Philippe Grimbert : Ein Geheimnis

Ein Geheimnis
Originalausgabe: Un secret Editions Grasset & Fasquelle, 2004 Ein Geheimnis Übersetzung: Holger Fock und Sabine Müller Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-518-41750-9, 155 Seiten Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2007 ISBN 3-518-45920-1
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Philippe Grimbert ist fünfzehn, als ihm die Familienfreundin Louise ein Geheimnis enthüllt: Er und seine Eltern sind Juden, und die Familie hat die Zeit der deutschen Besatzung in Frankreich nicht so unbeschadet überstanden, wie man ihn glauben machen wollte ...
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Kritik

"Ein Geheimnis" ist ein ergreifender autobiografischer Roman von Philippe Grimbert, ein feinfühlig erzähltes, stilles und poetisches Buch, eine literarische Perle.
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Als Einzelkind hatte ich lange Zeit einen Bruder. Meine Ferienbekanntschaften, meine Spielgefährten mussten mir aufs Wort glauben, wenn ich ihnen dieses Märchen auftischte. Ich hatte einen Bruder. Schöner als ich, stärker als ich. Einen älteren Bruder, erfolgreich und unsichtbar. (Seite 9)

Mit diesen Worten beginnt der Roman „Ein Geheimnis“ von Philippe Grimbert.

Meine Taufe fand so spät statt, dass ich mich noch gut erinnern kann: an die Handbewegung des Priesters, den Abdruck des nassen Kreuzes auf meiner Stirn, das Gefühl, als ich mich an den Priester schmiegte und unter dem bestickten Ende seiner Stola aus der Kirche hinaustrat. Ein Bollwerk, das mich vor dem himmlischen Zorn bewahren würde. Sollte der Sturm von neuem losbrechen, würde mich der Eintrag ins Taufregister schützen. Ich wusste davon nichts […]
Das unauslöschliche Zeichen, das mein Geschlechtsorgan trug, schrumpfte zur Erinnerung an einen notwendigen chirurgischen Eingriff. Da war nichts mehr von einem Ritual, es war eine ganz normale Entscheidung, getroffen aus medizinischen Gründen […] (Seite 13f)

Philippe ist „mager, kränklich und blass“, ganz im Gegensatz zu seinen sportlichen Eltern: seine Mutter Tania liebt Turmspringen und Bodenturnen, sein Vater Maxime Ringen und Geräteturnen, beide spielen Tennis und Volleyball. In einem alten Viertel von Paris betreiben sie einen Großhandel für Trikotagen und Strickwaren. Gleich neben dem Geschäft befindet sich die Massagepraxis von Mademoiselle Louise, die mit der Familie befreundet ist. Sie ist über sechzig und humpelt wegen eines Klumpfußes; Trinken und Rauchen haben in ihrem Gesicht deutliche Spuren hinterlassen.

Einmal begleitet Philippe seine Mutter in das frühere Dienstmädchenzimmer unter dem Dach, das inzwischen als Abstellkammer benützt wird. Dort entdeckt er einen alten Plüschhund mit Bakelitaugen. Er drückt ihn an die Brust, aber als er das Unbehagen seiner Mutter spürt, legt er ihn zurück. Nach einiger Zeit kann er der Versuchung allerdings nicht widerstehen und holt sich das Stofftier. Etwa zur gleichen Zeit erfindet er auch seinen älteren Bruder, aus dem allerdings im Lauf der Jahre ein „spöttischer, manchmal verächtlicher Tyrann“ wird.

Philippe weiß, dass Caroline, die Mutter seines Vaters, starb, als dieser noch ein Kind war. Sein Großvater Joseph war aus Rumänien nach Frankreich emigriert und hatte in Paris einen Strickwarenhandel eröffnet. Maxime war der jüngste von drei Brüdern und wuchs zu einem selbstsicheren Frauenverführer heran. Tanias Vater André war ein arbeitsloser Geiger, der die Familie verließ, als seine Tochter noch klein war. Seine Frau Martha, die aus der russischen Provinz stammte, schnitt Stoffe zu, um den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind zu verdienen. Tania wurde Modezeichnerin. Philippe stellt sich vor, wie seine Eltern Maxime und Tania sich beim Sport kennen lernten, verliebten und heirateten. Während der deutschen Besatzung Frankreichs – da war Philippe noch nicht geboren – zogen sie sich zeitweise über die Demarkationslinie in die freie Zone zurück. Philippe glaubt, dass sie dort zwei glückliche Jahre an einem Hort des Friedens mitten im Krieg verbrachten.

