Die Blumen von gestern

Die Blumen von gestern

Die Blumen von gestern

Originaltitel: Die Blumen von gestern – Regie: Chris Kraus – Drehbuch: Chris Kraus – Kamera: Sonja Rom – Schnitt: Brigitta Tauchner – Musik: Annette Focks – Darsteller: Lars Eidinger, Adèle Haenel, Jan Josef Liefers, Hannah Herzsprung, Sigrid Marquardt, Bibiana Zeller, Rolf Hoppe u.a. – 2016; 125 Minuten

Inhaltsangabe

Weil sich der neurotische Holocaust-Forscher Toto Blumen nicht im Griff hat, muss er die Federführung bei der Vorbereitung eines Auschwitz-Kongresses an Balti Thomas angeben. Zugleich erhält er die Aufgabe, die mit Balti liierte Praktikantin Zazie beruflich zu betreuen. Deren jüdische Großmutter ging mit Totos Großvater in Riga zur Schule. Später ließ der SS-General sie und andere Juden ermorden ...
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Kritik

Chris Kraus hat über das Thema NS-Verbrechen eine flotte Komödie ge­dreht, in der Gegensätze wie Holo­caust und Slapstick aufeinander krachen. Mit diesem Ansatz parodiert er die gängige Aus­einander­setzung mit dem Thema, banalisiert es aber auch.
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Toto und Hannah

Der 40 Jahre alte Holocaust-Forscher Totila („Toto“) Blumen (Lars Eidinger) arbeitet in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Er ist der Enkel eines SS-Generals, der für die Ermordung der Juden in Riga verantwortlich war. Seit Toto darüber das Buch „10 000 Morde“ schrieb, wird er von der Familie ausgegrenzt.

Verheiratet ist Toto mit der Tierärztin Hannah Blumen (Hannah Herzsprung), die ihm vorwirft, statt in der Gegenwart in der Vergangenheit zu leben. Weil er seit langer Zeit impotent ist, hat das Paar das dunkelhäutige Mädchen Sarah (Djenabu Jalloh) adoptiert. Mit ausdrücklichem Einverständnis ihres Ehemanns verbringt Hannah regelmäßig eine Nacht mit einem jeweils im Internet ausgesuchten Sexualpartner.

Toto und Balti

Weil Toto sich nicht im Griff hat, entzieht ihm Prof. Manfred Norkus (Rolf Hoppe), der greise Institutsleiter, die Federführung bei der Vorbereitung eines internationalen Auschwitz-Kongresses und überträgt sie dem eitlen Balthasar („Balti“) Thomas (Jan Josef Liefers). In blindem Zorn stürzt sich Toto auf den Rivalen, rauft mit ihm und schlägt ihm einen Zahn aus. Professor Norkus regt sich darüber so auf, dass er einem Herzinfarkt erliegt.

Toto und Zazie

Die Französin Zazie Lindeau (Adèle Haenel), deren jüdische Großmutter von den Nationalsozialisten in einem Gaswagen ermordet wurde, soll als Praktikantin bei der Vorbereitung des Kongresses helfen. Sie ist zwar Baltis heimliche Geliebte, wird jedoch beruflich Toto zugeordnet, der ihre Intelligenz zunächst wegen ihres unberechenbaren Verhaltens unterschätzt.

Als Toto entdeckt, dass Zazie in einem Buch eine Seite mit einem Foto seines Großvaters eingemerkt hat, stellt er sie zur Rede und erfährt, dass ihre Großmutter und sein Großvater nicht nur dieselbe Schule in Riga besuchten, sondern sogar in derselben Klasse saßen. Das hielt ihn später nicht davon ab, seine jüdischen Mitschülerinnen und Mitschüler ermorden zu lassen.

Gemeinsam fahren sie zu Tara Rubinstein (Sigrid Marquardt), einer Schauspielerin und Holocaust-Überlebenden, die Manfred Norkus als Schirmherrin des Auschwitz-Kongresses gewonnen hatte. Weil er tot ist, fühlt sie sich nicht mehr an ihre Zusage gebunden. Nach langem Sträuben erklärt sie sich bereit, wenigstens einen Vortrag zu halten – allerdings nur gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden Kasimir Zweiselstein aus Wien.

