Wolfgang Herrndorf : Sand

Sand
Sand Originalausgabe: Rowohlt-Berlin Verlag, Berlin 2011 ISBN: 978-3-87134-734-4, 479 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Mann kommt zwischen zwei nordafrikanischen Orten mit einer Kopfverletzung zu sich und erinnert sich nicht einmal mehr an seinen Namen. Die Amerikanerin Helen Gliese nimmt ihn mit in ihren Hotelbungalow. Kurz darauf wird er entführt. Die Kidnapper drohen, seiner Frau und seinem kleinen Sohn etwas anzutun, wenn er ihnen nicht innerhalb von 72 Stunden einen Gegenstand beschaffe, den sie nicht weiter beschreiben, weil sie annehmen, dass er Bescheid weiß ...
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Kritik

Mit dem Roman "Sand" parodiert Wolfgang Herrndorf das Genre des Agententhrillers. Lesenswert ist "Sand" nicht wegen der grotesken, episodenhaften Handlung, sondern aufgrund der sprachlichen Virtuosität des Autors.
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Polidorio arbeitet seit zwei Monaten als Polizist in der nordafrikanischen Kleinstadt Targat. Er besitzt einen französischen Pass, denn sein arabischer Großvater war nach Marseille ausgewandert. Nach der Trennung seiner Eltern war Polidorio mit seiner Mutter in die Schweiz gezogen und in Biel zur Schule gegangen. Er studierte in Paris. Im Mai 1969 heiratete er, aber als man ihm drei Jahre später wegen seiner arabischen Sprachkenntnisse eine Stelle in der ehemaligen Kolonie anbot, griff er sofort zu, um von seiner Frau wegzukommen. Jetzt, nach zwei Monaten Dienst in Targat, wäre Polidorio allerdings lieber wieder in Frankreich.

Wie um jede andere größere Stadt hatte sich um Targat ein Gürtel aus Bidonvilles gelegt, und die Bereitschaft der Verwaltung, die erbärmlichen Hütten hin und wieder mit Bulldozern die Berghänge hinab zu schieben, schien den gleichen Effekt zu haben wie das sorgfältige Beschneiden einer Pflanze. Nach jeder Säuberungswelle wucherte das Dickicht undurchdringlicher, Straßen und Wege versickerten darin. Wellblech, Kanister, Schutt. Alles, einschließlich der Wege, schien aus Müll zu sein und aus ihm zu wachsen.

Sexuell reagiert Polidorio sich bei Prostituierten ab.

Polidorio verachtete sie für das, was sie taten, schämte sich für die Dinge, die er mit ihnen trieb, und war zu scheu, das zu verlangen, was er eigentlich wollte.

Am 23. August 1972 dringt Amadou Amadou, ein Mann Anfang 20, mit einem gestohlenen Auto in die Hippie-Kommune Tindirma ein, die zu Polidorios Verantwortungsbereich gehört. Früher hatte Tindirma aus drei Lehmhütten bestanden, aber Ende der Dreißigerjahre war der Schweizer Ingenieur Lukas Imhof dort mit dem Auto gestrandet und hatte dann einen Brunnen gebohrt. Seither handelt es sich um eine Oase. Der schottische Industriellensohn Edgar („Ed“) Fowler III und der ehemallige französische Soldat Jean Bekurtz gründeten dort schließlich eine Kommune. In ihr leben vorwiegend Amerikaner, dazu ein paar Europäer und ein Libanese, doppelt so viele Frauen wie Männer.

Amadou Amadou, der mit seinen Eltern, Großeltern und einem Dutzend Geschwistern in der Nähe wohnt, versucht den Kommunarden zunächst irgendwelche Dienstleistungen aufzuschwatzen, dann trinkt er Tee und hält „ebenso freizügige wie anatomisch unkorrekte Reden über Sexualität“, bis er plötzlich mit einer Schusswaffe in der Hand nach Wertgegenständen sucht. Einer Kommunardin, die sich weigert, eine Stereoanlage zum Auto zu schleppen, weil diese noch nicht abbezahlt ist, schießt er ins Gesicht. Amadou Amadou erbeutet schließlich einen mit Papiergeld gefüllten Bastkoffer und einen Obstkorb. Nachdem er noch drei Kommunarden erschossen hat, fährt er los. Aber auf halber Strecke zwischen Tindirma und Targat geht ihm das Benzin aus. Als ihn ein Dorfgendarm verhaftet, steht der Obstkorb noch auf dem Beifahrersitz, aber der Koffer mit dem Geld ist weg. Der Gendarm bringt den Häftling nach Targat und zerrt ihn in Polidorios Büro.

