Michel Houellebecq : Ausweitung der Kampfzone

Ausweitung der Kampfzone
Originalausgabe: Extension du domaine de la lutte, Paris 1994 Ausweitung der Kampfzone Übersetzung: Leopold Federmair Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1999 Taschenbuch: WAT, Berlin 2006 ISBN 3-8031-2538-3, 160 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Lichtblicke gibt es keine in dem Roman "Ausweitung der Kampfzone". Michel Houellebecq beschreibt die Welt als zwei Kampfzonen: Wirtschaft und Arbeitswelt auf der einen und Sexualität auf der anderen Seite. Jeder gegen jeden, heißt es hier wie dort; und überall gilt das "Marktgesetz" von Angebot und Nachfrage. ...
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Kritik

Michel Houellebecq entwirft ein hoffnungsloses Bild unserer Gesellschaft. Dabei geht es ihm nicht um "feinsinnige psychologische Darstellungen" oder "Raffinesse und Humor". Zur Veranschaulichung seines nihilistischen Weltbildes skizziert er lediglich einige wenige Episoden.
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Der Erzähler zieht Bilanz: „Vor kurzem bin ich dreißig geworden. Nach chaotischem Beginn verlief mein Studium ziemlich erfolgreich; heute bin ich eine mittlere Führungskraft. Als Programmierer in einem EDV-Dienstleistungsbetrieb verdiene ich netto das Zweieinhalbfache vom Mindestlohn; das ist eine ganze Menge Kaufkraft. … Im Großen und Ganzen kann ich mit meiner gesellschaftlichen Stellung zufrieden sein.“

Die Firma, in der er seit drei Jahren beschäftigt ist, hat dem Landwirtschaftsministerium gerade ein Software-Paket verkauft, dessen Einführung der Erzähler und sein Kollege Raphaël Tisserand durch Schulungen in den Landwirtschaftsdirektionen verschiedener Departements unterstützen sollen.

Lustlos begibt sich der Erzähler zum Ministerium, um mit der zuständigen Beamtin den Reiseplan abzusprechen. Er sieht solchen ersten Kontakten „stets mit leichter Besorgnis entgegen“. Aber Catherine Lechardoy ist gar nicht da. Erst im zweiten Anlauf lernt er sie kennen: „Catherine Lechardoy bestätigt von Anfang an alle meine Befürchtungen. Sie ist fünfundzwanzig, hat ein Technikerdiplom in Informatik und schlechte Zähne. Ihre Aggressivität ist erstaunlich: ‚Hoffen wir, dass Ihr Programm funktioniert! Und zwar besser als das letzte, das wir Ihnen abgekauft haben … reiner Schrott. Aber schließlich entscheide ich ja nicht, was wir kaufen. …‘ Ich erkläre ihr, dass ich auch nicht entscheide, was wir verkaufen. Und schon gar nicht, was wir produzieren. In Wirklichkeit entscheide ich überhaupt nichts. Weder sie noch ich entscheiden irgendetwas. Ich bin nur gekommen, um ihr zu helfen, um ihr Exemplare des Benutzerhandbuchs zu geben und zu versuchen, mit ihr ein Programm für die Einführung zusammenzustellen …“

Am 1. Dezember fahren der Erzähler und sein Kollege von Paris nach Rouen, der ersten Station auf ihrer Schulungstour. Während Tisserand „einen prächtigen Anzug mit rot-grün-braunem Muster“ trägt, hat sich der Erzähler für „einen gesteppten Parka und einen dicken Pulli à la ‚Weekend auf den Hebriden'“ entschieden. „Ich stelle mir vor, dass ich im Rollenspiel, das sich gerade entwickelt, den ‚Systemmenschen‘ abgebe, den kompetenten, aber ein wenig schroffen Techniker, der keine Zeit hat, sich um seine Kleidung zu kümmern, und zutiefst unfähig ist, mit dem Benutzer ins Gespräch zu kommen. Das passt mir ausgezeichnet.“ Soziale Kontakte außerhalb der Arbeitswelt hat der Erzähler kaum. (Einmal, als der Zähler seines Anrufbeantworter eine Eins zeigt, wundert er sich. Aber es war nur eine Frau, die sich wohl verwählt hatte und seine Ansage mit den Worten „armer Idiot“ kommentierte.) Hin und wieder trifft er sich mit einem alten Schulkameraden, dem Pfarrer Pierre Buvet, aber zu sagen haben sie sich kaum etwas.