Toto und Zazie fliegen also nach Wien. Aber Kasimir Zweiselsteins Leiche wird gerade aus dem Haus getragen. Statt mit der nächsten Maschine nach Stuttgart zurückzukehren, überredet Zazie ihren Begleiter, die Stadt anzuschauen. Als sie ihn küssen möchte, erschrickt er.

„Ich habe Aids.“
„Ich hab auch Aids.“
„Echt? Ich hab nämlich überhaupt kein Aids.“
„Ich habe auch kein Aids.“

Am nächsten Morgen findet Toto die Französin mit aufgeschnittenen Pulsadern in der Badewanne. Im Krankenhaus kommt sie wieder zu sich und eröffnet ihm, dass es ihr fünfter oder sechster Selbstmordversuch war.

Die beiden fliegen von Wien nach Riga, wo sie nicht nur die von ihren Großeltern besuchte Schule besichtigten, sondern auch die Gedenkstätte im Wald von Biķernieki. An diesem Abend legt sich Zazie nackt zu Toto ins Bett, und er schläft ohne Erektionsstörung mit ihr.

Zurück in Ludwigsburg platzt Zazie in eine Besprechung mit Tara Rubinstein. Um sie doch noch für einen Auftritt beim geplanten Auschwitz-Kongress zu gewinnen, erhöht Herr Mauersperger (Hans-Jochen Wagner), der joviale Vertreter des Sponsors Mercedes Benz, das finanzielle Angebot und verdoppelt es dann noch für den Fall, dass die Jüdin bereit wäre, einen Mercedes-Stern zu tragen. Weil Balti den Konferenzraum in der schwierigen Situation nicht verlassen möchte, spricht Zazie ihre Kündigung vor allen Anwesenden aus und beendet zugleich die Affäre mit ihm.

Toto packt seine Sachen und verlässt Hannah. Er ist glücklich und freut sich auf den Neuanfang mit Zazie.


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Spoiler

Balti findet sich damit nicht ab. Er besucht Totos altersdemente Mutter Lisbeth Blumen (Bibiana Zeller) und findet heraus, dass sie einen weiteren Sohn hat. Der Neonazi Sieghart Blumen (Gerdy Zint) verbüßt in Stuttgart-Stammheim eine Haftstrafe. Dorthin bringt Balti die von einer gemeinsamen Zukunft mit Toto träumende Ex-Geliebte. Im Besucherraum berichtet Sieghart Blumen, dass sein Bruder ebenfalls antisemitisch und rechtsradikal war.

Von Zazie zur Rede gestellt, gibt Toto alles zu, weist jedoch auf die Einflüsse in seiner Familie hin, denen er ausgesetzt war, und beteuert, er habe seine Einstellung als 17-Jähriger von Grund auf geändert. Dennoch trennt Zazie sich auf der Stelle von ihm.

Einige Jahre später begegnen sich Toto und Zazie zufällig bei Weihnachtseinkäufen in New York. Toto hat seine Adoptivtochter Sarah bei sich, und Zazie ihr dreijähriges Kind. Mit Hannah habe er sich versöhnt, sagt Toto. Inzwischen ist er an einem Research Center angestellt und befasst sich mit Studien über Völkermorde auf dem amerikanischen Kontinent. Seine Frage, ob Zazie einen Ehemann oder Lebensgefährten habe, bleibt unbeantwortet. Nach ein paar verlegenen Höflichkeits­floskeln verabschieden sie sich voneinander.

Toto glaubt, den Namen Maurice gehört zu haben und nimmt an, dass es sich bei Zazies Kind um einen Jungen handelt, aber Sarah ist überzeugt, dass es ein Mädchen mit dem Namen Kalinea ist. An diesen Namen erinnert sich Toto: Am Morgen nach der gemeinsamen Nacht waren er und Zazie überzeugt, ein Kind gezeugt zu haben, eine Tochter, der sie den Namen Kalinea geben wollten. Sobald Toto die Zusammenhänge begreift, schickt er sich an, Zazie und dem Kind nachzulaufen.