Eines Tages sitzt Philippe neben seiner Mutter auf der Couch, und im Fernsehen läuft ein Film mit nachgestellten Szenen. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er Nackte auf dem Bildschirm:

Gebannt starrte ich auf diese entkleideten, sich aneinanderdrückenden Körper, ich konnte die Augen nicht mehr abwenden von den Frauen, die ihre Brüste bedeckten, den Männern, die ihre Hände über dem Geschlecht zu einer Muschel formten, während sie im Gänsemarsch durch die Kälte gingen […] (Seite 54f)

Einen Tag nach seinem fünfzehnten Geburtstag wird im Schulunterricht ein Dokumentarfilm gezeigt: „Halden von Schuhen und Kleidungsstücken, Pyramiden aus Haar und Gliedmaßen“ (Seite 57).

Mit den Eltern kann er darüber nicht sprechen, aber er drängt Louise, ihm zu erzählen, was damals los war. Auf diese Weise erfährt er, dass er tatsächlich einen älteren Bruder hatte. Nach und nach merkt er, wie unzutreffend seine bisherigen Vorstellungen waren. Sowohl Tania als auch Maxime waren vor ihrer Eheschließung schon einmal verheiratet, Maxime mit Hannah und Tania mit deren Bruder Robert. Auf der Hochzeit von Maxime und Hannah sahen Maxime und Tania sich zum ersten Mal. Er war von ihrer Schönheit sofort hingerissen und atmete auf, als Tania und ihr Ehemann Robert nach der Feier an ihren Wohnort Lyon zurückkehrten, denn er hätte es nicht länger ausgehalten, in ihrer Nähe zu sein, ohne sie berühren zu dürfen. Hannah und Maxime bekamen einen Sohn – Simon –, der sich prächtig entwickelte.

Im Zweiten Weltkrieg wurde Robert einberufen und an die Ostfront abkommandiert. Tania führte das von ihren Schwiegereltern übernommene Bettengeschäft in Lyon zunächst allein weiter, aber Lieferschwierigkeiten während des Kriegs zwangen sie nach einiger Zeit, es zu schließen. Sie fuhr zu ihrer Mutter Martha nach Paris und traf sich dort häufig mit ihren Verwandten: Georges und Esther, Elise und Marcel, Maxime, Hannah und Simon. Als Hannah bei einem gemeinsamen Ausflug ins Schwimmbad beobachtete, wie Maxime seine Schwägerin anstarrte, als diese in einem schwarzen Badeanzug elegant vom Turm ins Wasser sprang, erschrak sie.

Die Deutschen ordneten an, dass auch die Juden in Frankreich einen gelben Stern tragen mussten. Maxime war entsetzt.

Die Aussicht, sich das gelbe Zeichen an die Brust heften zu müssen, macht alle seine Bemühungen zunichte, vereint ihn zwangsläufig mit einer Gemeinde, zu der er Abstand halten wollte. (Seite 91)

Er beschloss, über die Demarkationslinie in die freie Zone zu fliehen und berief einen Familienrat ein. Elise, die als Ehefrau eines nichtjüdischen Franzosen einen unauffälligen Namen trug, zog es vor, mit Marcel in Paris zu bleiben. Maximes Vater Joseph wollte auch nicht mitkommen und stattdessen bei Marcel und Elise Zuflucht suchen. Maxime und Georges einigten sich darauf, es erst einmal zu zweit zu versuchen und ihre Frauen dann so rasch wie möglich nachkommen zu lassen. Die ebenfalls jüdische Familienfreundin Louise erhielt von einer Cousine die Adresse eines Obersten im Ruhestand, der mit seiner Tochter – einer über fünfzig Jahre alten unverheirateten Lehrerin – auf einem Anwesen in Saint-Gaultier an der Creuse lebte und bereit war, die Flüchtlinge aus Paris aufzunehmen.

Bevor Maxime und Georges aufbrechen konnten, wurden die Eltern von Hannah und Robert zusammen mit anderen Juden ihres Stadtviertels abgeholt und fortgebracht. Daraufhin beeilten die beiden Männer sich, ihren Plan zu verwirklichen und ließen sich von einem Schleuser für viel Geld über die Demarkationslinie bringen.

Kurz darauf erfuhr Hannah durch einen Brief, dass auch Tania in Saint-Gaultier eingetroffen war. Da wusste Hannah, dass sie Maxime an ihre Schwägerin verlieren würde und überließ alle weiteren Vorbereitungen für die Flucht Louise und Esther. Ein Lagerist besorgte ihnen gefälschte Ausweise, und Marcel brachte die drei Frauen mit Simon nach Montoire, wo der Schleuser in einer Gaststätte auf sie wartete. Nach Einbruch der Dunkelheit wollte er mit ihnen losgehen. Um nicht aufzufallen, saßen Louise und Esther, Hannah und Simon an zwei getrennten Tischen, und der Schleuser stand an der Theke und schwatzte mit dem Wirt. Plötzlich rissen drei deutsche Offiziere die Tür auf und kontrollierten die Papiere, zuerst von Louise und Esther, dann die des Schleusers. Als sie Hannah aufforderten, sich auszuweisen, legte sie wie in Trance sowohl ihren gefälschten als auch ihren richtigen Ausweis auf den Tisch, worauf sie und ihr achtjähriger Sohn abgeführt wurden. Es ging alles ganz schnell.

