Daniel Glattauer : Darum

Darum
Darum Erstausgabe: Franz Deuticke Verlag, Wien / Frankfurt 2003 ISBN 3-216-30677-1, 303 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Jan Haigerer gesteht einen vorsätzlichen Mord. Niemand hält den sympathischen Journalisten und früheren Verlagslektor für fähig, ein Verbrechen begangen zu haben. Zumal auch kein Motiv erkennbar ist. Also versuchen Freunde, Bekannte, Polizisten und Richter, ihn vor sich selbst zu retten.
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Kritik

Wer der Mörder ist, erfahren wir gleich zu Beginn, aber sein Motiv erst ganz am Schluss. – Mit einem außergewöhnlich originellen Plot, einem durchgehenden Spannungsbogen und viel Sprachwitz sorgt Daniel Glattauer in "Darum" auf intelligente Weise für eine vergnügliche Lektüre.
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Daniel Glattauers Roman „Darum“ beginnt mit einem vorgeschalteten Zitat:

Die Explosion macht meine Ohren taub. Der Marktplatz brennt. Die jetzt noch laufen, haben überlebt. Ich freue mich für sie. Keine fünf Meter vor mir wälzt sich eine alte Frau auf dem Asphalt. Ein roter Splitter steckt in ihrem Kopf. Ihr ist nicht zu helfen. Mir ist nicht zu helfen. Ich betrachte die Hand, die die Granate geworfen hat. Meine Hand. Ich kann nichts Böses daran erkennen. (Xaver Lorenz)

Jan Rufus Haigerer wurde am 18. Juli 1961 in Wien geboren. Sein Vater Berthold arbeitete als Lehrer für Deutsch und Philosophie; in der Freizeit schrieb er Gedichte, aber sie wurden nicht veröffentlicht. Als Jan sieben Jahre alt war, verließ der Vater ihn und die Mutter. Hildegard Haigerer verdiente den Lebensunterhalt für sich und den Jungen als Schneiderin. Sie kam 1989 bei einem Autounfall ums Leben. Jan studierte Germanistik und machte auch seinen Abschluss.

Ich hatte immer alles abgeschlossen, das täuschte ein wenig über die jeweilige Sinnlosigkeit hinweg.

Nach sieben erfolgreichen Jahren als Cheflektor beim Erfos-Verlag kündigte er ohne ersichtlichen Grund, besuchte die Journalistenschule in Hamburg und arbeitet nun seit neun Jahren als Reporter und Redakteur bei der „Kulturwelt“ in Wien.

Seine frühere Lebenspartnerin hieß Delia. Sie war Buchhändlerin.

Ich hatte sie sofort geliebt, sie hatte nichts dafür tun müssen. Was uns beide verbunden hatte, stand in den Büchern. Ich überarbeitete sie. Sie verkaufte sie. Wir beide lasen sie und sprachen darüber. Sie aber hatte jemanden gesucht, der die Bücher lebte und schrieb, einen echten Romanhelden.

Eines Tages rief der Portier der „Kulturwelt“ ihn zum Empfang. Da stand Delia und sagte: „Jan, ich bin hier, um dir zu sagen, dass ich dich verlassen werde.“ Jetzt lebt sie in Paris „mit dieser überschätzten französischen Schriftstellerarschgeige Jean Legat“.

Am 13. September 1998 kaufte Jan Haigerer eine Pistole.

Am Samstag, den 17. Oktober, um 11 Uhr, kommt er, wie verabredet, zu seiner Freundin Alex, um ihr beim Umzug in eine neue Wohnung zu helfen: Sie will sich von Gregor trennen, weil dieser sie mit Uschi betrügt.

Für die kommende Woche hat Haigerer sich freigenommen.

Nach dem Umzug fährt er zu „Bob’s Coolclub“. Weil noch nicht geöffnet ist, wartet er im Auto.