Ein Mann, der sich mal Lundgren, mal Herrlichkoffer nennt, kommt in einem Straßencafé mit einem Fremden ins Gespräch, den er für seine Kontaktperson hält. Als er dem Fremden einen Notizblock hinschiebt und dieser die sieben Buchstaben seines Namens aufschreibt, erkennt Lundgren alias Herrlichkoffer seinen Irrtum, springt auf und läuft weg. Dem anderen bleibt nichts anderes übrig, als auch für ihn mitzubezahlen. Da sieht er vier Männer aus einem Chevrolet aussteigen. Er spurtet zu seinem Wagen, aber der ist zugeparkt und statt mit dem Auto zu flüchten, mischt der Mann sich unter die Passanten.

Lundgren alias Herrlichkoffer wird drei Wochen nach dem Massaker in der Kommune ermordet.

Der Gefangenentransporter, der Amadou Amadou nach der Verurteilung zur Hinrichtung bringen soll, wird unterwegs von einem Lastwagen gerammt, und der Häftling flieht.

Zwei Tage später ruft der Polizeigeneral den Polizisten Canisades zu sich, der aus einer Kleinstadt im Norden des Landes stammt und wie Polidorio in Frankreich studierte.

Auf dem Pariser Nobelinternat, das er zwei Jahre lang besuchte, gab er an, eine jüdische Mutter zu haben, was nicht stimmte. In Targat behauptete er, Spross einer französischen Industriellenfamilie zu sein, was auch nicht stimmte. Ansonsten war Canisades kein schlechter Mensch. Sein leichter, erfindungsreicher Umgang mit der eigenen Biografie schien ihm ebenso angeboren wie die eleganten Umgangsformen und ein Charme, der in Mitteleuropa schmierig genannt worden wäre und hier die Herzen aufschloss.

Der Polizeigeneral wirft Canisades zunächst vor, dass er und Polidorio sich im Bordell mit gefälschten Ausweisen als Sonderermittler des Tugendkommitees Vorteile verschafften. Aber er will ihn nur einschüchtern, eigentlich geht es ihm um Amadou Amadou. Es stellte sich nämlich inzwischen heraus, dass der entflohenen Häftling ein Enkel der Putzfrau des Innenministers oder des Staatssekretärs im Innenministerium ist. So genau weiß der Polizeigeneral das nicht.

„Wir wissen seit 48 Stunden nicht mehr, wo er ist. Amadou ist unauffindbar. Und was ich jetzt will und was [der dienstälteste Polizist] Karimi nicht begreift, ist … dass Amadou auch weiterhin unauffindbar bleibt, capisce?“
Die beiden Schlitze im Gesichtsfleisch verengten sich. Canisades nickte, hielt sich den Zeigefinger an den Hinterkopf und drückte den Daumenabzug.
„Nein, nein, nein!“, rief der General. „Unauffindbar im Sinne von unauffindbar. Red ich Chinesisch oder was?“

Zum Abschluss des Gesprächs schickt der Polizeigeneral Canisades zu einem Fellachen namens Mohammed Bennouna, dessen zwei Söhne angeblich ermordet wurden. Bennouna haust in einem Gehöft an der Ausfallstraße nach Tindirma und brennt in seiner Scheune illegal Schnaps.

Auf dem Dachboden der Scheune kommt ein Mann zu sich, der sich nicht mehr an seinen Namen erinnern kann. Offenbar schlug man ihn nieder, denn er hat eine Kopfverletzung. Er hört vier Männer, die von einem mit wertlosen DDR-Banknoten gefüllten Bastkoffer und von einem Mann namens Cetrois reden, der offenbar auf einem Moped in die Wüste geflohen ist. Die Männer folgen ihm in einem Jeep. Der Namenlose nutzt ihre Abwesenheit, um die Scheune zu verlassen. Auf dem Boden liegt ein Toter, dessen Kopf augenscheinlich vom Haken eines Flaschenzugs zertrümmert wurde, und daneben steht ein Fellache mit einer Mistgabel in der Hand.

Es schien nicht der richtige Moment, dem Mann etwas von Amnesie zu erzählen. Eine frische Leiche, vier bewaffnete Männer in einem Jeep, ein irr blickender Fellache mit Mistgabel: Die Situation war unübersichtlich.

