Mario Vargas Llosa : Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo
Originalausgabe: El Paraíso en la otra esquina Alfaguara, Madrid 2003 Das Paradies ist anderswo Übersetzung: Elke Wehr Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2003 ISBN 3-518-41600-6, 493 Seiten Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-518-45713-6, 493 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Paul Gauguin und seine Großmutter Flora Tristan suchten nach dem Paradies. Der Künstler wanderte nach Polynesien aus, in der Hoffnung, dort eine von der westlichen Zivilisation unberührte Welt zu finden. Seine Großmutter setzte sich bis zur Erschöpfung dafür ein, einen Beitrag zur Verwirklichung der Utopie einer gerechten Gesellschaft zu leisten.
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Kritik

Mario Vargas Llosa porträtiert in 22 Kapiteln abwechselnd Flora Tristan und Paul Gauguin. Ausgangspunkte sind Flora Tristans letzte Lebensmonate und Paul Gauguins letzte Lebensjahre. Von früheren Erlebnissen der beiden erfahren wir in Rückblenden.

In einem von Mario Vargas Llosa erwähnten Kinderspiel fragt eines der Mädchen: „Ist hier das Paradies?“ Und ein anderes Kind muss darauf antworten: „Nein, mein Fräulein, hier nicht. Das Paradies ist anderswo, fragen Sie an der nächsten Ecke.“ (Seite 17) Auch Paul Gauguin (1848 – 1903) und seine Großmutter Flora Tristan (1803 – 1844) suchten nach dem Paradies. Der weltberühmte Künstler wanderte nach Polynesien aus, in der Hoffnung, dort eine von der westlichen Zivilisation unberührte Welt zu finden, eine promiskuitive Gesellschaft ohne die verklemmte Sexualmoral des Abendlandes. Seine Großmutter war nicht so naiv wie er, an die Existenz eines Paradieses irgendwo auf der Erde zu glauben; Flora Tristan setzte sich bis zur Erschöpfung dafür ein, einen Beitrag zur Verwirklichung der Utopie einer gerechten Gesellschaft zu leisten; ihre Ziele waren das „Recht auf Arbeit, Schulbildung, Gesundheit, würdige Existenzbedingungen“ (Seite 15). Während der Künstler Paul Gauguin egomanisch nach seinem Paradies suchte, ging es der Sozialistin Flora Tristan um ein altruistisches Anliegen. Gauguins Ideal der sexuellen Freizügigkeit war schon gar nicht ihre Sache. Mario Vargas Llosa schildert, wie sie mit siebzehn Jahren von ihrem späteren Ehemann André Chazal auf einer Chaiselongue in dessen Werkstatt vergewaltigt und defloriert wurde.

Die vier Jahre ehelicher Sklaverei öffneten dir die Augen für das, was richtig und falsch war in der Beziehung zwischen Männern und Frauen, für das, was du im Leben wolltest und was du nicht wolltest. Das, was du warst, ein Leib, um Monsieur André Chazal Lust und Kinder zu schenken, wolltest du natürlich nicht sein. (Seite 54)

Seither verweigerte Flora Tristan sich allen Männern, auch dem Schiffskapitän Zacharie Chabrié, der während der Überfahrt von Frankreich nach Peru um ihre Hand anhielt. In Peru spielte sie allerdings kurz mit dem Gedanken, die Frau des spanischen Obersten Bernardo Escudero zu werden, aber nicht, weil sie ihn begehrte, sondern weil sie eine Möglichkeit sah, eine zweite „Marschallin“ zu werden. Bei der Frau, die man „die Marschallin“ nannte, handelte es sich um Doña Francisca Zubiaga de Gamarra, die Ehefrau des Marschalls Agustín Gamarra, des ehemaligen Präsidenten von Peru. Die Tochter eines Spaniers und einer Peruanerin hatte sich zu einer effizienten Mitarbeiterin ihres Ehemanns auf allen Gebieten entwickelt, sich unerschrocken an militärischen Scharmützeln beteiligt und während seiner Präsidentschaft als die eigentliche Machthaberin gegolten. Flora Tristan war von der „Marschallin“, die sie bei ihrer Abreise aus Südamerika auf dem Schiff noch persönlich kennen lernte, tief beeindruckt. Es gab also Frauen, die sich Respekt verschafften! (Nach dem missglückten Putsch vom 3. Januar 1834 floh Agustín Gamarra nach Bolivien. Seine Frau wurde in Arequipa festgenommen und musste nach Chile ins Exil gehen, wo sie bald darauf starb.)

Ein einziges Mal in ihrem Leben ließ Flora Tristan sich auf eine Liebesbeziehung ein: 1838 lernte sie bei einem Opernball die polnische Exilantin Olympe Chodzko (Mädchenname: Olympe Maleszewska) kennen, die sich auf der Stelle in sie verliebte. Die Enkelin eines berühmten Orientalisten an der Sorbonne war mit dem Historiker Leonhard Chodzko verheiratet und führte in Paris einen renommierten Salon. Sie lud Flora Tristan ein und küsste sie überraschend auf den Mund. Flora Tristan war verwirrt, aber sie traf sich häufiger mit Olympe Chodzko, auch in dem Sommer- und Wochenendhaus des Ehepaars bei Pontoise. Sie wurde ihre Geliebte. Nach ihrer Rückkehr aus England im Herbst 1839 trennte Flora Tristan sich jedoch von Olympe Chodzko, denn sie wollte mit all ihrer Kraft auf eine bessere Gesellschaft hinarbeiten und sich nicht durch privates Glück davon ablenken lassen.