Ich saß hauptsächlich im geparkten Auto und versuchte an nichts zu denken. Zum Glück trommelte Regen aufs Dach, das war ein Sinneseindruck, mit dem ich leben und bei dem die Zeit verrinnen konnte.
Als ich noch Lektor beim Erfos-Verlag war, hatte ich einmal einen Roman bearbeitet, in dem alle paar Seiten Regen auf ein Autodach trommelte. Immer wenn der Autorin die Ideen ausgegangen und die Handlung entglitten war, trommelte Regen aufs Dach. […] Ihr Roman war erschütternd leer. Sie hatte ihren Lesern nichts mitzuteilen. Sie hatte nichts erlebt. Nichts außer Regen, der auf ein Blechdach trommelte.

Wie an den Abenden zuvor, setzt er sich schließlich an einen kleinen Tisch in einer Nische und bestellt bei der Kellnerin Beatrice einen halben Liter Blauen Zweigelt. Bob weiß, dass der Gast Reporter ist und nimmt deshalb an, er arbeite an einer Story. Haigerer beobachtet die etwa vier Meter entfernte Eingangstür.

Der Eingang war von der Mauerdecke aus mit einem Spot beleuchtet, aber nur bis zu einer Höhe von etwa anderthalb Metern. Darüber warf ein wuchtiger Balken seinen Schatten. Von meinem Platz aus sah ich Gäste, die eintraten, höchstens bis zur Höhe ihres Halses. Sie trugen Frauen- oder Männerschuhe, spitz oder breit, farbig oder schwarz. Sie hatten lange oder kurze Beine, enge oder weite Hosen, schmale oder dicke Bäuche, umhüllt von flippigen Jacken oder biederen Mänteln. Keiner glich dem Nächsten, jeder war anders, auf seine Weise unverwechselbar. Und doch hatten sie eine Gemeinsamkeit: Sie betraten allesam kopflos, vom Schatten des Balkens enthauptet, den Raum. Keiner von ihnen hatte ein Gesicht. Keiner hatte eine Mimik. Keiner zeigte Regungen.

Um 23.30 Uhr greift Haigerer in die linke Jackentasche und nimmt einen schwarzen Wollhandschuh heraus, in dem er die Pistole versteckte. Kurz darauf schießt er auf den Mann, der zufällig gerade hereinkommt.

Verblüfft stellt er fest, dass niemand Notiz von ihm nimmt. Alle kümmern sich aufgeregt um den Toten an der Eingangstür.

Jemand hatte inzwischen meinen halben Liter Blauen Zweigelt ausgetrunken. Ich, wer sonst.

Die Polizei trifft ein. Inspektor Tomek eilt gleich auf Haigerer zu und lacht: „Hätte ich wetten können, dass ihr wieder vor uns da seid.“ Mit „ihr“ meint er die Zunft der Reporter. Alle Gäste werden durchsucht, nur Haigerer nicht, obwohl er beteuert, nicht dienstlich hier zu sein. Schließlich verlässt Haigerer das Lokal und steigt in sein Auto. Auf dem Rücksitz liegt nutzlos die Tasche mit den Sachen für die Gefängniszelle.

Es hatte aufgehört zu regnen. Das bedeutete: Der Regen trommelte nicht mehr aufs Dach.
Ich beschloss, die nächste Polizeiwachstube aufzusuchen und mich zu stellen. Ich fand keinen Parkplatz. Mir fehlte die Kraft, einen Parkplatz zu suchen, und mir fehlte die Courage, in zweiter Spur stehen zu bleiben. Also fuhr ich weiter.

Obwohl es mitten in der Nacht ist, und Alex nicht seine Geliebte, sondern eine gute Freundin, fährt er zu ihr und fällt leidenschaftlich über sie her.

Am nächsten Morgen zieht es Haigerer zu „Bob’s Coolclub“ zurück.

