Michel Houellebecq : Elementarteilchen

Elementarteilchen
Originalausgabe: Les particulaires élémentaires, 1998 Elementarteilchen Übersetzung: Uli Wittmann DuMont Verlag, Köln 1999 ISBN 3-7701-4879-7, 356 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die beiden Halbbrüder Bruno und Michel wuchsen ohne ihre Mutter auf, die sich in Kalifornien selbst verwirklichen wollte. Während der introvertierte Michel sich nichts aus Sex macht und als Molekularbiologe eine Formel findet, mit der sich geschlechtslose Übermenschen klonen lassen, läuft der unglücklich verheiratete Lehrer Bruno den Frauen nach, bis er Christiane kennen lernt und glaubt, die große Liebe gefunden zu haben ...
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Kritik

Michel Houellebecq lässt uns die Leere und Depression der Figuren in seinem Roman "Elementarteilchen" intensiv spüren. Dazu tragen auch seine dürre, nachlässige Sprache und die gewollte Banalität der Dialoge bei.
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Die beiden Halbbrüder Bruno und Michel werden von ihrer zur Generation der „Achtundsechziger“ gehörenden Mutter im Stich gelassen. Statt sich um ihre bei den jeweiligen Großeltern väterlicherseits aufwachsenden Söhne zu kümmern, glaubt die selbstsüchtige und sexuell freizügige Frau, sich in Kalifornien selbst verwirklichen zu müssen.

Michel, der jüngere der beiden Halbbrüder, beweist schon in der Schule seine außergewöhnliche mathematische Begabung. Aus Sex und Erotik macht sich der introvertierte, zu Depressionen neigende Schüler nichts, und er verliert deshalb auch seine Jugendfreundin Annabelle aus den Augen.

Nach einem Forschungsaufenthalt in Irland arbeitet Michel einige Zeit für ein molekularbiologisches Institut in Paris, bis er begreift, dass er vor den Konsequenzen seiner in Irland erzielten gentechnischen Forschungsergebnisse zurückschreckte und beschließt, wieder nach Irland zu gehen, um sie auszuwerten.

Bevor Michel nach Irland fliegt, kümmert er sich noch in seinem Heimatdorf um die Umbettung seiner Großmutter, deren Grab einer neuen Straße weichen muss. Er nutzt die Gelegenheit, um bei Annabelles Eltern vorbeizuschauen und trifft dabei unerwartet auf Annabelle, die inzwischen als Bibliothekarin in der Hauptstadt arbeitet und zufällig gerade ihre Eltern besucht. Michel wundert sich darüber, dass sie nicht verheiratet ist. Sie habe mit Dutzenden von Männern geschlafen und es auch mit Frauen probiert, aber alle Affären seien enttäuschend gewesen, meint sie und gesteht Michel, dass sie immer nur ihn geliebt habe. Als sie versteht, dass der inzwischen Vierzigjährige noch sexuell unerfahren ist, ergreift sie die Initiative und geht mit ihm ins Bett.

Beim Abschied verspricht Michel, sich regelmäßig aus Irland zu melden, aber sobald er seine bahnbrechende Forschungsarbeit wieder aufgenommen hat, vergisst er alles andere. Aufgrund der von ihm gefundenen Formeln wird sich ein geschlechtloser Übermensch züchten und klonen lassen.

Michel ahnt nicht, dass Annabelle von ihm schwanger ist. Wegen einer Anomalie im Gewebe des Fetus nehmen die Ärzte eine Abtreibung vor und entfernen dabei auch Annabelles Uterus. Ihre Mutter ruft Michel in Irland an. Als er erfährt, dass Annabella schwer krank ist, lässt er alles liegen und eilt zu ihr. Erst wenn sie sich von den Operationen erholt hat und ihn begleiten kann, wird er nach Irland zurückkehren.

Bruno wurde Lehrer. Nachdem ihn seine Ehefrau mit dem gemeinsamen Kind verließ, erhofft er sich von einem Ferienaufenthalt in einem aus dem Geist der New-Age-Bewegung entstandenen Hippie-Camp ein sexuelles Abenteuer. Dabei verliebt er sich in Christiane, die seine Gefühle erwidert, das Leben in vollen Zügen zu genießen versucht und Brunos Freude am Sex teilt. Den Grund begreift Bruno allerdings erst, als sie in einen Swingerclub während der Kopulation mit einem anderen Mann zusammenbricht: Christiane leidet an einer unheilbaren Nekrose des Rückenmarks. Das Krankenhaus kann sie nur noch im Rollstuhl verlassen.