Der Mann, der gerade erst wieder zu sich kam, rennt los. Auf der Straße versucht er, ein Auto anzuhalten. Zwei junge hellhäutige Männer bremsen, aber statt ihn einsteigen zu lassen, bedrohen sie ihn mit einem Springmesser und verlangen Geld. Tatsächlich findet er in seinem Jackett ein Portemonnaie. Die Männer nehmen die Scheine heraus und verbrennen die Ausweise.

An einer Tankstelle bittet der Ausgeraubte eine bildhübsche Blondine, ihm zu helfen. Sie hält ihm eine Münze hin, aber er fleht sie an, ihn mitzunehmen. Ein deutsches Pärchen in einem VW-Bus warnt Helen Gliese – so heißt die Amerikanerin – davor, den arabisch aussehenden und offenbar verletzten Mann in ihr Auto zu lassen. Aber sie fährt ihn nach Targat. Trotz seiner Kopfwunde will er weder ins Krankenhaus noch zu einem Arzt. Helen nimmt ihn mit in ihren Hotelbungalow. Als er am nächsten Morgen aufwacht, steht sie nackt in der Küche und kocht Kaffee.

Helen behauptet, geschäftlich in Targat zu sein. Sie arbeite für einen Kosmetikkonzern, sagt sie, aber ihr Musterkoffer sei nach ihrer Ankunft im Hafen bei einer Rangelei auf der Gangway ins Wasser gefallen.

Weil auf dem Etikett des Jacketts des Mannes, der nicht weiß, wie er heißt und sich auch sonst an nichts erinnern kann, der Name Carl Gross steht, nennt Helen ihn erst einmal so.

Der Fellache Mohammed Bennouna erzählt dem Polizisten Canisades, seinem 21-jährigen Sohn habe jemand mit einem Flaschenzug den Kopf zertrümmert und sein fünf Jahre jüngerer Sohn sei daraufhin in die Wüste geflohen und offenbar ebenfalls ermordet worden, sonst wäre er zurückgekommen. In die Scheune, in der er Schnaps brennt, lässt er den Polizisten nicht. Den älteren Sohn habe er bereits begraben, behauptet er, aber er findet angeblich die Stelle nicht mehr. Canisades glaubt dem Fellachen kein Wort.

Er fährt wieder los – und wird in der Wüste von Amadou Amadou, der sich unbemerkt im Fond des vor der Scheune geparkten Autos versteckte, mit einem Stück Draht erdrosselt. Der Mörder wirft die Leiche in den Sand und flüchtet mit dem Wagen, auf den er es abgesehen hatte.

Kurze Zeit später wird Carl auf der Straße von zwei Männern entführt. Einer der beiden heißt Julius. Sie bringen ihn zu ihrem Boss Adil Bassir. Der geht offenbar davon aus, dass Carl etwas besitzt, was er haben möchte und klärt ihn darüber auf, dass er dessen Ehefrau und den dreijährigen Sohn in seiner Gewalt habe. Carl weiß nichts von Frau und Kind, hält es jedoch für besser, nicht darüber zu reden. Als Beweis zeigt ihm Adil Bassir ein Goldkettchen mit einem Amulett, das dem Jungen gehört. Eigentlich habe er dem Kind einen Finger abschneiden wollen, sagt Adil Bassir, aber der gutmütige Julius habe ihn davon abgehalten und dem Jungen stattdessen das Kettchen vom Hals gerissen. Völlig unerwartet rammt Adil Bassir dem Mann, der sich in seiner Gewalt befindet, einen Brieföffner durch die Hand und nagelt ihn damit am Schreibtisch fest. Bevor er ihn freilässt, stellt er ihm ein Ultimatum. Er habe 72 Stunden Zeit, ihm das Gewünschte zu beschaffen, sagt er.

Auf dem Rückweg ruft jemand „Cetrois“ und winkt Carl. Er wird in eine Werkstatt gelockt, wo im Halbdunkel ein zweiter Mann lauert, der ihn ohne Vorwarnung in den Magen tritt. Plötzlich steht Helen in der Tür, schlägt einen der beiden Verbrecher nieder und zertrümmert dem anderen mit einem Handkantenschlag den Kehlkopf.