[Ich parkte] und wartete auf irgendein Ereignis, das mich von meinem lähmenden Zustand befreien und mir die Handschellen anlegen konnte. Etwa eine halbe Stunde später trat dieses Ereignis ein, und zwar ruckartig durch die Beifahrertür. Ich ergab mich sofort –, vielleicht ein bisschen zu früh. Mona Midlansky von der „Abendpost“ nahm unaufgefordert, wie es ihre Art war, neben mir Platz.

Sie berichtet ihm, die Polizei habe herausgefunden, dass es sich bei dem Mordopfer um einen Homosexuellen handelte. „Inspektor Tomek meint, dass es möglicherweise ein Mord im Schwulenmilieu war.“ Nachdem sie sich verabschiedete, fährt Haigerer zu einer Polizeiwache und stellt sich dem Dienst habenden Beamten.

„Ich habe jemanden umgebracht“, sagte ich. […] Er nickte verständnisvoll und bot mir einen Platz an. […] „Können Sie sich ausweisen?“ – Ich griff in die Jackeninnentasche, zog den gefüllten Handschuh heraus, legte das Knäuel auf den Tisch und sagte: „Das ist die Tatwaffe.“ Er schob das Ding mit dem Ellbogen zur Seite und verlangte stur einen Ausweis.

Am späten Nachmittag bringt man ihn ins Hauptkommissariat zum Amtsarzt.

Er stellte seine Diagnose gleich bei der Begrüßung: „Dem Herrn von der Zeitung ist das Verbrechen gestern Nacht anscheinend sehr nahe gegangen.“

Niemand denkt daran, ihn festzunehmen. Um Mitternacht geht er wieder in „Bob’s Coolclub“, und in dieser Nacht bleibt es nicht bei einem halben Liter Blauen Zweigelt. Er lädt Beatrice auf ein Glas Wein ein.

Wir unterhielten uns, so gut es ging, ohne dass ich reden musste.

Am nächsten Morgen wacht er in ihrer Wohnung auf. Sie nahm ihn mit, weil er so betrunken war.

Gegen Abend ruft Inspektor Tomek an, offenbar völlig durcheinander, und bittet Haigerer, ins Kommissariat zu kommen. Dort eröffnen ihm die Beamten, dass es sich bei der abgegebenen und inzwischen untersuchten Pistole mit größter Wahrscheinlichkeit um die Tatwaffe handele und die Fingerabdrücke darauf ausschließlich von ihm stammten. Wo er die Waffe gefunden habe? Haigerer beteuert, die Pistole seit Tagen bei sich gehabt zu haben und betont noch einmal, der gesuchte Mörder zu sein. Da reagiert Tomek zornig, weil er annimmt dass der Reporter an einer Sensationsstory arbeitetet und ihm deshalb nicht weiterhelfen will. Er ordnet an, Haigerer festzuhalten und zu verhören.

Einer der Beamten heißt Lohmann.

Er war schon ein bisschen müde, seine Ziele mutierten bereits zu Illusionen, die er selbstironisch belächelte. Die Kapverdischen Inseln umsegeln, das wäre es für ihn gewesen. Oder mit dem Motorrad quer durch Australien und auf dem Rücksitz saß die Frau, die erst erfunden werden musste, und presste sich fest an seinen Rücken und schlang ihre Hände um seinen Bauch, der freilich zehn Kilo leichter und nicht mehr prall nach außen gewölbt war.
Immerhin: Lohmanns erste und letzte Ehe war intakt. Er hatte Frau und zwei Kinder. Nein, seine Frau hatte zwei Kinder und er hatte einen öden Beruf, hinter dem er sich mit seiner Einsamkeit verbarrikadierte. Aber das Reihenhaus hielt sie zusammen.

Während der nächsten drei Tage scheiden alle anderen Tatverdächtigen aus, und die Experten stellen fest, dass der tödliche Schuss exakt von dem Platz abgefeuert wurde, an dem Haigerer zur Tatzeit saß. Die Polizisten sind ratlos: Sie können sich das nicht erklären. Dieser stille, freundliche, etwas schüchterne Journalist ist doch kein Verbrecher!

