Der Gott des Gemetzels

Der Gott des Gemetzels

Der Gott des Gemetzels

Der Gott des Gemetzels – Originaltitel: Carnage – Regie: Roman Polanski – Drehbuch: Yasmina Reza und Roman Polanski, nach dem Theaterstück "Der Gott des Gemetzels" von Yasmina Reza – Kamera: Pawel Edelman – Schnitt: Hervé de Luze – Musik: Alexandre Desplat – Darsteller: Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz, John C. Reilly, Elvis Polanski, Eliot Berger u.a. – 2011; 80 Minuten

Inhaltsangabe

Nachdem der elfjährige Zachary Cowan dem gleichaltrigen Ethan Longstreet im Streit zwei Zähne ausgeschlagen hat, entschuldigen sich seine Eltern Nancy und Alan Cowan bei Penelope und Michael Longstreet für sein Verhalten. Beide Elternpaare sind bemüht, die Angelegenheit vernünftig zu regeln. Aber die Fassade der Höflichkeit wird immer brüchiger. Frustrationen und Aggressionen brechen hervor. Sticheleien wachsen sich zu Vorwürfen und Wortgefechten aus ...
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Kritik

Die witzige Gesellschaftssatire "Der Gott des Gemetzels" – die Verfimung eines Kammerspiels von Yasmina Reza – unterhält mit pointierten Dialogen. Sehenswert ist die straffe Inszenierung nicht zuletzt wegen der hervorragenden Besetzung.
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In einem Park in Brooklyn gerät der elfjährige Zachary Cowan (Elvis Polanski) in Streit mit einem gleichaltrigen Jungen namens Ethan Longstreet (Eliot Berger) und dessen Clique. Augenscheinlich fühlt Zachary sich bedrängt. Schließlich schlägt er Ethan mit einem Stock ins Gesicht und läuft weg.

Nancy und Alan Cowan (Kate Winslet, Christoph Waltz) besuchen Penelope und Michael Longstreet (Jodie Foster, John C. Reilly), um sich für das Verhalten ihres Sohnes zu entschuldigen und das weitere Vorgehen zu besprechen. Beide Elternpaare sind bemüht, die Angelegenheit gütlich und vernünftig zu regeln. Penelope besteht allerdings auf einem Protokoll. Von Michael und Zacharys Eltern umstanden, tippt sie den Text in einen Laptop. Ethan hat durch den Angriff zwei Schneidezähne eingebüßt, und seine Lippe ist geschwollen. Als Penelope schreibt, Zachary sei mit einem Stock bewaffnet gewesen, widerspricht Alan höflich. Penelope löscht daraufhin das Wort „bewaffnet“ und schreibt, Zachary habe einen Stock bei sich gehabt.

Als Jurist ist es Alan gewohnt, auf jedes Wort zu achten. Er arbeitet für einen Pharmakonzern. Alle paar Minuten klingelt sein Handy, und im Lauf der Zeit erfahren die unfreiwilligen Zuhörer, dass das Unternehmen in Schwierigkeiten ist, weil bei einem umsatzstarken Medikament unerwartete Nebenwirkungen auftreten. Alan rät seinen Gesprächspartnern am Telefon dazu, alles zu leugnen und das Präparat nicht vom Markt zu nehmen, weil das als Schuldeingeständnis gewertet werden könnte. Einer seiner Mitarbeiter soll eine Presseerklärung verfassen. Darin dürfe nichts Defensives stehen, sagt Alan, sondern es müsse der Verdacht geäußert werden, dass die unhaltbaren Vorwürfe zwei Wochen vor der Aktionärsversammlung eine gezielte Kampagne von bestimmten Interessenkreisen gegen den Konzern sein könnten.

Nancy ist Anlageberaterin. Michael handelt als Reisender mit Eisenwaren. Seine Frau bezeichnet er als Schriftstellerin, weil sie ein Buch über Kunst veröffentlicht hat und gerade ein weiteres über den Dafur-Konflikt schreibt. Sie ist über die Morde in Dafur erschüttert und missbilligt es, dass ihr Mann an den schrecklichen Ereignissen keinen Anteil nimmt. Ohne dass sie es ausspricht, wird deutlich, dass sie sich den anderen moralisch überlegen fühlt.

Alan verachtet Weltverbesserer wie Penelope. Der Zyniker ist überzeugt, dass das Rechtssystem aus dem Gesetz des Dschungels hervorgegangen ist und nur dazu dient, das Gemetzel fortsetzen zu können, ohne dass man sich gegenseitig die Köpfe einschlagen muss. Auf diesem Schlachtfeld fühlt er sich zu Hause. Das Gerangel der Kinder hält er für bedeutungslos. Sie müssten erst lernen, körperliche Gewalt durch Wortgefechte und Rechtsstreitigkeiten zu ersetzen, erklärt er.

