Michel Houellebecq : Unterwerfung

Unterwerfung
Originalausgabe: Sousmission Flammarion, Paris 2015 Unterwerfung Übersetzung: Norma Cassau, Bernd Wilczek DuMont Buchverlag, Köln 2015 ISBN: 978-3-8321-9795-7, 272 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 in Frankreich verbünden sich die Konservativen und die Sozialisten mit der Muslim­bruder­schaft, um einen Sieg des Front National zu verhindern. Mohammed Ben Abbes kommt also friedlich und auf demokratischem Weg an die Macht. Der charismatische Muslim richtet auch keine Schreckensherrschaft ein, sondern gibt sich konziliant. Dass er das Patriarchat und die Polygamie in Frankreich einführt, gefällt dem Protagonisten François, einem 44-jährigen Literaturwissen­schaft­ler ...
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Kritik

"Unterwerfung" ist sowohl Utopie und Gedankenexperiment als auch Satire. Michel Houellebecq spielt mit den Ängsten vor der Islamisierung und Überfremdung der Gesellschaft, nimmt aber nicht den Islam aufs Korn, sondern die bestehenden Verhältnisse in Frankreich.
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Paris 2022. Der 44-jährige Literaturwissenschaftler François lehrt lustlos an der Sorbonne. Er wuchs in Maisons-Laffitte nordwestlich von Paris auf. Von seinen Eltern hat er seit zehn Jahren kaum noch etwas gehört. Er weiß lediglich, dass sein Vater, der ein Chalet im Écrins-Massiv besitzt, seit kurzem eine neue Lebensgefährtin hat, während seine Mutter in Nevers versauert. Im Juni 2007 promovierte François. Sieben Jahre lang hatte er an seiner 788 Seiten dicken Dissertation mit dem Titel „Joris-Karl Huysmans oder Das Ende des Tunnels“ gearbeitet. Immerhin wurde sie mit summa cum laude bewertet. Damals begriff er, dass ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen war.

So geht es in unseren noch westlichen und sozialdemokratischen Gesellschaften allen, die ihr Studium beenden, nur ist es den meisten nicht oder nicht sofort bewusst, denn sie sind hypnotisiert vom Geld oder vom Konsum wie die Primitivsten, die die heftigste Sucht nach gewissen Dingen entwickelt haben (doch sie sind in der Minderzahl; die ernsthaftere und gemäßigtere Mehrheit entwickelt schlicht eine Faszination für Geld, diesen „unermüdlichen Proteus“). Noch willenloser sind sie ihrem Drang ausgeliefert, sich zu beweisen, sich einen beneidenswerten Platz in einer Gesellschaft des – wie sie denken und hoffen – Wettbewerbs zu erkämpfen, elektrisiert von der Anbetung austauschbarer Ikonen: Sportler, Modedesigner, Internetkreative, Schauspieler, Models.

Nach der Promotion blieb François an der Sorbonne, erhielt einen Lehrauftrag und wurde später Professor.

Ein Studium im Fachbereich Literaturwissenschaften führt bekanntermaßen zu so ziemlich gar nichts außer – für die begabtesten Studenten – zu einer Hochschulkarriere im Fachbereich Literaturwissenschaften.

Der Einzelgänger hat nie geheiratet. Stattdessen sucht er sich jedes Semester eine andere Studentin für eine Affäre aus. Naturgemäß nimmt der Altersunterschied zwischen ihm und den Mädchen zu. Seine aktuelle Geliebte ist 22 Jahre alt und heißt Myriam. Es gefällt ihm, dass sie mit Vorliebe Miniröcke und manchmal keine Unterwäsche trägt.

Die Liebe eines Mannes ist nichts anderes als die Anerkennung für das ihm bereitete Vergnügen, und mir hatte nie zuvor jemand derart viel Vergnügen bereitet wie Myriam. […] Jede Fellatio von ihr hätte genügt, das Leben eines Mannes zu rechtfertigen.

Freimütig bekennt François:

„[…] ich bin wohl wirklich so eine Art Macho. Ich hielt es eigentlich nie für eine gute Idee, Frauen das Wahlrecht zu geben, sie zu den gleichen Studiengängen und Berufen zuzulassen und so weiter. Wir haben uns letztlich daran gewöhnt, aber ist es wirklich eine gute Idee?“

Besonders glücklich ist François nicht. Er neigt zu Depressionen.