Sie tippen ein schöngefärbtes Protokoll. Deshalb schreibt Haigerer hinter die 43 Seiten selbst einen Zusatz:

„Abschließend gebe ich, Jan Haigerer, noch einmal dezidiert an, dass ich die Tat schon Tage vorher bis ins Detail geplant hatte. Ich habe den Mord vorsätzlich begangen. Ich war weder betrunken noch in anderer Weise geistig beeinträchtigt oder verwirrt. Ich hatte einen klaren Kopf. Zum Opfer habe ich nichts zu sagen. Über das Motiv meiner Tat werde ich erst zu einem späteren Zeitpunkt sprechen. Ich erkläre ausdrücklich, dass ich die Tat nicht bereue.“ – Um den letzten Satz stritten wir gut eine Stunde. Sie waren zu dritt, ich gab schließlich nach. Der Satz mit der Reue wurde gestrichen.

Man bringt Haigerer in Untersuchungshaft. Auch das Gefängnispersonal behandelt ihn freundlich und zuvorkommend. Niemand glaubt, dass er ein Mörder ist. Der Präsident des Landesgerichts, der den Journalisten gut kennt, besucht Haigerer in der Zelle.

Er war ein Kulturmensch. Normalerweise sprachen wir über Shakespeare. Das heißt: Er sprach über Shakespeare und ich nickte. Diesmal hatten wir ein Kommunikationsproblem. Ihm war die Angelegenheit zutiefst peinlich. Mir sein Besuch. Also hielten wir es kurz.

Staranwälte melden sich, die seine Verteidigung übernehmen möchten. Allen voran Leitner, der sich bei den großen Schwurgerichtsprozessen den Journalisten immer anbiedert, um in die Zeitungen zu kommen.

„Jan, ich hol dich da auf der Stelle raus“, drohte er schon von weitem, noch bevor er den Haftraum betreten hatte. Er schnaufte, er musste den Weg hierher gelaufen sein, um noch ein paar Minuten zu gewinnen, die er mich früher hier rausholen wollte.

Die Zeitungen schreiben, bei dem erschossenen Rolf Lentz habe es sich um einen Drogensüchtigen gehandelt. Angeblich hatte Haigerer wochenlang Schießübungen durchgeführt. Er soll den Tod seiner Mutter bei einem Verkehrsunfall nicht verkraftet haben. Andere Journalisten behaupten, er sei ein schwerer Alkoholiker und hoch verschuldet.

Delia reist eigens aus Paris an, um ihm den Rechtsanwalt Pascal Bertrand zu empfehlen, einen Freund ihres Geliebten. Um das Honorar brauche er sich keine Sorgen zu machen. Doch Haigerer will keinen dieser prominenten Anwälte, denen es „nicht um Recht und Unrecht, sondern um Gewinnen und Verlieren“ gehe. Der Pflichtverteidiger, den man ihm schließlich zuteilt, Magister Thomas Erlt, ist zwölf Jahre jünger als er und auf Mietrecht spezialisiert.

Die Untersuchungsrichterin Helena Selenic weist ihn darauf hin, dass jemand für ihn bereits eine Kaution hinterlegt habe und man seinen Antrag auf Haftverschonung gewiss genehmigen würde. Aber Haigerer möchte nichts davon wissen.

Ein Gefängniswärter, der ihn bei seinem Spaziergang im Gefängnishof bewachen soll, vertraut ihm und raucht heimlich eine Zigarette, statt aufzupassen. Das hat für Haigerer böse Folgen: Zwei homosexuelle Häftlinge lauern ihm auf, überwältigen ihn und zerren ihn in die Tischlerei. „Weißt du, was wir mit Schwulenmördern machen?“ Er wird von beiden zugleich brutal vergewaltigt.