Als Michael erzählt, er habe am Vorabend den Hamster seiner Tochter ausgesetzt und gehe davon aus, dass das ekelhafte Tier inzwischen tot sei, nutzt Nancy, um die Integrität der Longstreets anzuzweifeln. Aber zum Abschied bedankt sie sich bei Michael und Penelope: „Wir sind wirklich gerührt, wie großzügig Sie sich verhalten, und wir wissen zu schätzen, wie Sie die Wogen zu glätten versuchen, statt die Sache zu verschärfen. So viele Eltern ergreifen doch einfach Partei für ihre Kinder und führen sich selbst auf wie Kinder. Hätte Ethan unserem Zachary die zwei Zähne ausgeschlagen, hätten Alan und ich wahrscheinlich viel emotionaler reagiert.“ Vor dem Aufzug bietet Michael den Besuchern noch Kaffee und von Penelope selbst gebackenen Apfel-Birnen-Crumple an. Sie kehren alle vier in die Wohnung zurück.

Alan, der wegen der beruflichen Hektik noch kein Mittagessen hatte, verschlingt den Crumple und hört damit auch während eines Telefongesprächs nicht auf. Sein dauerndes Telefonieren geht den anderen auf die Nerven. Die Fassade der Höflichkeit wird immer brüchiger. Sticheleien wachsen sich zu Vorwürfen und Wortgefechten aus. Aber noch versuchen alle, die Konflikte mit Beschwichtigungsfloskeln zu überdecken.

Nancy wird übel. Beflissen bringt Penelope ihr eine Dose Cola aus der Küche. Nachdem Nancy ein paar Schlucke davon getrunken hat, erbricht sie sich mit einem Schwall über dem Couchtisch und beschmutzt auch die Hose ihres Mannes. Penelope klagt hysterisch über den ruinierten Katalog einer Kokoschka-Ausstellung. Nancy verspricht, den teuren Bildband zu ersetzen, aber Penelope weist darauf hin, dass das Buch schon seit langem nirgendwo mehr zu kaufen sei. Erst nach einiger Zeit gibt Penelope zu, überreagiert zu haben, und Nancy entschuldigt sich für das peinliche Malheur.

Michaels Mutter ruft an. Als sich herausstellt, dass sie das Medikament nimmt, dessen Nebenwirkungen gerade vertuscht werden sollen, fordert der Sohn sie auf, es sofort abzusetzen und verlangt von Alan, ihr die Risiken zu erklären. Stattdessen hört Alan sich freundlich die Klagen der alten Dame an und amüsiert sich darüber, dass sie ihn für einen Arzt hält.

Als Nancy sich besser fühlt, wollen sie und ihr Mann erneut aufbrechen. Aber im Treppenhaus geraten die Paare in einen lautstarken Streit. Aus Sorge über ihr Ansehen bei den Nachbarn holen die Longstreets die Cowans zurück in die Wohnung und schließen die Türe.

Immer neue Konflikte brechen auf. Die Fronten verlaufen nicht nur zwischen den Elternpaaren, sondern mitunter auch zwischen den Männern und den Frauen. Keine der Koalitionen ist von Dauer.

Michael öffnet eine Flasche Whiskey. Unter Alkoholeinfluss fallen die letzten Hemmungen. Er sei des ganzen Ausdiskutierens, Einsicht- und Verständniszeigens überdrüssig, gesteht Michael, und er verhöhnt seine Frau, die stets bestrebt ist, sich kultiviert zu verhalten. „Wissen Sie, meine Frau verkauft mich als Gutmenschen. Aber in Wahrheit fehlt mir völlig die Geduld für diesen gefühlsduseligen Blödsinn. Ich bin ein richtig fieses, cholerisches Dreckschwein.“ In ohnmächtigem Zorn prügelt Penelope auf ihren Mann ein.

Nancy wagt es im betrunkenen Zustand, ihrem Mann das Smartphone aus der Hand zu reißen und es in eine gefüllte Blumenvase zu werfen. Da zeigt der aalglatte Zyniker erstmals Wirkung. Da drin sei sein Leben, kreischt er. Verzweifelt kauert er sich auf den Boden, während Michael sich solidarisch zeigt und versucht, das aus der Vase gefischte Gerät mit einem Föhn zu trocknen.

Als die Konflikte von Neuem hochkochen, schreit Nancy Penelope an: „Ich finde es gut, dass unser Sohn Ihrem Sohn in die Schnauze gehauen hat und ich wisch mir den Arsch mit Ihren Menschenrechten!“

Zum Schluss blicken wir erneut in den Park. Im Gras läuft ein Hamster herum. Ethan und Zachary reden miteinander. Sie scheinen sich wieder zu vertragen.