Tisserand ist 28 Jahre alt. Obwohl er – wie der Erzähler – einen gut bezahlten Job hat, also beruflich zu den Siegern gehört, hat er noch nie etwas mit einer Frau gehabt. Dabei versucht er es bei jeder, die in seine Reichweite kommt. Keine möchte etwas von ihm wissen. Klar, er könnte jede Woche eine Prostituierte bezahlen, aber er will Sex gratis bekommen, wie andere Männer, und ein bisschen Liebe obendrein. Bei jeder Gelegenheit versucht es Tisserand – anders als der Erzähler, dessen Beziehung mit einem Mädchen namens Véronique vor zwei Jahren gescheitert ist und der seit dieser Zeit auch nicht mehr mit einer Frau geschlafen hat, sich aber auch gar nicht mehr darum bemüht, sondern lieber in irgendeiner Toilette masturbiert, wenn ihm danach ist.

Kurz vor Weihnachten kauft der Erzähler in einem Supermarkt ein Filetmesser. Er schlägt Tisserand vor, den Heiligen Abend in einem Tanzlokal zu feiern. Tisserand ist zwar Jude, aber er lässt sich dazu überreden. Wieder versucht er ebenso verzweifelt wie vergeblich, ein Mädchen für sich zu gewinnen. Eine attraktive 17-Jährige, die ihm besonders gut gefällt, verlässt das Lokal mit einem fast gleichaltrigen gut aussehenden Mischling. Der Erzähler versucht Tisserand klar zu machen, dass er schon aufgrund seiner vielen Frustrationen nie Erfolg bei Frauen haben wird. Aber er könne sie auf eine andere Weise besitzen: „Wenn du diese Frauen vor der Spitze deines Messers zittern und um ihre Jugend flehen siehst, wirst du wahrhaftig ihr Herr und Meister sein; du wirst ihren Leib und ihre Seele besitzen.“ Sie folgen dem jungen Paar an den Strand. Tisserand nimmt das Messer und nähert sich den beiden, beobachtet, wie sie sich ausziehen. Doch er sticht nicht zu, denn „er will Sex und nicht morden“ (Michel Houellebecq in einem Interview. „Der Spiegel“ 43/1999). Bei der Rückfahrt kommt er durch einen Verkehrsunfall ums Leben.

Kurz darauf bricht der Erzähler in Rouen mit einer Herzbeutelentzündung zusammen und liegt einige Tage lang im Krankenhaus. Am Neujahrstag geht es ihm deutlich besser: „Mein Zustand nähert sich dem Stumpfsinn; das ist gar nicht schlecht.“

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Lichtblicke gibt es keine in dem Roman „Ausweitung der Kampfzone“. Michel Houellebecq beschreibt die Welt als zwei Kampfzonen: Wirtschaft und Arbeitswelt auf der einen und Sexualität auf der anderen Seite. „Es gibt ein System, das auf Beherrschung, Geld und Angst beruht – ein eher männliches System, nennen wir es Mars; und es gibt ein weibliches System, das auf Verführung und Sex beruht, nennen wir es Venus. Das ist auch schon alles.“ Jeder gegen jeden, heißt es hier wie dort; und überall gilt das „Marktgesetz“ von Angebot und Nachfrage. „Die Sexualität ist ein System sozialer Hierarchie … stellt in unserer Gesellschaft eindeutig ein zweites Differenzierungssystem dar, das vom Geld völlig unabhängig ist; und es funktioniert auf mindestens ebenso erbarmungslose Weise. Auch die Wirkungen dieser beiden Systeme sind genau gleichartig. Wie der Wirtschaftsliberalismus – und aus analogen Gründen – erzeugt der sexuelle Liberalismus Phänomene absoluter Pauperisierung. … In einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig liberalen Sexualsystem haben einige ein abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt.“