Alex teilt ihm brieflich mit, Gregor sei wieder bei ihr eingezogen. Am 26. Dezember erhält Haigerer einen Brief von Gregor mit Trauerrand: Alex nahm Tabletten und ist tot.

Für den Prozess wünschte ich mir einen dieser sportlich-strengen jungen Richter, die dringend Karriere machen mussten, weil sie den Segelschein schon hatten.

Der Prozess beginnt am 7. März 1999. Vorsitzende Richterin ist Anneliese Stellmaier, eine sehr verständnisvolle Frau, der es wirklich um Gerechtigkeit geht. Bei den Beisitzern handelt es sich um Ilona Schmidl und Helmut Hehl.

[Hehl] wirkte chronisch verschlafen und stand so knapp vor der Pensionierung, dass er alle paar Minuten auf die Uhr sah, ob es endlich so weit war.

Immer wieder versichert sich Haigerer: „Zum Glück bin ich kein depressiver Mensch.“ Doch Chris Reisenauer, ein Kollege von der „Kulturwoche“, sagt vor Gericht aus: „Jan war ruhig und verschlossen. Ich hatte den Eindruck, er war auf meisterhaft überspielte Weise depressiv.“

Als sich herausstellt, dass sein Vater sich erschossen hatte, atmen alle auf: Jetzt glauben sie zu durchschauen, was passierte. Haigerer wollte wie sein Vater Suizid begehen, riss im letzten Augenblick die auf sich gerichtete Pistole herum und traf unbeabsichtigt Rolf Lentz. Oder der Schuss löste sich von selbst. Jedenfalls handelt es sich offenbar um einen missglückten Selbstmordversuch. Der psychologische Sachverständige, Prof. Dr. Dr. Benedikt Reithofer, referiert über Menschen, denen es peinlich ist, einen gescheiterten Suizidversuch zuzugeben, die sich lieber vorstellen, einen Mord begangen zu haben, weil das zugleich ein Ventil für ihre aufgestauten Schuldgefühle sei.

Dem kann Staatsanwalt Siegfried Rehle wenig entgegensetzen. Die Zeitungen feiern bereits Haigerers Freispruch. Da bittet er ums Wort und revidiert seine Aussage: Er habe nicht auf einen Unbekannten geschossen, sondern auf seinen – Geliebten! Aus Eifersucht. Wegen der Schande der Homosexualität habe er so lange geschwiegen.

Während er über seine angebliche Beziehung zu Rolf Lentz aussagt, kippt die Stimmung: Endlich sehen ihn alle wie einen Verbrecher an.

Regen trommelte aufs Dach. Ich lachte lautlos. Ich war ein Verbrecher geworden. Zum Mord gehörten drei – das Opfer, der Täter und diejenigen, die den Täter Täter sein ließen. Endlich ließen sie mich.

Maria Lentz, eine Cousine des Toten, sagt als Zeugin aus, Rolf sei HIV-positiv gewesen. Schwule Bekannte von Rolf Lentz schauen sich den Angeklagten an und versichern dem Gericht: „Mit so einem wie dem hatte Rolf ganz bestimmt nichts zu tun.“ Delia beteuert: „Jan war ein leidenschaftlicher Liebhaber.“ Das Gericht lässt Dr. Szabo laden, den behandelnden Arzt von Rolf Lentz. Er bestätigt, dass sein Patient an Aids erkrankt war. Von einer Lungenentzündigung im letzten Sommer hätte er sich nicht mehr erholt. Dr. Szabo berichtet, er sei wochenlang Tag und Nacht bei Rolf Lentz gewesen und habe ihn mit Morphium ruhig gestellt. Dann habe Rolf Lentz noch ein letztes Mal allein ausgehen wollen – und sei dabei erschossen worden. Auf keinen Fall wäre der Patient in den letzten fünf Wochen seines Lebens zu irgendeiner Art Liebschaft fähig gewesen.