Mein Körper war die Quelle diverser schmerzhafter Leiden – Migräne, Hautkrankheiten, Zahnschmerzen, Hämorrhoiden –, die sich ständig abwechselten und mir kaum Ruhe ließen.

Am 15. Mai 2022 steht die Wahl eines neuen Staatspräsidenten an. 2017 wurden die Sozialisten in der Stichwahl noch einmal gewählt, aber nur, um einen Sieg des Front National und Marie Le Pen an der Spitze Frankreichs zu verhindern.

Nach der Wende von 2017 musste sie [Marine Le Pen] gedacht haben, man habe als Frau wie Angela Merkel auszusehen, um an den Gipfel der Macht zu gelangen.

Eine sozialistische Regierung in einem immer unverhohlener rechts eingestellten Land ist allerdings paradox.

Mir war […] bereits klar geworden, dass der sich seit Jahren verbreiternde, inzwischen bodenlose Graben zwischen dem Volk und jenen, die in seinem Namen sprachen – also Politikern und Journalisten –, notwendigerweise zu etwas Chaotischem, Gewalttätigem und Unvorhersehbarem führen musste. Frankreich bewegte sich, wie die anderen Länder Westeuropas auch, auf einen Bürgerkrieg zu, das lag auf der Hand.

Einige Wochen nach der Wahl 2017 gründete Mohammed Ben Abbes in Frankreich eine Bruderschaft der Muslime. Ein früherer muslimische Vorstoß war daran gescheitert, dass der Anführer offen antisemitisch agitiert und mit Rechtsradikalen paktiert hatte. Mohammed Ben Abbes hat dagegen von Anfang an einen konzilianten Ton gepflegt und nach dem Vorbild kommu­nistischer Parteien auf ein dichtes Netz von Jugendverbänden, Kultureinrichtungen und karita­tiven Institutionen gesetzt. Er hält sich von den Gegnern des Kapitalismus fern, denn er rechnet damit, dass die Wahlen nicht auf dem Feld der Wirtschaft, sondern auf dem der Werte entschieden werden. Um zu demonstrieren, dass er das Christentum als Buchreligion respektiert, war er bereits dreimal beim Papst im Vatikan. Dem inzwischen 43-jährigen Politiker prognosti­zieren die Meinungs­forscher 21 Prozent. Die UMP steht bei 14 Prozent; für die Sozialisten wird mit 23 Prozent gerechnet, und der Front National gilt mit 32 Prozent als stärkste Partei. Die erste Hochrechnung am Wahlabend zeigt folgende Ergebnisse: Front National: 34,1%, Sozialisten: 21,8%, Muslimbruderschaft: 21,7%, UMP: 12,1%. Im amtlichen Endergebnis überflügeln die Muslime (22,3%) dann noch die Sozialisten (21,9%).

Jean-François Copé von der UMP tritt nach dem Wahldebakel zurück. (Nicolas Sarkozy gab bereits nach der Niederlage im Jahr 2017 endgültig auf.)

Um eine Regierungsübernahme durch den Front National zu verhindern, nimmt der Sozialist Manuel Valls Verhandlungen mit Mohammed Ben Abbes auf. Der scheidende Staatspräsident François Hollande stellt sich noch einmal den Medien, aber gerade einmal zehn Journalisten möchten wissen, was er zu sagen hat, und als er sich als „letztes Bollwerk der republikanischen Ordnung“ bezeichnet, sind Lacher zu hören.

Obwohl Mohammed Ben Abbes kurz davor ist, auf friedlichem und demokratischem Weg Staatspräsident von Frankreich zu werden, kommt es zu vereinzelten Anschlägen radikaler Muslime. Jemand rät François, seine Bankguthaben ins Ausland zu transferieren. Myriams Eltern haben beschlossen, Frankreich noch vor der Stichwahl zu verlassen, denn sie befürchten, dass es den Juden in Frankreich sowohl unter einer vom Front National als auch unter einer von der Muslim­bruderschaft geführten Regierung schlecht gehen wird. Sie wollen mit Myriam und deren jüngeren Geschwistern nach Israel ziehen, obwohl ihnen die Gefährlichkeit der Lage dort bekannt ist.

Vor dem Abflug schläft Myriam in der Nacht auf den 22. Mai ein letztes Mal mit François.

