Jean-Patrick Manchette : Nada

Nada
Originalausgabe: Nada Éditions Gallimard, Paris 1972 Übersetzung: Stefan Linster Distel Literaturverlag, Heilbronn 2002 Süddeutsche Zeitung / Kriminalbibliothek Band 23, München 2006, 142 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Vier Männer und eine Frau, die sich zu einer Anarchistengruppe mit dem Namen "Nada" zusammengeschlossen haben, entführen den Botschafter der USA in Frankreich aus einem Luxusbordell, um Aufmerksamkeit für ihr Manifest zur Weltverbesserung zu erzwingen und Lösegeld zu erpressen. Schon bald ist ihnen die Polizei auf der Spur ...
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Kritik

Kalt und sachlich schildert Jean-Patrick Manchette in "Nada" das Geschehen. Dabei beschränkt er sich auf das Wesentliche und hält auch die Dialoge kurz. Mit dieser reduzierten Form begründete er den néo polar.
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André Épaulard kam in den Zwanzigerjahren auf den Antillen zur Welt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war er bereits Waise. Er schlug sich nach Südamerika durch und verdiente mit Haifischlebertran ein Vermögen. Dann schloss er sich in Frankreich der Résistance an. Nach dem Krieg wurde er Auftragskiller, und in den Fünfzigerjahren machte er unter dem Decknamen Thomas bei einer anarchistischen Gruppe mit. Von 1962 bis 1965 lebte er in Algier; nach dem Sturz des algerischen Ministerpräsidenten Ben Bella trieb er sich in Guinea, auf Kuba und in Südamerika herum. Kürzlich kehrte der inzwischen Fünfzigjährige nach Paris zurück, wo ihn sein katalanischer Freund Buenaventura Diaz überredet, bei der geplanten Entführung des US-Botschafters in Frankreich mitzumachen.

Die anderen Mitglieder der anarchischen Terroristenbande „Nada“ sind halb so alt wie Épaulard: Neben Buenaventura Diaz sind es der alkoholkranke Benoît D’Arcy, der Kellner Nathan Meyer, die Prostituierte Veroniqué Cash und der frustrierte Philosophielehrer Marcel Treuffais, der gerade einen Schüler niederschlug, welcher glaubte, sich als Sohn reicher Eltern alles erlauben zu können, danach den Schuldirektor Joseph Lamour beleidigte und die Lehranstalt verließ.

Als Erstes schleichen sich Buenaventura, Épaulard und Treuffais in ein Institut zur Tuberkulose-Früherkennung ein, in dem gerade Polizisten untersucht werden und rauben Schusswaffen aus den Umkleidekabinen.

Treuffais steigt unmittelbar vor dem Anschlag aus. Épaulard hält das für ein Sicherheitsrisiko, aber Buenaventura verbürgt sich für die Verschwiegenheit seines Freundes.

Weil Botschafter Richard Poindexter rund um die Uhr von amerikanischen Sicherheitskräften bewacht wird, beschließen die Mitglieder der Gruppe „Nada“, ihn bei einem seiner wöchentlichen Besuche im Edelbordell „Club Zéro“ von Madame Gabrielle zu entführen. Während sie ihn im Zimmer einer Prostituierten überwältigen, schöpft ein im Wagen vor dem Etablissement wartender Leibwächter Verdacht. Es kommt zu einem Schusswechsel. Dadurch werden die beiden Polizisten einer Motorradstreife auf den Vorfall aufmerksam. D’Arcy überfährt den Chauffeur des Botschafters mit dem Fluchtauto, erschießt einen der beiden Streifenbeamten und verletzt den anderen schwer.

Die Terroristen bringen den Diplomaten in ein Parkhaus, betäuben ihn und zerren ihn in den Kofferraum eines bereitstehenden Wagens, mit dem sie in den sechzig Kilometer außerhalb von Paris liegenden Ort Couzy fahren, wo Véronique Cash auf den umgebauten Bauernhof eines Freiers aufpassen soll, der den Winter in den USA verbringt.

Trotz der inzwischen überall errichteten Straßensperren kehrt Épaulard noch in der Nacht mit Véronique nach Paris zurück und wirft an Presseagenturen und Tageszeitungen adressierte Kopien des Manifests der Gruppe „Nada“ in einen Briefkasten.

Kommissar Goémond wird vom Büro des Innenministers beauftragt, die Ermittlungen zu leiten.

Es melden sich zwei Mitarbeiter des Inlandsnachrichtendienstes der Polizei (Renseignements Généraux, RG). Sie wollen von einem in den Auslandsaufklärungs- und Spionageabwehrdienst (Service de Documentation Extérieur et de Contre-Espionnage, SDECE) eingeschleusten Agenten erfahren haben, dass ein inoffizieller SDECE-Agent die Entführung des amerikanischen Botschafters filmte. Bei dem Mann, dessen Namen sie nicht kennen, soll es sich um einen Doppelagenten handeln, der im Auftrag von Joseph Grabeliau – einem bei einer Säuberungsaktion vor einigen Jahren entlassenen und inzwischen inhaftierten Mitglied des „Dienstes zur staatsbürgerlichen Verstärkung“ (Service d’Accentuation Civique, SAC) und der „Mondialistischen Druidenbruderschaft des Vexin“ – kompromittierendes Filmmaterial über im „Club Zéro“ verkehrende Politiker herstellen sollte.