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Der Regisseur und Drehbuchautor Chris Kraus (*1963) ist der Enkel eines baltisch-stämmigen SS-Offiziers. Seit er herausfand, dass der Großvater und dessen Brüder an NS-Verbrechen beteiligt waren, hat ihn das Thema umgetrieben. Als er bei seinen Recherchen in Archiven Enkeln von Holocaust-Opfern begegnete, entstand die Grundidee zu dem Film „Die Blumen von gestern“.

Das Ergebnis der Realisierung ist eine flotte Komödie mit Klamauk- und Slapstick-Elementen, eine Farce, in der Gegensätze wie Holocaust und Komik, Ernst und Humor aufeinander krachen. Das sorgt für widersprüchliche Kritiken:

Das ist zuerst einmal ungeheuer komisch. Kraus Dialoge sind von fast schon Woody Allen’scher Brillanz und Schnelligkeit. In ihnen bilden sich die verzweifelten Suchbewegungen der Figuren ab. Gerade die verbalen Entgleisungen des übereinander stolpernden Noch-Nicht-Liebespaares bringen die Dinge oftmals auf den Punkt. Dann wieder schafft der Film Raum, in dem die Figuren in ihrer unbeholfenen Verletzlichkeit zutiefst berühren. (Martin Schwickert: Entsetzlich komisch, „Die Zeit“, 13. Januar 2017)

Man merkt „Die Blumen von gestern“ an, dass er gern auf eine so witzige Weise neurotisch-verzweifelt wäre wie die klassischen Filme von Woody Allen. Nur fehlt es ihm dazu an handwerklichen Fähigkeiten. Die Dramaturgie des Films besteht aus dem öden, in Deutschland aber nicht unbeliebten „Komm her – geh weg“-Prinzip, sie tritt permanent auf der Stelle. Entweder ist Zazie sauer oder der ewig schlecht gelaunte Toto. (Matthias Dell: Vögeln, fluchen, verdrängen, „Der Spiegel“, 12. Januar 2017)

Während eine Reihe von Kritikern meint, dass man das Thema Holocaust nur mit dem nötigen Ernst angehen dürfe, begrüßen andere den ungewohnten Ansatz, der die Auseinandersetzung mit dem Thema neu beleben könnte. Das gilt zum Beispiel auch für „Der große Diktator“, „Das Leben ist schön“, „Zug des Lebens“ und „Mein Führer“, aber diese Komödien sind entlarvend und subversiv. Das lässt sich von „Die Blumen von gestern“ nicht sagen, und deshalb könnte man Chris Kraus eine Banalisierung des Themas vorwerfen. Immerhin parodiert er die gängige Art der Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen.

Die Dreharbeiten für „Die Blumen von gestern“ fanden von April bis Juni 2015 in Stuttgart, Berlin, Wien und Riga statt. Die in New York spielenden Szenen entstanden in Berlin. Weil die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg eine Drehgenehmigung verweigerte, dienten die ehemalige Außenstelle des Amtsgerichts Tiergarten und das benachbarte ehemalige Frauengefängnis in Berlin als Kulissen. Das Archiv der Zentralen Stelle wurde in einem Studio in Berlin-Zehlendorf nachgebaut.

Der Film „Die Blumen von gestern“ wurde am 25. Oktober 2016 bei der Eröffnung der 50. Internationalen Hofer Filmtage erstmals vorgeführt.

Die Burgschauspielerin Sigrid Marquardt erlebte die Uraufführung von „Die Blumen von gestern“ nicht mehr. Sie war am 30. August 2016 im Alter von 91 Jahren gestorben.

In acht Kategorien wurde „Die Blumen von gestern“ für den Deutschen Filmpreis nominiert, ging jedoch bei der Verleihung am 28. April 2017 leer aus. Allerdings erhielt der Film eine ganze Reihe anderer Auszeichnungen.

Das von Chris Kraus verfasste Filmbuch „Die Blumen von gestern“ erschien im Diogenes Verlag (Zürich 2016, 192 Seiten, ISBN 978-3-257-30049-9).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017

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