Am nächsten Tag erläutert Mohammed Ben Abbes seine Ziele auf einer Pressekonferenz. Dabei betont der Händlersohn, der die École Polytechnique und die Ècole Nationale d’Administration absolvierte, dass er das Gesellschaftssystem, dem er alles zu verdanken habe, nicht untergraben wolle. Ihm komme es allerdings darauf an, das auf reine Wissensvermittlung ausgerichtete Bildungssystem des laizistischen Staates durch ein anderes zu ersetzen, das den Einklang der französischen Gesellschaft mit den großen spirituellen Traditionen des Islam, des Juden- und des Christentums wiederherstellt.

Am 25. Mai findet François die Sorbonne geschlossen vor. Niemand kann ihm sagen, ob und wann die Universität wieder öffnen wird.

Daraufhin setzt er sich in seinen VW Touareg und fährt mehr oder weniger ziellos nach Süden. An der Tankstelle in Pech-Montat hält er an, um Benzin nachzufüllen. Durch die zersplitterten Scheiben sieht er, dass die Kassiererin in einer Blutlache tot auf dem Boden liegt.

Ich ging zu den Zapfsäulen, aber sie funktionierten nicht, vermutlich wurden sie von der Kasse aus gesteuert. Ich lief zurück, stieg widerwillig über die Leiche, entdeckte aber nichts, was dazu dienen konnte, die Pumpen wieder in Gang zu bringen. Nach kurzem Zögern nahm ich mir ein Thunfisch-Sandwich mit Salat, ein alkoholfreies Bier und den Michelin-Hotelführer aus dem Regal.

Bevor François weiterfährt, bemerkt er noch zwei tote Nordafrikaner auf dem LKW-Parkplatz. Neben ihnen liegt eine Maschinenpistole. Aufgrund der Empfehlungen im Hotelführer nimmt er sich ein Zimmer im Relais du Haut-Quercy in Martel.

Am 29. Mai gibt der noch amtierende Regierungschef Manuel Valls bekannt, dass die Stichwahl abgebrochen und verschoben werden müsse, weil etwa zwanzig Wahllokale von bewaffneten Banden überfallen wurden.

Beim Einkaufen in Martel trifft François unerwartet einen Bekannten aus Paris: Alain Tanneur, den Ehemann seiner Kollegin Marie-Françoise. Das Haus seiner verstorbenen Eltern stehe in Martel, erklärt Alain. Eigentlich wollten die Tanneurs erst nach seiner Pensionierung beim Inlandsgeheimdienst DGSI hierher ziehen, aber er wurde im Vorgriff auf die neuen politischen Verhältnisse entlassen, und unter einer muslimisch geführten Regierung wird wohl auch Marie-Françoise ihren Lehrstuhl verlieren. Deshalb bereiten sie bereits jetzt ihren Umzug vor.

Am 31. Mai bilden die Union pour un mouvement populaire (UMP), die Union des démocrates et indépendants (UDI) und die Parti socialiste (PS) eine republikanische Front und schließen sich mit der Muslimbruderschaft gegen den Front National zusammen. Für den Fall seiner Wahl zum Staatspräsidenten sichert Mohammed Ben Abbes dem Politiker François Bayrous das Amt des Ministerpräsidenten zu.

Als Mohammed Ben Abbes aus der Stichwahl als klarer Sieger über Marine Le Pen hervorgeht, ist François bereits von Martel nach Rocamadour weitergefahren.

Mitte Juli kehrt er nach Paris zurück. Dort findet er einen Brief des Bürgermeisteramts von Nevers vom 31. Mai mit der Nachricht vom Tod seiner Mutter vor. Aus Folgeschreiben geht hervor, dass sie inzwischen in einem Sammelgrab bestattet wurde. Ein paar Wochen später stirbt auch sein Vater. François erfährt es durch einen Anruf Sylvias, die bis zuletzt mit seinem Vater zusammen war. Sie holt ihn am Bahnhof von Briançon ab. Er schätzt ihr Alter auf Mitte 50. Sein Vater war 80 Jahre alt. Bei der Testamentseröffnung gibt es keine Überraschungen: das Erbe wird auf den einzigen Sohn und die Lebensgefährtin aufgeteilt.

Von der Sorbonne erhält François die Kündigung. Unterschrieben ist sie von Robert Rediger, dem Präsidenten der Université Sorbonne Nouvelle – Paris III und Nachfolger von Chantal Delouze. Bedauernswerterweise, so heißt es, müsse man sich von ihm trennen, weil aufgrund der neuen Bestimmungen nur noch Muslime als Hochschullehrer zugelassen sind. Immerhin wird ihm von sofort an eine Pension bezahlt, und zwar in der vollen Höhe, wie er sie eigentlich erst ab dem Rentenalter zu erwarten gehabt hätte.