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Roman Polanski verfilmte das Theaterstück „Der Gott des Gemetzels“ („Le dieu du carnage“) der erfolgreichen französischen Dramatikerin und Schauspielerin Yasmina Reza (* 1959), das am 2. Dezember 2006 am Schauspielhaus Zürich uraufgeführt wurde (Regie: Jürgen Gosch; Besetzung: Dörte Lyssewski, Tilo Nest, Corinna Kirchhoff, Michael Maertens). Die Premiere in Frankreich fand im Januar 2008 am Théâtre Antoine in Paris statt (Regie: Yasmina Reza; Besetzung: Isabelle Huppert, André Marcon, Valerie Bonneton, Eric Elmosnino). Zwei Monate später kam das Vier-Personen-Theaterstück im Gielgud Theatre in London auf die Bühne (Regie: Matthew Warchus; Besetzung: Ralph Fiennes, Tamsin Greig, Janet McTeer, Ken Stott). Am Broadway war „Der Gott des Gemetzels“ („God of Carnage“) erstmals im Februar 2009 zu sehen (Regie: Matthew Warchus; Besetzung: Jeff Daniels, Hope Davis, James Gandolfini, Marcia Gay Harden). Die deutsche Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel erschien 2006 im Libelle-Verlag (Yasmina Reza: „Der Gott des Gemetzels“, 76 Seiten, ISBN 978-3-905707-13-7).

Das Drehbuch für die Verfilmung erarbeitete Yasmina Reza zusammen mit Roman Polanski. Sie verlegten die Handlung von Paris nach New York und ersetzten dementsprechend die französischen durch amerikanische Namen: Aus Michel, Véronique und Bruno Houillé wurden Michael, Penelope und Ethan Longstreet, aus Alain, Annette und Ferdinand Reille Alan, Nancy und Zachary Cowan. Während das Theaterstück in einem einzigen Raum spielt, blicken wir im Film zwischendurch kurz ins Treppenhaus, ins Bad und in die Küche. Außerdem wird die Filmhandlung durch zwei kleine Szenen im Freien eingerahmt: Im Vorspann beobachten wir einige Jugendliche weit hinten im Park, die schließlich ein wenig näher kommen, bis einer von ihnen einem anderen mit einem Stock ins Gesicht schlägt. Am Schluss kehren wir in den Park zurück und entdecken sowohl den von Michael ausgesetzten, totgeglaubten Hamster als auch die beiden Schüler Ethan und Zachary, die sich augenscheinlich versöhnt haben. Der Film endet also im Gegensatz zum Bühnenstück mit einem Hoffnungsschimmer. Das ist die gravierendste Abweichung. Die übrige Handlung wurde beibehalten, und die Dialoge stimmen weitgehend überein.

Dennoch gibt es noch einen Unterschied: Während wir im Theater immer die ganze Bühne vor uns haben, fokussiert die Kamera zwischendurch in Großaufnahmen auf einzelne Gesichter. Und was wir da sehen, ist eindrucksvolle Schauspielkunst. Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly verkörpern ihre Rollen überzeugend. Keiner der vier großartigen Schauspieler versucht, einen anderen an die Wand zu spielen, aber jeder von ihnen glänzt mit einer nuancenreichen Darstellung. Schon allein deshalb ist „Der Gott des Gemetzels“ sehenswert.

Aber die Gesellschaftssatire bietet außerdem ein Feuerwerk von pointierten Dialogen. In dem Kammerspiel treffen zwei Ehepaare mit besten Absichten in einem Wohnzimmer aufeinander. Die Fassade der Höflichkeit und Zivilisiertheit, des Zeigens von Einsicht und Verständnis zerbröckelt rasch. Anfangs versuchen die Erwachsenen, den durch eine Prügelei zwischen den Söhnen ausgelösten Konflikt kultiviert zu lösen, aber die Beschwichtigungsfloskeln fallen ihnen zunehmend schwer. Frustrationen und Aggressionen brechen hervor. Homo homini lupus (Titus Maccius Plautus). Am Ende liegen sich die Erwachsenen in den Haaren, während die beiden Jungen sich längst wieder vertragen. Allerdings kämpfen die Erwachsenen weniger mit Fäusten als mit Worten.

„Der Gott des Gemetzels“ erinnert an das von Mike Nichols verfilmte Kammerspiel „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ von Edward Albee. In beiden Fällen handelt es sich um ein Vier-Personen-Stück, das in Echtzeit in einem Wohnzimmer spielt. Hier wie dort trägt Alkohol dazu bei, dass bürgerliche Fassaden einstürzen. Aber in dem erschütternden Drama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ zerfleischt sich ein älteres Akademikerpaar im Beisein schockierter Gäste, in der unterhaltsam Komödie „Der Gott des Gemetzels“ wechseln dagegen ständig die Fronten und Koalitionen.

„Der Gott des Gemetzels“ ist nicht besonders tiefschürfend. Einige Entwicklungen sind schlichtweg unrealistisch. Dennoch stimmt die innere Logik, und die Gruppendynamik funktioniert wie ein gut geöltes Räderwerk. Das Ganze ist straff und witzig inszeniert.

Obwohl Roman Polanski und Yasmina Reza die Handlung von Paris nach New York verlegt haben, wurde „Der Gott des Gemetzels“ in Paris gedreht, weil in den USA wegen des sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen im Jahr 1977 noch immer ein Haftbefehl gegen Roman Polanski vorliegt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011

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