Flora Tristan reiste 1844 monatelang per Postkutsche und Flussdampfer durch Frankreich, um die Arbeiter in Auxerre, Dijon, Lyon, Roanne, Avignon, Marseille, Toulon, Nîmes, Montpellier, Béziers, Toulouse und Bordeaux durch Vorträge aufzurütteln, Unternehmern ins Gewissen zu reden und ihr Anliegen Journalisten zu erläutern. Bei ihren Rundgängen durch Fabriken entsetzte sie sich immer wieder über die Arbeitsbedingungen, die dort herrschten. Sie besichtigte auch Hospitäler, Waisen-, Armen- und Irrenhäuser sowie Rotlichtviertel.

Ihre Vorträge hielt sie am liebsten vor nicht mehr als dreißig Arbeitern, denn diese Größe des Publikums ermöglichte noch einen persönlichen Kontakt und eine lebhafte Diskussion. Die Teilnehmer applaudierten zwar, wenn Flora Tristan eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen verlangte und sie aufforderte, sich in einer Arbeiterunion zu organisieren, aber sie ließen sich nicht so leicht überzeugen, dass auch Frauen ein Recht auf Arbeit haben sollten, denn sie sahen in den sehr viel geringer bezahlten Arbeiterinnen eine Konkurrenz und fürchteten, durch sie ihre eigenen Arbeitsplätze zu verlieren. In mehreren Städten wurde Flora Tristan von der Polizei bespitzelt. In Lyon durchsuchte die Polizei ihr Quartier, und sie musste sich vor dem Prokurator des Königs verantworten, der ihr umstürzlerische Aktivitäten vorwarf und weitere Versammlungen verbot.

Solange Paul Gauguin noch eine erfolgreiche Karriere als Börsenmakler in Paris vor sich hatte, bedeutete ihm sexuelle Freizügigkeit nicht viel.

So wenig wichtig war damals noch für Paul das Sexuelle, dass er in diesen ersten Zeiten seiner Ehe nichts dagegen hatte, der Schamhaftigkeit seiner Frau Genüge zu tun und sie so zu lieben, wie die lutheranische Moral es gebot: Mette in ihren langen, zugeknöpften Nachthemden und im Zustand völliger Passivität, ohne sich eine Kühnheit, eine Koketterie, einen Spaß zu erlauben […] (Seite 78f)

Erst als Paul Gauguin Künstler wurde, dachte er um: Um wirklich malen zu können, müsse man „den zivilisierten Menschen abschütteln, der auf unseren Schultern hockt, und den Wilden herauslassen, den wir in uns tragen“, meinte er (Seite 34). Auf der Suche nach einer Gesellschaft von „Wilden“ reiste Paul Gauguin 1891 nach Tahiti und verbrachte seinen dreiundvierzigsten Geburtstag bereits in der Südsee. Unbekümmert schlief er in Polynesien mit dreizehn-, vierzehnjährigen dunkelhäutigen Mädchen und hatte einmal auch mit einem jungen Holzfäller namens Jotefa ein sexuelles Erlebnis.

War das nicht wunderbar, Paul? Er [Jotefa] hatte etwas mit dir getan, das im christlichen Europa Angst und Reue, ein Gefühl von Schuld und Scham auslösen würde. Doch für den Holzfäller, ein freies Wesen, war es bloße Zerstreuung, ein Zeitvertreib. Was für einen besseren Beweis konnte es dafür geben, dass die fälschlich so genannte europäische Zivilisation die Freiheit und das Glück zerstört und die Menschen der Freuden des Körpers beraubt hatte? (Seite 73)

Flora Tristan und ihr Enkel Paul Gauguin waren zwei unangepasste, rebellische Persönlichkeiten, die von Mario Vargas Llosa in seiner Doppelbiografie „Das Paradies ist anderswo“ eindrucksvoll porträtiert werden.

In zweiundzwanzig Kapiteln beschäftigt Mario Vargas Llosa sich abwechselnd mit Flora Tristan und Paul Gauguin, die sich nie gesehen hatten, weil Flora Tristan vier Jahre vor Paul Gauguins Geburt gestorben war. Ihre beiden Biografien spiegeln sich jedoch. Als „Gegenwart“ seiner Darstellungen wählte Mario Vargas Llosa Flora Tristans Reisetätigkeit in den Monaten vor ihrem Zusammenbruch (April – September 1844) und Paul Gauguins letzte zwölf Lebensjahre, die dieser fast ausschließlich in Polynesien verbrachte (1891 – 1893; 1895 – 1903). Von früheren Erlebnissen der beiden erfahren wir, wenn diese sich in „Das Paradies ist anderswo“ daran erinnern und Mario Vargas Llosa Rückblenden einbaut. Das erlaubt ihm auch, mit Anspielungen, Wiederholungen und Variationen zu arbeiten. Das Buch ist eigentlich in der dritten Person Singular geschrieben, aber Mario Vargas Llosa spricht seine Protagonisten häufig auch in der zweiten Person an. Hervorzuheben ist die elegante Gedankenführung, die „Das Paradies ist anderswo“ zu einem Lesevergnügen macht.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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