstlos im Schnee.

Die beiden versuchen einen Neuanfang in Berlin, wo Gudrun sich nach der ersten Staatsprüfung für Grundschullehrer für ein Aufbaustudium an der Freien Universität immatrikuliert

Bernward Vesper, den Gudrun Ensslin weiterhin mit anderen Frauen in flagranti ertappt, erfährt von seiner verwitweten Mutter Rose (Imogen Kogge), dass es ihn ohne Hitler gar nicht geben würde. Der Vater habe kein Kind gewollt, sagt sie, aber als der „Führer“ dazu aufrief, für Nachwuchs zu sorgen, folgte Will den Vorstellungen seines Idols. Bernward versucht noch während des Besuchs bei der Mutter, sich das Leben zu nehmen. Rose Vesper findet ihn gerade noch rechtzeitig in der Badewanne.

Im Mai 1965 verloben sich Gudrun Ensslin und Bernward Vesper.

Sie arbeiten in dem von Günter Grass zur Unterstützung des SPD-Wahlkampfes gegründeten „Wahlkontor der Schriftsteller“ mit, doch als die SPD mit der CDU/CSU zusammen 1966 die Große Koalition bildet, wenden sie sich enttäuscht von der Partei ab und engagieren sich in der APO.

Am 13. Mai 1967 bringt Gudrun Ensslin den Sohn Felix zur Welt. Ihre jüngere Schwester Ruth (Maria-Victoria Dragus) kommt nach Berlin, um die Rolle des Kindermädchens zu übernehmen.

Einige Monate später lernt Gudrun bei einem Treffen der APO den Münchner Andreas Baader (Alexander Fehling) kennen, der seit 1963 in Berlin lebt, um nicht zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Anders als der intellektuelle Bernward Vesper, der davon träumt, die Gesellschaft durch literarische Texte aufzurütteln, handelt es sich bei Andreas Baader um einen pragmatischen Draufgänger, der sich nimmt, was er möchte.

Als Bernward die beiden nackt im Bett erwischt, rät Andreas Baader dem Gehörnten unbekümmert: „Schreib ein Buch darüber. Soll helfen.“

Anfang 1968 trennt Gudrun Ensslin sich von Bernward Vesper und lässt den gemeinsamen Sohn Felix bei ihm zurück. Vorübergehend wohnt sie bei Andreas Baader und seiner bisheriger Freundin. Dann ziehen die beiden nach Frankfurt am Main.

Aus Protest gegen den Kapitalismus, die Konsumgesellschaft und deren Gleichgültigkeit gegen den Vietnam-Krieg legen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und zwei andere Politaktivisten am 2. April 1968 in zwei Kaufhäusern an der Frankfurter Zeil Feuer. Es entsteht hoher Sachschaden, aber verletzt wird niemand. Aufgrund eines Hinweises verhaftet die Polizei die Brandstifter kurz darauf in einer Frankfurter Wohnung. Vor dem Frankfurter Landgericht beginnt am 14. Oktober 1968 der Prozess. Obwohl Gudrun Ensslin auf der Anklagebank mit Andreas Baader schäkert, setzt Bernward Vesper sich leidenschaftlich für sie ein, bis ihm der Richter das Wort abschneidet.

Die Angeklagten werden zu je drei Jahren Haft verurteilt. Die Gefängnisleiterin (Susanne-Marie Wrage), die Gudrun Ensslin die Nachricht überbringt, dass sich deren Bruder Uli (Hanno Koffler) erhängte, bestärkt sie in ihrer gesellschaftskritischen Haltung.

Am 13. Juni 1969 kommen Gudrun Ensslin und Andreas Baader bis zur Entscheidung über ihren Revisionsantrag frei.

Als Gudrun versucht, mit ihrem Sohn zu telefonieren, reißt Andreas Baader aufgebracht das Kabel aus der Wand und ohrfeigt sie, denn er hält Privatheit und Kleinfamilie für falsch. Heimlich ruft Gudrun ihren früheren Lebensgefährten noch einmal aus einer Telefonzelle an, und als sie merkt, dass er mit der Sorge für das gemeinsame Kind überfordert ist, rät sie ihm, Felix wegzugeben.