Am nächsten Tag wird Joseph Grabeliau aus der Haft entlassen, angeblich wegen seines schlechten Gesundheitszustands, und während er sich sofort nach Madrid absetzt, stellt die Polizei in der Wohnung von Jean-Pierre oder Jean-Paul Bouboune die Filme über die Entführung des Botschafters sicher.

Die Aufnahmen und Zeugenaussagen bringen Goémond rasch auf die Spur von Buenaventura Diaz, André Épaulard und Marcel Treuffais.

Der Kommissar versucht es zuerst bei dem arbeitslosen Philosophielehrer. Mit mehreren Begleitern klingelt er bei Treuffais, und als dieser die Tür einen Spalt öffnet, tritt Goémond sie auf und schlägt den Verdächtigen nieder. Während er ihn von seinen Kollegen weiter treten und verprügeln lässt, will er wissen, wo der Botschafter gefangen gehalten wird, aber Treuffais verrät nichts.

Nur Treuffais Adressbuch hilft Goémond weiter. Als zwei Polizeibeamte gegen die Tür von Nathan Meyer hämmern, befürchtet dessen geistesgestörte Ehefrau Annie, sie solle wieder in die Irrenanstalt gebracht werden und versucht, sich mit einem Messer die Kehle durchzuschneiden. Nachdem die Polizisten die Tür aufgebrochen haben, bringen sie die blutüberströmte Frau ins Krankenhaus, wo sie gerettet wird.

Eine weitere Spur führt zu Veroniqué Cash in Couzy. Goémond ahnt sofort, dass sich dort auch der Botschafter befindet.

Buenaventura kauft gerade Batterien fürs Radiogerät, da sieht er Mannschaftswagen der Polizei vorbeirasen. Er folgt ihnen. Seine Befürchtung bestätigt sich: Sie fahren zum Gehöft! Statt zu fliehen, versucht er es von einer anderen Seite her vor den Polizisten zu erreichen. Nachdem er sich mit dem Wagen festgefahren hat, rennt er laut schreiend weiter, um die anderen zu warnen.

„Eröffnen Sie das Feuer auf ihn“, befahl Goémond.
„Aber Kommissar“, wandte der Offizier ein …
„Schießen Sie auf ihn, Herrgott noch mal!“
Der Offizier verzog das Gesicht und drehte sich zu seinen Gendarmen um […]
„Estève!“, schrie er. „Eröffnen Sie das Feuer auf diesen Typen, der da hinten rumrennt!“
Der Gendarm Estève, Scharfschütze, setzte ein Knie auf den Boden, brachte seinen Karabiner in die richtige Position. Buenaventura setzte gerade zum Endspur auf den Hof an.
„Zielen Sie auf die Beine!“, schrie der Gendarmerieoffizier.
„Zielen Sie egal wohin!“, brüllte Goémond.
Recht verwirrt, schoss der Gendarm ziemlich aufs Geratewohl. Buenaventura wirbelte einmal herum, ruderte mit den Armen durch die Luft, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, dann fiel er auf den Rücken. Er rappelte sich augenblicklich wieder hoch und hechtete mit dem Kopf voran gegen die Tür des Gehöfts. Der Flügel sprang auf, der Katalane fiel bäuchlings ins Innere, zog wie von Sinnen seine Beine unter sich heran und knallte die Tür mit einem Tritt des Absatzes zu. (Seite 105f)

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Die Kugel durchschlug Buenaventuras linken Bizeps. Als er begreift, dass Goémond nicht zu Verhandlungen bereit ist, sondern es darauf abgesehen hat, sie alle ohne Rücksicht auf das Leben der Geisel zu liquidieren, erschießt er den Botschafter. Die Terroristen wehren sich mit ihren Waffen, aber gegen die Übermacht der Polizei haben sie keine Chance. Unvermittelt steht Goémond vor Veroniqué. Sie reißt die Hände über den Kopf und ergibt sich, aber er feuert auf ihre Brust und tötet sie. In der Küche trifft er auf Épaulard, der am Boden liegt und darum bittet, nicht angefasst zu werden, weil wahrscheinlich seine Wirbelsäule gebrochen ist. Goémond dreht ihn mit einem Ruck um und stellt dann befriedigt fest, dass kein Puls mehr zu fühlen ist. Buenaventura flüchtet über das Dach zur Garage, wo D’Arcy am Steuer eines Autos sitzt und Rotwein aus einer Flasche trinkt. Die beiden beschließen, mitten in das Sperrfeuer hineinzufahren, um sich einen heldenhaften Abgang zu verschaffen. Die Polizisten zerschießen die Reifen und treffen D’Arcy tödlich. Der Wagen stürzt mit den Insassen in eine Schlucht. Buenaventura wird hinausgeschleudert und überlebt so die Explosion des Benzintanks. Er entkommt und nistet sich in einem leer stehenden Ferienhaus ein.