Helen überredet Carl, den Psychologen Dr. J. Carthusian Cockcroft zu konsultieren. Der könne ihm vielleicht helfen, sein Erinnerungsvermögen zurückzugewinnen. Nach dem Termin bei Cockcroft meint Carl:

„Er ist auf jeden Fall kein Scharlatan. Ein Scharlatan hätte sich mehr Mühe gegeben, wie ein Arzt zu wirken.“

Um mehr über seine Retterin herauszufinden, wühlt Carl in ihren Sachen und wundert sich über Handschellen und einen Schlagstock. Helen klärt ihn darüber auf, dass es sich bei dem Stab nicht um einen Schlagstock handele und es Bienchen gebe, die ihre Blümchen gern in Handschellen bestäuben.

Weil Carl die Männer etwas von einer Miene oder Mine sagen hörte, fährt Helen mit ihm zur Hütte des Goldgräbes Hakim III. im Kangeeri-Massiv an der Ausfallstraße nach Tindirma. Dessen Großvater hatte damit angefangen, im Berg nach Gold zu graben, der Vater hatte weitergemacht, und Hakim III. gräbt seit seinem 13. Lebensjahr. Gefunden wurde bisher allerdings nichts.

Bei der Kommunardin Michelle Vanderbilt handelt es sich um eine alte Freundin Helens. Um Michelle zu besuchen, fährt Helen mit Carl nach Tindirma. Er soll im Pick-up auf sie warten, denn die Kommune darf er nicht betreten.

Michelle erzählt Helen, einige Tage nach dem Massaker sei ein Versicherungsvertreter namens Cetrois aufgetaucht. Die Beschreibung passt auf Carl. Aber mehr weiß sie darüber nicht.

Als es Carl zu lange dauert, steigt er aus, geht ein Stück die Straße entlang und stutzt beim Anblick einer Getränkedose vor dem Hinterrad eines geparkten fliederfarbenen Mercedes. Weil ihn zwei junge Passanten verdächtigen, den Wagen stehlen zu wollen, nimmt Carl seinen Schlüsselbund heraus und tut so, als wolle er aufschließen – und tatsächlich springt die Zentralverriegelung auf. Offenbar handelt es sich um sein Auto! Hoffnungsvoll schaut Carl in die auf dem Beifahrersitz liegende Aktenmappe, aber sie enthält nur unbeschriebene Blätter. Allerdings entdeckt er auf dem obersten Blatt den Abdruck einer Schrift, und als er mit einem Bleistift rubbelt, kommt das Wort Cetrois zum Vorschein. Er schreibt das Wort noch einmal darunter und stellt fest, dass es sich auch bei dem Abdruck um seine Handschrift handelt. In dem Blazer, der im Auto liegt, findet er einen Kugelschreiber. Er zerlegt ihn, und aus der Mine fallen zwei winzige Metallkapseln, die sich nicht ohne Werkzeug öffnen lassen. Das ist offenbar, was sowohl Adil Bassir als auch die anderen vier Männer von ihm haben wollen! Nachdem er die Metallkapseln zurückgeschoben und den Kugelschreiber zusammengeschraubt hat, klemmt er ihn in die Brusttasche des Blazers und kehrt mit dem Kleidungsstück über dem Unterarm zum Pick-up zurück.

Vor der Kommune brach gerade ein Tumult aus. Ein gewaltiges Tier, ein Ouz, wurde in Brand gesteckt und auf die Kommune zugetrieben. Während zwei Kommunardinnen mit einem Gartenschlauch zu löschen versuchen, schleppen andere Taschen, Teppiche und Kisten zu einem Landrover. Das Feuer greift auf andere Gebäude über. Zwei Straßenzüge brennen nieder. Von Helen ist nichts zu sehen. Plötzlich merkt Carl, dass der Blazer mit dem Kugelschreiber fehlt. Er verfolgt den jugendlichen Dieb, kriegt ihn zu fassen und wirft ihn zu Boden. Männer mit Knüppeln nähern sich in drohender Haltung. Carl packt den Blazer und rennt davon.

In der Wüste stolpert er über die Leiche eines Mannes, der offenbar mit einem Draht erdrosselt wurde.

Nachdem er die beiden Metallkapseln aus der Kugelschreibermine genommen hat, taucht ein kleines Ouz auf. Am Kopf des Tieres ist mit einem Gummiband ein Papierstreifen befestigt, auf dem Carl liest: „A man may be born, but in order to be born he must first die, and in order to die he must first awake.“ Unerwartet beißt das Ouz Carl in die Hand, und er lässt die beiden Metallkapseln in den Sand fallen. Erst nach stundenlanger Suche findet Carl sie am nächsten Tag wieder.

