Die Stadt der Blinden

Die Stadt der Blinden
Die Stadt der Blinden – Originaltitel: Blindness – Regie: Fernando Meirelles – Drehbuch: Don McKellar, nach dem Roman "Die Stadt der Blinden" von José Saramago – Kamera: César Charlone – Schnitt: Daniel Rezende – Musik: Marco Antônio Guimarães alias Uakti – Darsteller: Julianne Moore, Mark Ruffalo, Alice Braga, Yusuke Iseya, Yoshino Kimura, Don McKellar, Maury Chaykin, Mitchell Nye, Danny Glover, Gael García Bernal u.a. – 2008; 120 Minuten

Inhaltsangabe

Plötzlich erblinden viele Bewohner einer Stadt. Die Regierung geht von einer Epidemie aus, lässt die Erblindeten in eine notdürfig eingerichtete Quarantänestation bringen und dort vom Militär bewachen. Die Soldaten stellen Kisten mit Essensrationen in den Hof. Ansonsten bleiben die Internierten sich selbst überlassen. Unter ihnen ist eine Frau, die ihrem Mann aus Liebe folgte, obwohl sie noch sehen kann. Während sie den Blinden hilft, schwingt ein Mann sich zum Despoten auf ...
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Kritik

Auch wenn die Adaptation von Fernando Meirelles dem Roman "Die Stadt der Blinden" von José Saramago nicht ganz gerecht wird, handelt es sich doch um einen sehenswerten, spannenden und eindrucksvollen Film.
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In einer Stadt – wir erfahren nicht, in welcher – erblindet plötzlich ein Autofahrer (Yûsuke Iseya), während er an einer Verkehrsampel auf Grün wartet. Er empfindet seine Blindheit allerdings nicht als lichtlos, schwarz, sondern als grelles Weiß. Ein Passant (Don McKellar) erklärt sich bereit, den Mann nach Hause zu fahren. Nachdem er ihn in die Wohnung geführt hat, nimmt er die Autoschlüssel mit und stiehlt den Wagen.

Als die Frau des Blinden (Yoshino Kimura) nach Hause kommt, wundert sie sich darüber, dass ihre Lieblingsvase zerbrochen ist und ihr Mann nicht einmal die Scherben zusammengekehrt hat, sondern auf der Couch liegt. Er sei jäh erblindet, sagt er. Aufgeregt fährt sie mit ihm zu einem Augenarzt (Mark Ruffalo). Der findet keine Ursache für die seltsame Sehstörung und überweist den Patienten deshalb ins Krankenhaus.

Am nächsten Morgen sieht auch der Augenarzt nur noch weiß. Er befürchtet, von dem Patienten angesteckt worden zu sein. Ein Junge (Mitchell Nye) und ein Mann mit einer Augenklappe (Danny Glover), die im Warteraum des Augenarztes saßen, erblinden. Ebenso ergeht es einer jungen Prostituierten, die auf Anweisung des Augenarztes eine Sonnenbrille trägt (Alice Braga): Während des Geschlechtsverkehrs mit ihrem Freier in einem Hotelzimmer springt sie unvermittelt auf und rennt verstört in die Hotelhalle, ohne darauf zu achten, dass sie splitternackt ist.

Die autoritäre Regierung geht von einer Epidemie aus und ordnet an, dass die Blinden von Männern in weißen Schutzanzügen und mit Gasmasken in eine behelfsmäßig als Quarantänestation eingerichtete ehemalige Irrenanstalt gebracht werden. Militärs bewachen die Internierten und erschießen jeden, der sich der Umzäunung nähert, nicht nur wegen des entsprechenden Befehls, sondern auch als Angst vor einer Infektion. Die Leichen müssen von den Eingesperrten selbst begraben werden.

Man schließt die Praxis des Augenarztes von Amts wegen und holt ihn ab. Seine Frau (Julianne Moore), deren Sehkraft nicht beeinträchtigt ist, klettert mit in den Krankenwagen. Ein Sanitäter in Schutzkleidung will sie darin hindern, aber sie behauptet, ebenfalls erblindet zu sein. Aus Liebe folgt sie ihrem Mann in die Quarantänestation. Dort ist sie die einzige Sehende. Sie tut, was in ihren Kräften steht und versucht gleichzeitig zu verheimlichen, dass sie anders ist als die anderen.

Möglicherweise aufgrund plötzlicher Erblindung kommt es zu einem schweren Busunfall, und zwei Flugzeuge stürzen ab. Nach zahlreichen Verkehrsunfällen wagt sich kaum noch jemand auf die Straße.

Immer mehr Menschen werden in die drei Stationen der Quarantänestation eingeliefert. Die Soldaten stellen Kisten mit Essensrationen in den Hof. Ansonsten bleiben die Internierten sich selbst überlassen. Es gibt weder frische Wäsche noch medizinische Versorgung. Anrufe auf dem Notfalltelefon werden nicht beantwortet. Der Boden der Toiletten ist mit Fäkalien verschmiert.

Weil die Verantwortlichen den Überblick verloren haben, liefern sie nur einen Teil der benötigten Essensrationen. Während der blinde Augenarzt in Station 1 versucht, die Rationen gerecht aufzuteilen und trotz der katastrophalen Zustände mit vernünftigen Überlegungen ein Minimum an demokratischer Ordnung aufrechtzuerhalten, ruft sich in Station 3 ein Barkeeper (Gael García Bernal) zum „König“ aus. Er und seine Leute bringen die Lieferungen unter ihre Kontrolle. Wenn die anderen beiden Stationen etwas davon bekommen wollen, müssen sie erst einmal alles abgeben, was sie an Wertsachen haben. Dafür gibt ihnen der „König“ allerdings nur halb so viele Essensrationen, wie sie vorher bekamen. In den Stationen 1 und 2 hungern die Menschen. Als sie keine Wertsachen mehr haben, verlangen die Männer von Station 3, dass die Frauen von Station 1 zu ihnen kommen. Die Frau des Augenarztes führt sie an. Der „König“ und seine Männer fallen über sie her. Eine von ihnen stirbt dabei.