In der Außenpolitik verfolgt Mohammed Ben Abbes das Ziel, die Europäische Gemeinschaft um die Mittelmeerländer zu erweitern, um Marokko, Algerien, Tunesien, Ägypten, den Libanon und die Türkei. Der Sitz der Europäischen Kommission soll nach Rom verlegt werden, und der des Europäischen Parlaments nach Athen. Die Kriminalitätsrate in Frankreich sinkt seit dem Antritt der neuen Regierung ebenso wie die Arbeitslosenquote. Letzteres ist vor allem durch den Rückzug der Frauen aus dem Arbeitsmarkt zu erklären. Den forciert die Regierung durch die Regelung, dass Familienzulagen nur gezahlt werden, wenn die Frau zu Hause bleibt. Die substanziell erhöhten Familienzulagen werden übrigens nicht nur durch geringere Sozialausgaben, sondern auch durch eine Senkung der Ausgaben für Bildung gegenfinanziert. In der Wirtschaft strebt Mohammed Ben Abbes eine Aufhebung der Trennung zwischen Kapital und Arbeit an: Der Besitz von Produktionsmittel soll weder beim Staat (Sozialismus), noch bei Einzelnen (Kapitalismus) konzentriert, sondern so breit gestreut wie möglich sein (Distributismus).

Die neue Regierung stemmt sich dem Sittenverfall entgegen und verbietet die Homo-Ehe, Schwangerschaftsabbrüche und Frauenarbeit. Escort-Dienste bieten ihre Dienste jedoch wie gewohnt an. Das überrascht François. Er findet den Gedanken reizvoll, Sex mit muslimischen Frauen zu haben, ist aber von den ersten Erfahrungen enttäuscht. Weder Nadia aus Tunesien, die Tochter eines Radiologen, die durch die Einnahmen ihr Masterstudium Moderner Literatur finanziert, noch „Babeth die Schlampe“ verhelfen ihm zu heftigen Erlebnissen. Schließlich versucht er es mit der 22-jährigen Marokkanerin Rachida und der zwei Jahre älteren Spanierin Luisa zugleich, auch wenn das etwas teurer ist.

Ich fickte beide unermüdlich und frei von Lust abwechselnd in die Muschi und in den Arsch.

Erst als Rachida seine Hoden leckt, während er Luisa penetriert, verspürt er Schauer der Lust. Nach der Ejakulation in Luisas Mund belohnt er jede der beiden Prostituierten mit 100 Euro Trinkgeld.

Um eine depressive Phase zu überwinden, fährt François im Januar 2023 mit dem TGV nach Poitiers und nimmt von dort ein Taxi zur Benediktinerabtei Saint-Martin de Ligugé, wo Joris-Karl Huysmans das Gelübde abgelegt hatte und François sich während der Arbeit an seiner Dissertation einige Zeit aufhielt. Einer der Mönche kann sich sogar noch an ihn erinnern.

Lange bleibt François nicht in Ligugé. Zurück in Paris, findet er einen Brief von Bastien Lacoue vor, der Hugues Pradier als Chef der vom Verlag Gallimard herausgegebenen Bibliothèque de la Pléide abgelöst hat. Lacoue schlägt ihm vor, eine Auswahl der Werke Joris-Karl Huysmans‘ zu betreuen. Im persönlichen Gespräch weist er François darauf hin, dass der persönlich mit ihm befreundete Universitätspräsident Robert Rediger das Fehlen des Literaturwissenschaftlers an der Sorbonne sehr bedaure. Bastien Lacoue verschafft François eine Einladung zum Empfang anlässlich der Wiedereröffnung der Universität, die jetzt von Saudi-Arabien finanziert wird. (Die University of Oxford wurde den Saudis von Katar weggeschnappt.)

Bei dem Empfang fällt François auf, dass keine einzige Frau unter den Gästen ist. Robert Rediger lädt ihn zu einem Privatbesuch ein. Nachdem François in Redigers Villa von dessen Butler in die Halle geführt wurde, kommt ein unverschleiertes Mädchen herein, erschrickt über die Anwesenheit eines Fremden, verbirgt ihr Gesicht beschämt mit den Händen und verlässt sofort wieder den Raum. Wie François dann erfährt, handelt es sich um Aïcha, die gerade 15 Jahre alt und die jüngste Frau des Universitätspräsidenten geworden ist.