Nach einem langen Fußmarsch erreicht er ein verwahrlostes Straßencafé, von dem aus er Helen im Hotel anruft und sie bittet, ihn abzuholen. Er sei im Salzviertel, sagt er. Kurz darauf stellt er fest, dass er sich nicht im Salzviertel, sondern im Leeren Viertel befindet, aber im Hotelbungalow hebt niemand mehr ab: Helen ist wohl schon unterwegs. Der Blazer, den Carl über die Stuhllehne gehängt hatte, bevor er telefonierte, ist weg. Kinder toben herum. Vergeblich fragt Carl sie nach dem Blazer.

Eine drogensüchtige Prostituierte, die ihn zu kennen scheint und Charly nennt, fordert ihn auf, ihr Morphium zu geben. Tatsächlich hat er die zwei im Auto gefundenen Ampullen bei sich. Er zerbricht sie, und die Frau schleckt den Rest der Flüssigkeit vom Boden auf, obwohl sich dabei Glassplitter in ihre Zunge bohren. Eine kräftige Prostituierte kommt dazu und schlägt Carl mit der Faust ins Gesicht. Er verliert das Bewusstsein und kommt in einem Straßengraben wieder zu sich.

Endlich schleppt er sich in den Hotelbungalow. Er sagt Helen, er sei vermutlich Cetrois und erzählt ihr von den Metallkapseln in der Kugelschreibermine und wie sie ihm samt dem Blazer von Kindern gestohlen wurden.

Kurz darauf verlässt sie das Hotel, ohne sich von Carl zu verabschieden. Erst jetzt schöpft er Verdacht. Der tödliche Handkantenschlag gibt ihm ebenso zu denken wie die Frage, welcher Kosmetikkonzern wohl eine Repräsentantin in diese Gegend schicken würde. Handelt es sich bei Helen um eine Geheimagentin? Carl geht zu der Adresse, wo er den angeblichen Psychologen Dr. J. Carthusian Cockcroft konsultierte. Die Räume sind leer.

In den wenigen Tagen, an die er sich erinnern konnte, hatte er mehr ungereimtes Zeug erlebt als mancher Mensch in siebzig Jahren. Und nun lief er Gefahr, dieses neue Leben abermals zu verlieren. Helen verschwunden, Dr. Cockcroft verschwunden, eine Arztpraxis hatte vielleicht niemals existiert. Die Mine gestohlen, Bassirs Ultimatum abgelaufen … und möglicherweise schnitt gerade jemand seinem Sohn den Finger ab oder vergewaltigte seine Frau.

In einem Lokal wird er von Risa („Khach-Khach“) angesprochen, einem jungen Mann, der vor sechs Jahren als Kind zusehen musste, wie die Eltern, Großeltern, vier Schwestern und weitere Verwandte im Wüstensand angepflockt und dann von Armeepanzern überrollt wurden. Ob Carl ihn nach Tindirma fahren könne, fragt er. Als sie dort ankommen, bemerkt Carl Adil Bassir und drei seiner Männer in einem Jeep, aber er entkommt ihnen in seinem Mercedes. Adil Bassir fragt zwei Kinder, wohin der Wagen gefahren sei. Weil die beiden Jungen stumm bleiben, zerschießt Julius einem von ihnen den Ellbogen, aber der andere sagt noch immer nichts. Da meint einer der Männer, es handele sich wohl um „Scheißtuareg“, die ihre Sprache nicht verstünden.

Carl lässt den auffälligen Wagen stehen und flüchtet zu Fuß weiter. Ein Polizist mit einer Pistole in der Hand will ihn verhaften. Da taucht Cockcroft mit zwei Begleitern auf. Nachdem der angebliche Psychologe dem Polizisten Geld gegeben hat, zerren die drei Männer Carl in ihren Wagen. Sie fahren ins Kangeeri-Massiv. Dort binden sie ihren Gefangenen an die Stoßstange und übernachten.

