Der Kick

Der Kick

Der Kick

Originaltitel: Der Kick – Regie: Andres Veiel – Drehbuch: Gesine Schmidt, Andres Veiel – Kamera: Jörg Jeshel – Schnitt: Katja Dringenberg – Musik: Francesco Sacco – Darsteller: Markus Lerch, Susanne-Marie Wrage – 2006; 80 Minuten

Inhaltsangabe

In der Nacht auf den 13. Juli 2002 wurde der 16-jährige Marinus Schöberl in Potzlow von drei zwischen 17 und 23 Jahre alten Bekannten stundenlang gequält und gedemütigt. Dann musste er in die Kante eines Steintrogs beißen, und einer der Jugendlichen sprang ihm auf den Kopf. Weil er noch röchelte, wurde er mit einem Stein ermordet. – Andres Veiel und Gesine Schmidt führten monatelang mit Menschen in Potzlow Gespräche über den Mordfall und schufen das Theaterstück "Der Kick".
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Kritik

In "Der Kick", der Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks, wird auf szenische Darstellungen verzichtet. Es handelt sich stattdessen um eine Collage aus authentischen Texten, die von zwei Schauspielern vorgetragen werden.

Marinus Schöberl. Mord in Potzlow

In der Nacht auf den 13. Juli 2002 wurde der 16-jährige Marinus Schöberl aus Gerswalde im zehn Kilometer entfernten Dorf Potzlow von dem 23 Jahre alten Marco Schönfeld, dessen sechs Jahre jüngerem Bruder Marcel und einem weiteren 17-Jährigen namens Sebastian Fink stundenlang geschlagen und gedemütigt, bevor Marcel Schönfeld ihn schließlich ermordete. Erst im November 2002 fand man die Leiche und im Oktober 2003 verurteilte das Landgericht Neuruppin die drei Täter [Mord in Potzlow].

Der Dokumentarfilmer Andres Veiel (* 1959) und die Dramaturgin Gesine Schmidt (* 1966) reisten in der Zeit von September 2004 bis April 2005 etwa vierzigmal nach Potzlow, um Informationen über den unvorstellbaren Mordfall zu sammeln. Weil die Medien damals über den Ort hergefallen waren, die Täter zu Monstern

stilisiert und das Dorf unter Generalverdacht gestellt hatten, fiel es Andres Veiel und Gesine Schmidt anfangs schwer, die Menschen zum Reden zu bringen. Das war nur möglich, weil sie erst einmal zuhörten, wiederkamen und anhaltendes Interesse zeigten. Erst nach einiger Zeit fingen sie an, sich Notizen zu machen, und schließlich erlaubten es die Gesprächspartner auch, wenn sie ein Tonbandgerät mitlaufen ließen. Andres Veiel und Gesine Schmidt redeten mit Dorfbewohnern, den Eltern von Marco und Marcel Schönfeld, einer Freundin Marcos und einem Freund von Marinus Schöberl. Die Gesprächsprotokolle umfassten am Ende 1500 Seiten.

Andres Veiel wollte von Anfang an keine Illustration, keine szenische Darstellung. Er und Gesine Schmidt entschieden sich für eine Collage aus Texten, die sie den geführten Gesprächen entnahmen, und sie fügten Auszüge aus anderen Quellen ein. Beispielsweise griffen sie auf Mitschnitte von Gesprächen der RBB-Journalistin Gaby Probst mit Birgit Schöberl zurück, weil Marinus‘ Mutter bereits im Oktober 2003 gestorben war.

Um die Abstraktion im Geist des epischen Theaters noch zu verstärken, werden alle 18 Rollen in „Der Kick“ von zwei Schauspielern gesprochen: einem Mann und einer Frau. Anfangs geben die beiden jeweils den Namen der Person an, deren Text sie im Anschluss sprechen werden, aber im Lauf der Zeit genügen unterschiedliche Sprechweisen, eine veränderte Körperhaltung und minimale Gesten, um die Figur erkennbar zu machen. Die Auszüge aus der Vernehmung Marcels Schönfelds sind beispielsweise am Amtsdeutsch des Protokollanten leicht zu erkennen.