Nach der Ankunft von Louise und Esther in Saint-Gaultier schloss Maxime sich tagelang in seinem Zimmer ein. Eines Nachts schlich er zu Tania, legte sich zu ihr, küsste sie und hielt sich an ihr fest. Das wiederholten sie in den folgenden Nächten, dann liebten sie sich, wobei sie die Lippen zusammenpressten, um beim Orgasmus nicht zu schreien. Aber die Hausgemeinschaft merkte auch so, was vor sich ging und belauerte die beiden Liebenden argwöhnisch.

Robert starb in einem Lager an Typhus.

Als Paris von Charles de Gaulle befreit worden war, kehrten Maxime und Tania, Louise und Esther zurück. Tania zog wieder zu ihrer Mutter Martha. Erst nach längerer Zeit heirateten sie und Maxime. Der ließ den Familiennamen Grinberg in Grimbert ändern und wollte nichts mehr von früher wissen.

Tania verliert durch eine Hirnblutung ihr Sprech- und Gehvermögen. Sie magert ab, und der Muskelschwund entstellt ihren bis dahin so schönen Körper.

Als Philippe achtzehn Jahre alt ist, stirbt sein Großvater Joseph.

Im Centre de documentation juive contemporaine im Marais-Viertel blättert er so lange in den Unterlagen, bis er herausgefunden hat, was mit Hannah und Simon geschah: Nach einem kurzem Aufenthalt im Durchgangslager Pithiviers wurden sie nach Auschwitz transportiert und dort am Tag nach der Ankunft in die Gaskammern geschickt.

Nach dem Abitur studiert Philippe Philosophie und Psychologie:
Psychoanalytiker will er werden.

Bei einem Spaziergang versäumt Maxime es, den Hund Echo beim Überqueren einer stark befahrenen Straße anzuleinen. Der Tod des Tieres lässt ihn zusammenbrechen. Er gibt sich die Schuld daran. Sein Sohn setzt sich zu ihm.

Ich hörte mich sagen, dass er Recht habe, dass er dafür verantwortlich sei, aber nur dafür. Der Satz war mit einfach so entschlüpft, ohne dass ich zuvor darüber nachgedacht hatte. Er richtete sich auf, unsere Schultern berührten sich, und während ich aus dem Fenster starrte, spürte ich seinen fragenden Blick auf mir liegen. (Seite 141)

Zum ersten Mal reden die beiden über die Vergangenheit.

Der Tod unseres Hundes leitete eine neuerliche Wende ein: Ich hatte meinen Vater von seinem Geheimnis befreit. (Seite 142)

Einige Zeit später fasst Maxime seine Frau um die Taille, hilft ihr aufstehen, führt sie behutsam durchs Wohnzimmer auf den Balkon, schließt sie in die Arme und springt mit ihr in den Tod.

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Ein Heranwachsender erzählt von seinen Eltern und schließt dabei die Lücken dessen, was er weiß, mit eigenen Vorstellungen. Als Kind glaubt er, Tania und Maxime hätten während des Zweiten Weltkrieges zwei glückliche Jahre an einem Hort des Friedens in der unbesetzten Provinz verbracht. Erst als Fünfzehnjähriger erfährt er von einer Familienfreundin, wie unzutreffend dieses Bild war.

Obwohl es in „Ein Geheimnis“ um die Zerstörung einer Ehe durch eine leidenschaftliche Liebe und den Tod zweier Menschen im Holocaust geht, wirkt das behutsam erzählte Buch von Philippe Grimbert still und poetisch. Es handelt sich um eine autobiografische, durch die Kontrastierung der naiven Vorstellung eines Kindes mit der Realität besonders ergreifende Geschichte. „Ein Geheimnis“ ist ein subtiler, feinfühliger Roman, eine literarische Perle.

Philippe Grimbert wurde 1948 in Paris geboren. Für sein Buch „Ein Geheimnis“ erhielt der Psychoanalytiker und Schriftsteller den „Prix Goncourt des Lycéens 2004“.

Claude Miller verfilmte den Roman von Philippe Grimbert: „Ein Geheimnis“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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