Am nächsten Tag bringen sie ihn in einen Raum im Bergwerk und fesseln ihn auf einen Stuhl. Immer wieder fragt Cockcroft, wie er heiße, und ebenso oft antwortet Carl, er wisse es nicht. Aber Cockcroft ist überzeugt, dass er die Amnesie nur vortäuscht. Er lässt ein Gerät hereinbringen, mit dem Elektroschocks verabreicht werden können. Dummerweise wurde Carl so fest auf den Stuhl gefesselt, dass die Männer nun nicht mehr an seine Genitalien herankommen. Weil sie nicht so recht wissen, wie der Strom auf das Herz wirkt, befestigen sie die Elektroden an der linken Hand und am rechten Fuß. Als sie den Apparat bedienen, verkrampft Carl sich in Erwartung des Schmerzes, aber der bleibt aus. „Der Kerl spürt überhaupt nichts“, konstatiert Cockcroft. Die Männer überprüfen die Verkabelung und entdecken schließlich eine Stellschraube am Gerät. Die drehen sie bis zum Anschlag nach rechts. Der nächste Stromstoß schleudert Carl samt dem Stuhl gegen die Wand.

Viele Elektroschocks später kommt Helen herein. Carl wird gezwungen, ein Abführmittel zu trinken. Dann werden seine Fesseln gelöst und weil er selbst nicht mehr dazu in der Lage ist, ziehen ihn die Männer aus. Sie warten, bis das Mittel wirkt und durchsuchen dann den Kot mit einem Taschenmesser. Aber sie finden nichts. Daraufhin fesseln sie ihn wieder auf den Stuhl, und Helen übernimmt die weitere Folterung.

Zwischendurch erzählt sie ihm, wie sie den Geheimauftrag bekam, von Spanien nach Nordafrika zu reisen und das Material sicherzustellen, das offenbar Gegnern zugespielt werden sollte, um sie beim der Entwicklung einer Atombombe zu unterstützen.

Wir wussten, dass die Übergabe in Tindirma stattfindet. Und auch wann ungefähr. Wir wussten, wer es übergibt, aber nicht an wen. Im Hotel gab es eine Reservierung für einen Mann namens Herrlichkoffer. […] Wir haben diesen herrlichen Koffer jedenfalls am Flughafen in Targat ausfindig gemacht und nach Tindirma verfolgt, und dort haben wir ihn verloren. Er ist im Hotel nicht aufgekreuzt. Und wir hätten natürlich vorher zugreifen können, aber wir wussten auch nicht, ob er das Ding dabeihat. Oder wo es ist. Wir wussten nicht mal genau, was es ist oder in welcher Form es transportiert wird. Wir wussten nur, wo es herkommt, aus welchen Forschungslabors.

Nach ein paar Tagen fanden Helen und die anderen CIA-Agenten Herrlichkoffer wieder und beschatteten ihn weiter, aber dann brachte das Massaker in der Hippie-Kommune alles durcheinander. Helen wollte schon aufgeben, da lief ihr in einer Tankstelle Carl über den Weg und sie ahnte sofort, dass er etwas mit den gesuchten Gegenständen zu tun haben könnte. Allerdings konnten ihre stümperhaften Kollegen nicht verhindern, dass er von Adil Bassir entführt wurde.

Schließlich bringen sie Carl zu einem Tümpel im Bergwerk. Dort ketten sie ihn so mit dem Hals an, dass er sich auf die Ellbogen stützen muss, um nicht zu ertrinken, und dann gehen sie. Carl glaubt nicht, dass er die Lage lange ertragen wird.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die männlichen Geheimagenten verlassen das Land noch am selben Abend. Helen fliegt erst am nächsten Tag.

Amadou Amadou schlägt sich in den Süden durch, und seine Spur verliert sich. Der Schnapsbrenner Mohammed Bennouna, der seine beiden Söhne vermisst, wird von einem Gericht für schuldig befunden, den Polizisten Canisades ermordet zu haben. Er endet am Galgen.

Polidorio will mit dem Auto von Targat nach Tindirma fahren, kommt jedoch nie dort an, bleibt verschollen und wird 1983 für tot erklärt.

Heather Gliese schreibt dem Autor des vorliegenden Buches, der zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse sieben Jahre alt war, ihre Mutter Helen sei nach einem erfüllten Leben kurz vor ihrem 72. Geburtstag gestorben.

Aber was wurde aus dem Mann, der seinen Namen vergessen hatte?