Michel Houellebecq lenkt die Aufmerksamkeit auf die Verlierer der sexuellen Revolution von 1968. Wer häufig die Beziehungen wechselt, verliert „die Liebe als Unschuld und Fähigkeit zur Illusion, die Gabe, die Gesamtheit des anderen Geschlechts auf ein einziges geliebtes Wesen zu beziehen“. „Sex ist wie eine Filmproduktion geworden: Man ist der Regisseur und Hauptdarsteller und geht auf eine Party oder in einen Club, auf der man die Hauptdarstellerin aussucht. Entspricht sie dem Schönheitsideal, das auf dem ‚Vogue‘-Cover abgebildet ist, entspricht sie meinem Marktwert?“ (Bret Easton Ellis in einem Interview. „Der Spiegel“ 43/1999)

„Ich liebe diese Welt nicht. Ich liebe sie ganz entschieden nicht. Die Gesellschaft, in der ich lebe, widert mich an; die Werbung geht mir auf die Nerven; die Informatik finde ich zum Kotzen […] Dieser Welt mangelt es an allem, außer an zusätzlicher Information“, stöhnt der Erzähler. “ […] konkret verstehe ich nicht, wie es den Menschen gelingt zu leben. Ich habe das Gefühl, dass eigentlich alle unglücklich sein müssten […] Ich wäre gern tot. Aber ‚es gibt einen Weg, den man zurücklegen muss‘.“

Nur ungern schreibt der Erzähler (Michel Houellebecqs Alter Ego), denn es lindert sein Leid nur wenig. Wieviel lieber würde er der deprimierenden Realität entkommen und sich eine glücklichere Welt vorstellen! „Ein Leben lang nichts als lesen, das hätte meine Wünsche erfüllt; ich wusste es schon mit sieben Jahren. Die Beschaffenheit der Welt ist schmerzhaft und ungeeignet; ich glaube nicht, dass sich daran etwas ändern lässt. Wirklich, ein mit Lesen ausgefülltes Leben hätte mir besser gepasst. Ein solches Leben war mir nicht vergönnt.“

Michel Houellebecq entwirft in „Ausweitung der Kampfzone“ ein hoffnungsloses Bild unserer Gesellschaft. Dabei geht es ihm nicht um „feinsinnige psychologische Darstellungen“ oder „Raffinesse und Humor“. Zur Veranschaulichung seines nihilistischen Weltbildes skizziert er lediglich einige wenige Episoden. Nach meinem Geschmack hätten sogar noch weniger gereicht, denn es gibt in „Ausweitung der Kampfzone“ keine Handlung, die auf etwas zusteuert, und was der Autor sagen möchte, hat man nach der Lektüre der ersten Kapitel begriffen. Deshalb flaute meine Begeisterung über die Originalität und den Sarkasmus des Autors gegen Ende des Buches etwas ab.

Michel Houellebecq wurde am 26. Februar 1958 auf der Insel La Réunion geboren. Seine Eltern, die aus Algerien stammende Anästhesistin Janine Ceccaldi und der französische Gebirgsführer René Thomas, vertrauten das Kleinkind zunächst seinen algerischen Großeltern an, und als sie sich scheiden ließen, kam er im Alter von sechs Jahren zur anderen Großmutter, einer geborenen Houellebecq, in Crécy-La-Chapelle, bzw. in ein Internat in Meaux. Michel studierte von 1975 bis 1978 Agrarwissenschaft, dann auch noch an der Filmhochschule École nationale supérieure Louis Lumière, aber einen zweiten Abschluss machte er nicht. 1980 heiratete er, und im Jahr darauf gebar seine Frau einen Sohn. Die Ehe scheiterte nach kurzer Zeit. 1983 begann er als Informatiker zu arbeiten. Elf Jahre veröffentlichte Michel Houellebecq seinen Debütroman „Ausweitung der Kampfzone“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

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