Der Belgier Robert Rediger promovierte an der Katholischen Universität Löwen über „Die Nietzsche-Lektüre von Guénon“. Inzwischen ist er zwar zum Islam konvertiert, hat aber seine belgische Staatsangehörigkeit beibehalten. Er gesteht seinem Gast, dass er mit der Identitären Bewegung sympathisierte, der es um die Abwehr einer Islamisierung und Erhaltung der nationalen bzw. abendländischen Identität geht. Bei einer Flasche Meursault, dann Kaffee und Boukha, schwadroniert der Universitätspräsident über Gott und die Welt.

„Es ist die Unterwerfung“, sagte Rediger leise. „Der nie zuvor mit dieser Kraft zum Ausdruck gebrachte grandiose und zugleich einfache Gedanke, dass der Gipfel des menschlichen Glücks in der absoluten Unterwerfung besteht. […] für mich besteht eine Verbindung zwischen der unbedingten Unterwerfung der Frau unter den Mann, wie sie in Geschichte der O beschrieben wird, und der Unterwerfung des Menschen unter Gott, wie sie der Islam anstrebt. Sehen Sie“, fuhr er fort, „der Islam akzeptiert die Welt, und er akzeptiert sie als Ganzes, er akzeptiert die Welt, wie sie ist, um mit Nietzsche zu sprechen. Für den Buddhismus ist die Welt dukkha – Mangel, Leiden. Auch das Christentum hegt ihr gegenüber große Vorbehalte […] Für den Islam hingegen ist die göttliche Schöpfung vollkommen, sie ist ein absolutes Meisterwerk.“

Bei einem Festakt anlässlich der Berufung von Jean-François Loiseleur auf einen Lehrstuhl der Université Sorbonne Nouvelle sprechen Robert Rediger und François erneut miteinander. Der Universitätspräsident stellt dem Literaturwissenschaftler eine Rückkehr an die Universität in Aussicht, und zwar dank der finanziellen Förderung der Sorbonne durch die Saudis bei dreifachem Gehalt. François müsste zwar zum Islam konvertieren, würde sich aber auch drei Ehefrauen leisten können. Während Robert Rediger die sozialdarwinistischen Thesen in seinem Buch „Zehn Fragen zum Islam“ erläutert, erkundigt François sich, wie er die Frauen auswählen soll, wo die in Frage kommenden Muslima doch alle verschleiert sind. Rediger erklärt ihm, dass die muslimischen Männer das Heiratsvermittlerinnen überlassen, die auch die nackten Körper der Kandidatinnen prüfen, bevor sie eine empfehlen.

François malt sich die Feiern anlässlich seines Übertritts zum Islam und zu seiner erneuten Amtseinführung aus und denkt:

[…] würde sich mir eine neue Chance bieten; es wäre die Chance auf ein zweites Leben, das nicht besonders viel mit dem vorherigen gemein haben würde.
Ich hätte nichts zu bereuen.

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„Unterwerfung“ ist sowohl Utopie und Gedankenexperiment als auch Satire: 2022 scharen sich die Franzosen um die Muslimbruderschaft, weil sich nur noch auf diese Weise ein Sieg des Front National verhindern lässt. Kurz darauf erhält auch Belgien eine muslimische Regierung, und in anderen europäischen Staaten wie Deutschland und dem Vereinigten Königreich werden muslimische Parteien an den Regierungskoalitionen beteiligt. Michel Houellebecq spielt mit den Ängsten vor der Islamisierung und Überfremdung der Gesellschaft, aber „Unterwerfung“ ist kein islamophober Roman. Nicht den Islam nimmt Michel Houellebecq aufs Korn, sondern die Verbrauchtheit der Konservativen und der Sozialisten, das Scheitern des Liberalismus und des Laizismus sowie die Bemühungen, einen Wahlsieg der Rechten zu verhindern. Er entwirft in „Unterwerfung“ denn auch kein Schreckensszenario. Die Muslimbruderschaft kommt nicht durch Gewalt an die Regierung, sondern durch demokratische Wahlen, und es gefällt dem Protagonisten, einem sexistischen Literaturwissenschaftler, dass der muslimische Staatspräsident das Patriarchat und die Polygamie in Frankreich einführt. François hat auch nichts dagegen, dass Frauen vom Arbeitsleben ebenso ausgeschlossen werden wie von höheren Bildungseinrichtungen.