Rollen in „Der Kick“:

  • Marcel Schönfeld
  • Marco Schönfeld
  • Jutta und Jürgen Schönfeld, Eltern von Marco und Marcel
  • Birgit Schöberl, Mutter von Marinus
  • Matthias M., Freund von Marinus Schöberl
  • Sandra B., Freundin von Marco Schönfeld
  • Staatsanwalt
  • Vernehmer
  • Gutachter
  • Pfarrer
  • Bürgermeister
  • Heiko G., Auszubildender
  • Ausbilder
  • Erzieherin
  • Achim F.
  • Torsten M., Vater von Matthias
  • Frau aus dem Dorf

Wir hören beispielsweise, wie Jutta Schönfeld sich über die Medien, die Ausgrenzung durch die anderen Dorfbewohner und Feindseligkeiten beklagt:

Am Dienstag, da ging es los. Man kennt ja das mit der Zeitung und Fernsehen und plötzlich is‘ man das selbst. RBB, Stern TV, RTL, alle wollten was erfahren, und der Polizist hat gesagt, alles abblocken. Die Nachbarschaft, wenn du raus kommst, denn wird grad noch so gegrüßt, und dann gehen sie wieder los. Und abends sitzen wir dann hier, kriegen Anrufe: Mörder, Mörder. Denn hört man bloß ein Stöhnen im Hintergrund. Wir hatten so ne Angst gehabt, wir haben Bekannte angerufen, können wir bei euch unterkommen? Die dann, wir rufen zurück, und dann haben sie zurückgerufen. – Ja, tut uns Leid, musst uns verstehen, das geht nich‘, geh‘ in ein Hotel. – ich sage: – Aber ein Hotel kost ja aber auch Geld. – Ich hab denn gesagt, man kann nich‘ wegrennen, wir haben nischt gemacht, wir sind keine Mörder.

Birgit Schöberl, die wohl von Arbeitslosen- oder Sozialgeld lebte, erhielt ein amtliches Schreiben, in dem sie darauf hingewiesen wurde, dass seit Marinus‘ Tod das Maximum der zugelassenen Quadratmeter pro Person überschritten sei. Sie wurde deshalb aufgefordert, sich eine kleinere Wohnung zu suchen.

Marco antwortet auf die Frage, warum sie Marinus Schöberl stundenlang schlugen:

Weil’s Spaß macht und weil man auch nicht weiß, was man sonst machen soll.

Jürgen Schönfeld sagt:

Wir haben alles getan, was man tun kann. Wir haben unsere Kinder gut erzogen.

Und seine Frau fügt hinzu:

Die Kinder stehen an erster Stelle, erst dann kommt der Partner.

Jürgen Schönfeld weiter:

Marco war und ist ehrlich. Wir haben ihn zur Gewaltlosigkeit erzogen. Da hat noch nie jemand zurückgeschlagen. Und der Marco auch nicht, jedenfalls nicht, wenn er nüchtern ist. Der Marco der ist jetzt jemand, der schlägt zurück im Suff. Aber ansonsten ist er der liebste Mensch, das sagt er selber.

Staatsanwalt:

Am Tatabend war weder ein Asylbewerber, ein Jude oder irgendjemand, worauf das Feindbild zutraf, vorhanden. Deshalb musste hier ein Kumpel als Notopfer herhalten, weil den Tätern kein besserer begegnete. Nach unserer Auffassung hat das Opfer Schöberl nach den ganzen Misshandlungen sein eigenes Todesurteil gesprochen, indem er gesagt hat: Ich bin Jude. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gesagt, spinnt hier nicht rum, ich bin doch euer Kumpel Marinus, ich glaube nicht, dass der Tötungsakt dann über die Bühne gegangen wäre. Das ist kein Vorwurf, sondern einfach eine Feststellung. Bevor er sich als Jude bekannte, da geilte man sich – unschöner Ausdruck, aber vielleicht passt er hier – an seinen blond gefärbten Haaren und seinen Hip-Hop-Hosen auf. Der Tötungsakt wurde erleichtert, weil Marinus Schöberl aus Sicht der Täter auf einer niedrigeren geistigen Stufe stand. Man kann in die Reihe der potenziellen Opfer neben Asylbewerbern auch behinderte Menschen einreihen. Und das traf auf das Opfer zu. Marinus Schöberl stotterte, besonders wenn er aufgeregt war.