Der Bundesgerichtshof verwirft fünf Monate später die Revision. Andreas Baader und Gudrun Ensslin setzen sich zunächst ins Ausland ab, dann kehren sie zurück und schlüpfen vorübergehend als „Hans“ und „Grete“ bei der Journalistin Ulrike Meinhof in Berlin unter.

Andreas Baader wird am 3. April 1970 erneut verhaftet. Gudrun Ensslin organisiert eine Befreiungsaktion für ihn im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen in Berlin, wo er am 14. Mai 1970 angeblich mit Ulrike Meinhof zusammen für ein Buch recherchiert. Das ist die Geburtsstunde der RAF.

Bernward Vesper bricht sein Studium ab und beginnt den autobiografischen Roman „Die Reise“ zu schreiben, in dem er sich mit seiner Indoktrinierung durch seinen Vater beschäftigt, über seine eigene politische Haltung nachdenkt und über seine Erfahrungen mit halluzinogenen Drogen wie LSD berichtet. Aber dafür findet er keinen Verleger.

In einem Wutanfall wirft er das Fernsehgeräte und Möbelstücke aus dem Fenster. Es sieht dann so aus, als wolle er das auch mit Felix tun, aber stattdessen reißt er sich die Kleider vom Leib und tobt splitternackt im Hinterhof herum, bis ihn die von Nachbarn alarmierte Polizei in die Psychiatrie bringt. Am 15. Mai 1971 verübt er mit einer Überdosis Schlaftabletten Selbstmord.

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Der Dokumentarfilmer Andres Veiel beschäftigt sich in seinem Spielfilm-Debüt „Wer wenn nicht wir“ mit der Vorgeschichte der RAF. Als zentrale Figuren wählte er Gudrun Ensslin und Bernward Vesper. An ihrem Beispiel zeigt er den Konflikt der in den Sechzigerjahren jungen Generation mit der älteren. Bernward Vesper ist hin- und hergerissen zwischen der Verehrung seines Vaters, eines Blut-und-Boden-Dichters, und seiner politisch linksgerichteten Haltung, die er literarisch zu verbreiten versucht. Die Pastorentochter Gudrun Ensslin wirft ihrem Vater vor, aus seiner oppositionellen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus keine Konsequenzen gezogen zu haben. Auf keinen Fall möchte sie so werden wie er; bei ihr sollen Denken und Handeln übereinstimmen. Zunächst versucht sie, die Gesellschaft mit Texten aufzurütteln, aber als das Echo ausbleibt, schreckt sie nicht vor Gewalttaten zurück.

Andres Veiel leuchtet die Konflikte dieser beiden von Lena Lauzemis und August Diehl eindrucksvoll verkörperten Figuren facettenreich aus und vermittelt zugleich das Milieu der Sechzigerjahre, beispielsweise in der Szene, in der Bernward Vesper und Gudrun Ensslin eine Wohnung suchen und die Vermieterin (Bettina Redlich) besorgt ist, weil die beiden unverheiratet sind und sie deshalb wegen Kuppelei belangt werden könnte. Zeitgeschichtliche Orientierung geben Einspielungen von Archivmaterial: Atombombentest, Eichmann-Prozess, Kuba-Krise, Vietnam-Krieg, Vereidigung des Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger, Schah-Besuch in Berlin und Tötung Benno Ohnesorgs, Attentat auf Rudi Dutschke. Dieses dokumentarische Material ist kontrapunktisch mit Musik untermalt. Die meisten dieser Sequenzen sind stereotyp, aber eine davon verstört: Ein Pilot der US Air Force, dessen Geschwader gerade Napalm-Bomben über Vietnam abwirft, jubelt, als er brennende Vietcong laufen sieht und bezeichnet die mörderische Aktion als Riesenspaß.

Dem Film „Wer wenn nicht wir“ liegt das Buch „Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“ des Historikers Gerd Koenen zugrunde (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 365 Seiten, ISBN 3-462-03313-1).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014

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Gudrun Ensslin (kurze Biografie)
Andreas Baader (kurze Biografie)
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