Ein kurzer Blick zum Kameraassistenten, flüchtiges Schulterzucken beiderseits, und schon zoomt die Kamera die Öffnung eines Bergwerkstollens heran, die als winziger Punkt auf der gegenüberliegenden Bergflanke zu erkennen war, nun rasch größer wird, dunkler wird, bis sie die ganze Leinwand einnimmt und wir mit einer Mischung aus rasender Kamerafahrt und komplizierter Tricktechnik tief in das Innere des Berges hineinfliegen.

Carl gelang es, den Eisenpfahl, an den er gefesselt war, aus dem Boden zu reißen. Die Halskette mit dem Pfahl hinter sich herziehend, irrte er durch die Gänge des Bergwerks, bis er endlich völlig entkräftet den Ausgang fand und ins Freie trat. Da flog die Türe der Hütte des Goldgräbers Hakim III. auf.

Hakim von den Bergen kam herausgehüpft, nackt bis auf eine zerschlissene Unterhose, die um seine Knie schlotterte. Er sah schrecklich aus. Seine Füße waren mit einem Hanfseil zusammengebunden. Exkremente an seinen Schenkeln festgetrocknet. Um die Handgelenke trug er dicke Fesseln, die Verbindung zwischen ihnen war durchgescheuert. Ungelenk hopste er in den Morgen hinaus, die Unterhose schlackerte auf die Knöchel hinab. Unterm Arm die Winchester. Er starrt Carl an. Er schrie.
„Wir kennen uns“, rief Carl und hob beschwichtigend die blutigen Hände.
„Allerdings“, sagte Hakim und lud das Gewehr durch. „Scheißamerikaner!“
„Ich gehör nicht zu den andern! Ich bin keiner von denen!“
„Natürlich nicht – und ich bin der König von Afrika.“
„Ich hab dir nichts getan!“
„Du hast mir nichts getan! Nein, nur deine Frau, der stinkende Haufen Kameldung!“, brüllte er Alte, legte an und schoss Carl eine Kugel zwischen die Augen.

Hakim schleifte den Toten in die Hütte, packte seine Sachen, stellte sie ins Freie und zündete dann die Hütte an, bevor er das Kangeeri-Massiv für immer verließ.

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Mit dem Roman „Sand“ parodiert Wolfgang Herrndorf (1965 – 2013) auf intelligente Weise das Genre des Agententhrillers. Die Handlung spielt irgendwo in Nordafrika während acht Terroristen der palästinensischen Gruppe „Schwarzer September“ in München das Quartier der israelischen Mannschaft im Olympischen Dorf überfallen [Attentat bei den XX. Olympischen Spielen].

In den ersten Kapiteln fängt Wolfgang Herrndorf nacheinander mehrere Handlungsstränge an, die zunächst nichts miteinander zu tun haben. Erst auf Seite 87 beginnt die Haupthandlung, in deren Mittelpunkt ein Mann steht, der nach einem Schlag auf den Kopf sein Gedächtnis verloren hat. Durch Zufälle, Irrtümer und Missverständnisse verheddern sich die einzelnen Handlungsfäden.

Lesenswert ist „Sand“ weniger wegen der grotesken, episodenhaften Handlung, die auch durchaus Längen aufweist, sondern vor allem aufgrund der sprachlichen Virtuosität des Autors. Im Text funkeln witzige Einfälle und präzise gesetzte Pointen. Außerdem erzählt Wolfgang Herrndorf die Geschichte(n) so bildhaft, dass man glaubt, einen Film zu sehen.

Übrigens: Die Romanfigur Helen Gliese bewohnt in der fiktiven nordafrikanischen Stadt Targat einen Bungalow des Hotels Sheraton mit der Nummer 581d. In der Realität gibt es 20 Lichtjahre von der Erde entfernt einen Exoplaneten mit der Bezeichnung „Gliese 581d“, und man geht davon aus, dass er sich in einer habitablen Zone befindet.

Den Roman „Sand“ von Wolfgang Herrndorf gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Stefan Kaminski (Regie: Harald Krewer, Berlin 2012, 805 Minuten, ISBN 978-3-8398-1153-5).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Rowohlt-Berlin Verlag

Wolfgang Herrndorf: tschick
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Petra Hammesfahr - Das Geheimnis der Puppe
Petra Hammesfahr versteht es in "Das Geheimnis der Puppe", Atmosphäre und Spannung aufzubauen, in vermeintlich harmlosen Szenen unheilvolle Spuren zu legen und grausige Ahnungen aufkommen zu lassen. Sehr gekonnt entwickelt sie die Geschichte auf vier verschachtelten Ebenen.
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