Weil sich die an dem Einsatz beteiligten Polizisten über Goémonds brutales Vorgehen beschweren, wird er vom Dienst suspendiert. Der Kommissar kommt sich wie ein Sündenbock vor, denn der Büroleiter im Innenministerium hatte die Liquidierung der Terroristen gebilligt.

In seiner Wut handelt Goémond nun auf eigene Faust, lässt Treuffais von Kollegen in dessen Wohnung bringen und dort an die Heizung ketten: Er hofft darauf, dass der flüchtige Terrorist auftaucht und will auf ihn warten.

Buenaventura erfährt aus dem Fernsehen, was geschehen ist, erkennt jedoch die Falle und seilt sich vom Dach des Hauses, in dem Treuffais wohnt, zu dessen Balkon ab. Dann tritt er die Glastür ein und überrascht Goémond. Buenaventura feuert ein abgesägtes Gewehr leer, aber der Polizist trägt eine kugelsichere Weste und wird nicht ernsthaft verletzt. Während Bueanaventura eine automatische Pistole zieht, trifft Goémond ihn in den Ellbogen und in die Lunge. Die Pistole des Terroristen fällt auf den Teppich. Der Kommissar triumphiert. Doch der Sterbende zieht noch eine abgesägte Doppelflinte aus dem Mantel und schießt Goémond ins Gesicht. Aus der kurzen Distanz wirkt das Schrot wie ein einziges Geschoss und zerfetzt den Kopf des Kommissars.

Treuffais kann sich befreien. Während er den Lärm der anrückenden Mannschaftswagen der Polizei hört, telefoniert er mit einer ausländischen Presseagentur und berichtet, was geschehen ist.

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„Nada“ (spanisch: nichts) nennt sich eine (fiktive) Gruppe anarchistischer Terroristen zu Beginn der Siebzigerjahre in Paris. Enttäuscht von der Bewegung, die durch die Studentenunruhen im Mai 1968 ausgelöst wurde, führt „Nada“ einen aberwitzigen Anschlag auf den Botschafter der USA durch. Über die Motive der einzelnen Mitglieder erfahren wir kaum etwas. Mit keiner der Figuren mag die Leserin oder der Leser sich identifizieren. Sachlich und scheinbar völlig unbeteiligt schildert Jean-Patrick Manchette das Geschehen. Dabei beschränkt er sich auf das Wesentliche, verzichtet auf jede Ausschmückung und hält auch die Dialoge kurz. Durch die Handlung mit ihren äußerst brutalen Passagen schimmert immer wieder eine düstere, sarkastische Komik. Mit dieser reduzierten Form begründete Jean-Patrick Manchette den néo polar, ein nüchternes, sozialkritisches Kriminalroman-Genre in der Tradition der hard boiled Romane von Raymond Chandler und Dashiell Hammett.

Der Roman „Nada“ von Jean-Patrick Manchette wurde 1974 von Claude Chabrol verfilmt: „Nada“.

Originaltitel: Nada – Regie: Claude Chabrol – Drehbuch: Claude Chabrol und Antonietta Malzieri, nach dem Roman „Nada“ von Jean-Patrick Manchette – Kamera: Jean Rabier – Schnitt: Jacques Gaillard – Musik: Pierre Jansen – Darsteller: Fabio Testi, Lou Castel, Mariangela Melato, Michel Aumont, Michel Duchaussoy, Maurice Garrel, Didier Kaminka, André Falcon, François Perrot, Viviane Romance, Lyle Joyce u. a. – 1974

Jean-Patrick Manchette (19. Juli 1942 – 3. Juni 1995) engagierte sich in den Sechzigerjahren gegen den Algerienkrieg. 1966 schrieb er sein erstes Drehbuch; dann veröffentlichte er drei Jugendbücher, bevor er 1971 mit Kriminalromanen anfing. Parallel dazu arbeitete er als Übersetzer; er verfasste Essays, textete Comics und editierte eine Science-Fiction-Reihe. Jean-Patrick Manchette starb 1995 an Lungenkrebs.

In den Siebzigerjahren hatte er sich mit Titeln wie „Blutprinzessin“, „Die Affäre N’Gustro“, „Fatal“, „Knüppeldick“, „Position: Anschlag liegend“, „Tödliche Luftschlösser“, „Volles Leichenhaus“, „Westküstenblues“ und „Nada“ zu einem führenden Vertreter des néo polar entwickelt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Distel Literaturverlag

Siegfried Lenz - Das Feuerschiff
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Das Feuerschiff