Die französische Originalausgabe „Soumission“ erschien am 7. Januar 2015, am Tag des Anschlags auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ in der Rue Nicolas-Appert, bei dem zwei Terroristen unter Berufung auf Allah eine Frau und elf Männer erschossen. Mindestens 20 weitere Personen wurden verletzt. In der damals aktuellen Ausgabe des Satiremagazins wurde Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ von Bernard Maris positiv rezensiert, und eine Karikatur des Schriftstellers war auf dem Titelblatt zu sehen.

Die deutsche Übersetzung des Romans von Norma Cassau und Bernd Wilczek kam am 16. Januar 2015 heraus. Bei der Vorstellung seines Buches auf der lit.Cologne erklärte Michel Houellebecq, dass Kritik am Islam nicht das Thema von „Unterwerfung“ sei und berief sich zugleich auf das Recht jedes Künstlers, auch den Islam zu kritisieren.

Zahlreiche Romanfiguren in „Unterwerfung“ entsprechen Personen aus der Wirklichkeit.

Joris-Karl Huysmans (1848 – 1907) war ein Schriftsteller der Dekadenzliteratur, der vor allem über vom Leben bzw. von den Frauen enttäuschte Eigenbrötler schrieb, also Figuren wie François, den Protagonisten von „Unterwerfung“. Am Ende zog er sich in ein Kloster zurück.

David Pujadas, Yves Thréard, Renaud Dély und Christophe Barbier sind die Namen von tatsächlich lebenden Journalisten. Marine Le Pen tritt ebenso auf wie die Politiker Nicolas Sarkozy und Jean-François Copé, François Hollande und Manuel Valls. Zum Ministerpräsidenten ernennt der neue muslimische Staatspräsident François Bayrous, und an dem lässt die Romanfigur Alain Tann in „Unterwerfung“ kein gutes Haar:

„Was Bayrou so einzigartig, so unersetzlich macht […] ist seine Dämlichkeit. Sein politischer Entwurf ist immer auf seinen persönlichen Wunsch beschränkt geblieben, unter allen Umständen ein ‚hohes Amt‘ zu bekleiden, wie man so schön sagt. Er hat nie eigene Vorstellungen gehabt und auch nicht so getan, als hätte er welche; in diesem Ausmaß ist das durchaus selten. Das macht ihn zum idealen, den Begriff des Humanismus verkörpernden Politiker, zumal er sich für Heinrich IV. hält und für einen großartigen Friedensstifter im Dialog der Religionen. Darüber hinaus erfreut er sich bei der katholischen Wählerschaft, die seine Dämlichkeit beruhigt, größter Beliebtheit. Genau das ist es, was Ben Abbes braucht, der in allererster Linie einen neuen Humanismus verkörpern und den Islam als vollendete Form eines alles wieder vereinigenden Humanismus darstellen möchte und der es im Übrigen vollkommen ehrlich meint, wenn er erklärt, dass er die drei Buchreligionen respektiert.“

Mit Robert Rediger, dem zum Islam konvertierten belgischen Präsidenten der Sorbonne, spielt Michel Houellebecq paradoxerweise auf den Philosophen Robert Redeker (* 1954) an, der wegen eines am 19. September 2006 in „Le Figaro“ veröffentlichten islamkritischen Artikels Morddrohungen erhielt.

Robert Rediger propagiert das Glück der Unterwerfung, wie es von Anne Desclos (1907 – 1998) unter dem Pseudonym Pauline Réage in dem 1954 veröffentlichten erotischen Roman „Geschichte der O“ beschrieben ist.

Dass der Protagonist von „Unterwerfung“ mit einem VW Touareg nach Martel fährt, ist wohl auch kein Zufall. Bei den Tuaregs handelt es sich um ein zu den Berbern zählendes islamisches Nomadenvolk. Martel assoziieren wir mit dem fränkischen Hausmeier Karl Martell, der den Vormarsch der arabischen Muslime von der Iberischen Halbinsel nach Norden im Oktober 732 durch seinen Sieg in der Schlacht von Tours und Poitiers beendete.

Den Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Berkel (Regie: Wolfgang Stockmann, ISBN 978-3-86231-536-9).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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