Bei der Beerdigung von Marinus Schöberl in Gerswalde sagt der Geistliche:

Eltern, Geschwister und Freunde machen sich schwerste Vorwürfe: Warum? Warum haben wir uns den Tätern nicht mutig in den Weg gestellt? Stattdessen haben wir es hingenommen, dass irregeleitete, zum Teil restlos verkommene jugendliche Glatzenträger ihren giftigen Ungeist ungeniert durch unsere Gemeinden tragen konnten. Und dass sie dafür noch den Beifall einiger Leute einheimsen konnten, und sei es der Applaus des betretenen Schweigens. Warum hat es niemand bemerkt, das Marinus in der Julinacht durch das komplette Dorf Potzlow getrieben wurde? Haben denn alle geschlafen? Oder waren sie betrunken oder einfach barbarisch?

„Der Kick“ ist ein karges, minimalistisches und dennoch vielstimmiges Theaterstück. Nur vor der Trauerrede des Pfarrers ertönt kurz Musik. Aber die Geräusche werden gezielt eingesetzt.

Gesine Schmidt und Andres Veiel nähern sich ihren Fragestellungen von außen nach innen; sie beginnen mit bekannten Tatsachen und dringen dann zu Widersprüchlichem und Irritierendem vor. Sie weisen zwar auf die soziale Verkarstung in Potzlow hin, auf die Perspektivlosigkeit vor allem der jugendlichen Bewohner, enthalten sich aber jeder psychologischen Spekulation, monokausalen Erklärung und eindimensionalen Schlussfolgerung. Andres Veiel spricht von einem „Ursachengetrüpp“.

Die haben noch nie einen Juden gesehen, noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Sie wissen auch historisch null! Man muss es einfach so klar sagen. Es sind Chiffren, die einen Vorwand bilden, jemand anderen zu erniedrigen. Jemanden erniedrigen, zum „Juden“ machen – Macht haben. Schließlich sogar über Leben und Tod bestimmen. Weil man selbst in dieser Gesellschaft nichts wert zu sein scheint. Diese unheilvolle Sehnsucht gibt es nicht nur im Osten. (Andres Veiel)

Hier in Potzlow ist die Hälfte arbeitslos. Von den Jugendlichen hat kaum einer Arbeit, und unsre Jungs – die braucht auch keiner mehr, wenn sie mal rauskommen, von mir will ich erst gar nicht reden. Ich bin arbeitsunfähig. Ich hab‘ 30 Jahre gearbeitet, krieg‘ keinen Cent im Moment. Rückenprobleme. Ne Wucherung am Rückenmark. Wenn ich auf der Leiter steh‘ … . Ich kann gar nichts mehr. […]
Die verarschen einen. Man kommt sich richtig gedemütigt vor. Da komm‘ ich nicht drüber weg, dass man weg is‘ vom Fenster.(Jürgen Schönfeld)

Mein Mann kriegt ’nen Brief vom Amt, dass ich zu viel Rente krieg‘. 14,53 Euro zu viel. Deswegen kriegt mein Mann keine Unterstützung vom Amt. (Jutta Schönfeld)

Deutlich wird, dass es sich bei den Tätern nicht um Monster handelt, sondern um Menschen mit widersprüchlichen Charaktereigenschaften. Marcos Freundin (die selbst zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, weil sie die Freundin eines „Fidschi“ krankenhausreif geschlagen hatte) hebt beispielsweise hervor, wie liebevoll er sich ihr gegenüber verhielt. Die Diskrepanz zwischen der monströsen Tat und sympathischen Charakterzügen der Täter ist schwer zu ertragen.

In „Der Kick“ geht es um Aggression und Gewalt, Rechtsextremismus, „Hackordnung“, Anfeindung von Menschen, die als „anders“ wahrgenommen werden, Rassismus, jugendliche Perspektivlosigkeit, Alkohol- und Drogenmissbrauch.

Das erschütternde Stück „Der Kick“ wurde unter der Regie von Andres Veiel am 23. April 2005 am Theater Basel und am 24. April 2005 am Maxim-Gorki-Theater im Gewerbehof in der alten Königstadt am Prenzlauer Berg in Berlin uraufgeführt. Am Ort der Berliner Premiere verfilmte Andres Veiel das Theaterstück dann auch mit Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch. „Der Kick“ kam am 21. September 2006 in die Kinos.

Außerdem veröffentlichte Andres Veiel das Buch „Der Kick. Ein Lehrstück über Gewalt“ (Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, 285 Seiten, ISBN 978-3-421-04213-2, 14.95 €).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

Andres Veiel: Wer wenn nicht wir

Marinus Schöberl. Mord in Potzlow

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Den Figuren in dem leicht zu lesenden Psychothriller "Ein Fremder im Haus" von Patricia MacDonald fehlt es an Komplexität und Widersprüchlichkeit.
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