Bruno bietet ihr an, sie bei sich aufzunehmen und sie zu pflegen, aber Christiane ist stärker als er und macht sich nichts vor: Sie lässt sich in ihre eigene Wohnung fahren und wartet dort darauf, dass Bruno sich klar darüber wird, was er will. Mehrmals wählt er die Telefonnummer seiner Geliebten, legt jedoch gleich wieder auf, weil er vor den Konsequenzen einer Entscheidung zurückscheut.

Als er endlich zu Christiane fährt, ist sie tot: Sie hat sich vom Balkon gestürzt. Verzweifelt sucht Bruno Zuflucht in einer psychiatrischen Anstalt und glaubt in seinem Wahn, dass Christiane bei ihm ist.

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In seinem beklemmenden Roman „Elementarteilchen“ veranschaulicht Michel Houellebecq am Beispiel der Figur Bruno das Scheitern der Bewegung von 1968, die zwar ein Ende der von der Gesellschaft erzwungenen Unterdrückung des Sexualtriebs bewirkte, aber keine Freiheit brachte, sondern dazu führte, dass Männer und Frauen sich regelrecht gezwungen fühlten, die Sexualität auszuleben. Damit greift Houellebecq einen Gedanken aus seinem Roman „Ausweitung der Kampfzone“ auf: Wer auf diesem Markt der Sexualität gegenüber der Konkurrenz zu kurz kommt, rutscht in der sozialen Rangordnung nach unten. Verbittert beobachten die Erfolglosen die anderen, die scheinbar ein leidenschaftliches, abwechslungsreiches Sexualleben führen, in Wirklichkeit aber auch nur ihre innere Leere und ihren Selbstekel vergessen wollen. Die aus den Familienbeziehungen wie Elementarteilchen aus Atomen und Molekülen gesprengten Individuen versuchen verzweifelt, sich mit anderen Elementarteilchen zu vereinen.

Brunos introvertierter Halbbruder Michel sublimiert zwar den Sexualtrieb und konzentriert sich mit seiner gesamten Energie auf seine mikrobiologische Forschungsarbeit, aber er findet sich im Leben ebenso wenig zurecht wie Bruno mit seinen sexuellen Obsessionen. Bezeichnenderweise sollen Michels Forschungsergebnisse dazu dienen, geschlechtslose Übermenschen zu züchten. (Die Utopie einer aus geschlechtslosen Wesen geklonten Gesellschaft griff Michel Houellebecq in seinem 2005 veröffentlichten Roman „Die Möglichkeiten einer Insel“ wieder auf.)

Michel Houellebecq ist es in „Elementarteilchen“ gelungen, die Leere und Depression seiner Figuren intensiv spürbar zu machen. Seine dürre, nachlässige Sprache und die gewollte Banalität der Dialoge tragen dazu maßgeblich bei. Michel Houellebecq ist ein „Untergeher“ wie Thomas Bernhard, doch seine Texte sind in keiner Weise virtuos oder ästhetisch.

Oskar Roehler verfilmte den Roman von Michel Houellebecq: „Elementarteilchen“.

Die egomanische Rabenmutter, die Michel Houellebecq in seinem Roman „Elementarteilchen“ auftreten lässt, ähnelt seiner eigenen Mutter Lucie Ceccaldi, die er angeblich seit 1991 nicht mehr gesehen hat. 2008 veröffentlichte die Dreiundachtzigjährige, die auf der Insel Réunion lebt, einen autobiografischen Roman mit dem Titel „L’Innocente“ (Verlag Scali, Paris), in dem sie schildert, wie sie in Algerien aufwuchs, während des Zweiten Weltkriegs in Algier Medizin studierte und danach ein eigenständiges Leben ohne Bindungen und Verpflichtungen führte. Als sie von einem ihrer Geliebten schwanger geworden war und einen Sohn bekommen hatte – Michel –, überließ sie den Säugling der Mutter des Erzeugers, der Witwe Henriette Thomas, einer geborenen Houellebecq.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006 / 2008

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