Während danach die Frauen der zweiten Station vergewaltigt werden, ersticht die Frau des Augenarztes den Anführer der Station 3 mit einer Schere. Ein Mann, der seit seiner Geburt blind ist, schießt mit einem Revolver auf sie, trifft sie jedoch nicht. Sie droht damit, jeden Tag einen weiteren Mann von Station 3 zu töten, falls die anderen beiden Stationen nicht ausreichend mit Essen versorgt werden.

Feuer bricht aus. Die Frau des Augenarztes bringt die Blinden in den Hof. Da zeigt sich, dass die Bewacher verschwunden sind.

Die Internierten brechen aus. Eine kleine Gruppe folgt dem Augenarzt und seiner Frau in die verwüstete Stadt. Hunde fressen von den in den Straßen liegenden Leichen. Im Keller eines geplünderten Supermarkts findet die Frau des Augenarztes Lebensmittel. Sie packt so viel wie möglich in zwei Tragetaschen. Auf dem Weg zum Ausgang hören halb verhungerte, nicht zur Gruppe gehörende Blinde die Tüten rascheln und versuchen, der Frau die Beute abzunehmen.

Der Arzt und seine Frau nehmen die Gruppe mit in ihre Villa. Dort können die Männer und Frauen endlich ihre schmutzige Kleidung ausziehen und duschen. Dann tischt die Hausherrin Essen auf.

Am anderen Morgen, als die Frau des Arztes Kaffee eingießt, beginnt der Mann, der als Erster in der Stadt erblindete, wieder zu sehen. Die anderen freuen sich darüber – nicht ganz selbstlos: Sie hoffen auf ein Ende der weißen Blindheit. Die Frau des Augenarztes dagegen wird still: Nachdem sie bisher als Einzige verschont blieb, befürchtet sie, nun zu erblinden.

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„Die Stadt der Blinden“ veranschaulicht, wie dünn die Schicht von Kultur und Zivilisation ist. Leicht kann sie zerbrechen. Menschen werden dann zu Barbaren und folgen einem Anführer, der an ihre niedersten Instinkte appelliert. Wenn die Gesellschaft im Chaos versinkt, bleiben nur wenige Menschen human.

Lange Zeit sträubte sich der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago gegen eine Verfilmung seines Romans „Die Stadt der Blinden“. Am Ende gab er dem Drehbuchautor Don McKellar und dem Produzenten Niv Fichman seine Zustimmung.

Don McKellar und Fernando Meirelles (Regie) hielten sich bei der Verfilmung der apokalyptischen Parabel eng an die literarische Vorlage. Allerdings evoziert der Film „Die Stadt der Blinden“ nicht die Schrecklichkeit der Geschichte. Es heißt zwar, dass die Internierten sich weder waschen können noch Kleidung zum Wechseln haben, aber so richtig dreckig sehen sie nicht aus. Wir erfahren zwar, dass die Internierten Hunger haben und die in der Stadt herumirrenden Blinden halb verhungert sind, können es aber kaum nachvollziehen. Eine Ursache dafür ist, dass wir im Film – anders als im Buch – nicht den Eindruck haben, dass die schlimmen Verhältnisse lang andauern. Dazu kommt, dass der Film trotz der düsteren, verstörenden Geschichte hell wirkt, weil Fernando Meirelles die Blindheit durch Weiß, überbelichtete Schemen und gleißende Überblendungen andeutet.

Und so sehen wir statt einer Schreckensvision, die im Buch unmittelbar spürbar ist, nur das Lehrstück, das Saramago natürlich auch geschrieben hat: über die Kraft der Menschlichkeit, gerade dann wieder zum Vorschein zu kommen, wenn den Menschen alles andere genommen ist. Das passiert jedenfalls in der guten Gruppe von Blinden. In der bösen Gruppe geschieht das Gegenteil.
[…] irgendwie wird man den Eindruck nicht los, an den Rand des Zeigbaren, an den er hätte gehen müssen, wenn er Saramago wirklich gefolgt wäre, hat sich Meirelles nicht gewagt. Er hat zum Beispiel keine Welt der Geräusche erzeugt, sondern jeden Ansatz dazu mit Musik betröpfelt. Und er hat alles, was geschieht, uns sehr weit vom Leib gehalten. (Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Mai 2008)

Im Kino wirken Parabeln […] oft leblos, vielleicht weil das von Personen lebt und nicht von Stellvertretern, von der Fülle der Details und nicht vom Minimalismus der Allgemeingültigkeit. Meirelles hat die Geschichte dann auch noch so beschleunigt, dass sie vieles verschleudert, die Bedeutung des Hungers beispielsweise […] Und in manchen Momenten hat man den Eindruck, dass der Film selbst die Fühllosigkeit an den Tag legt, die er geißelt. (Susan Vahabzadeh, Süddeutsche Zeitung, 25. Mai 2008)

Auch wenn die Adaptation dem Roman „Die Stadt der Blinden“ nicht ganz gerecht wird, handelt es sich doch um einen sehenswerten, spannenden und eindrucksvollen Film.

Die Dreharbeiten für „Die Stadt der Blinden“ fanden in Kanada (Toronto, Guelph), Uruguay (Montevideo) und Brasilien (São Paulo) statt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011

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