Haigerer muss also die Unwahrheit gesagt haben. Warum hatte er dann aber Rolf Lentz erschossen?

Die Aussagen der früheren Krankenpflegerin Anke Lier und des freischaffenden Grafikers Engelbert Auersthal scheinen die Frage zu beantworten. Sie planten zusammen mit Rolf Lentz eine Performance, um seiner aggressiven Krankheit künstlerische Energien entgegenzusetzen. Haigerer fanden sie durch eine Kleinanzeige. Er war bereit, dem Totkranken Sterbehilfe zu leisten. Rolf Lentz wollte nämlich nicht feig Tabletten schlucken, sondern seinen Tod inszenieren: „Szene V“ in „Frei Tod Mauer“. Um die Aussagen zu untermauern, liest Auersthal dem Gericht aus E-Mails von Haigerer und Lentz vor. Es war also Tötung auf Verlangen! Hilflos leitet Staatsanwalt Siegfried Rehle ein Verfahren gegen die beiden Zeugen wegen Mittäterschaft ein.

Haigerer versichert noch einmal: „Ich habe einen vorsätzlichen Mord an einem mir völlig fremden Menschen begangen.“ Niemand nimmt ihn mehr ernst. Die Vorsitzende Richterin ordnet an, ihn bis zur Urteilsverkündung freizulassen. Haigerer verspricht Beweise und fährt mit seinem Pflichtverteidiger zum Flughafen. Doch das Schließfach 260898 ist leer!

Wegen Tötung auf Verlangen wird Haigerer zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Richterin Anneliese Stellmaier rät ihm dringend, das Trauma mit Hilfe eines Psychiaters aufzuarbeiten. „Sie müssen davon wegkommen, sich unverhältnismäßig streng bestrafen zu wollen. Sie müssen sich verzeihen können.“

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Haigerer weiß nicht, wohin er soll und folgt dem Gefängniswärter, der ihn abholt und in eine Wohnung bringt – die der Untersuchungsrichterin Helena Selenic! „Regen trommelt[e] aufs Dach.“ Sie ist nicht da, stellt ihm jedoch ihre Wohnung zur Verfügung. Dort findet Haigerer zwei Briefe. Beatrice schreibt, er habe in der Nacht bei ihr immer wieder die Zahl 260898 genannt und gestammelt: „Ich hab ihn erschossen!“ Nach seiner Verhaftung sei sie zur Untersuchungsrichterin gegangen, um es ihr zu berichten. Helena fand das Schließfach und las alles. Seither weiß sie, dass Jan Haigerer tatsächlich einen Fremden erschoss. Sie unterdrückte Beweise, fälschte Urkunden, bestach Zeugen und verleitete sie zu Falschaussagen, um ihn zu retten. Es fiel ihr nicht schwer, weil die Leute ohnehin nicht glauben wollten, dass Haigerer ein Mörder war.

In der Küche liegt das Material aus dem Schließfach, obenauf die 14 Ablehnungsschreiben der Verlagslektoren an den Autor mit dem Pseudonym Xaver Lorenz. Haigerer liest noch einmal den letzten der Briefe. Er ist vom 26. August 1998 (26-08-98!).

„Schreiben Sie niemals etwas, wovon Sie nichts verstehen! Das ist die Todsünde der Belletristik. Gute Bücher sind gelebte Bücher. Nur ganz große Autoren können Bücher leben, ohne sie erlebt zu haben. Verzeihen Sie mir, Herr Lorenz: Sie sind keiner dieser ganz, ganz Großen. Bleiben Sie beim Faktischen, halten Sie sich an den Dingen fest, die aus Ihrem Alltag entstehen. […] Aber, ich bitte Sie, vergessen Sie den großen psychologischen Roman!“

Auch sein schriftliches Schuldgeständnis liegt dabei. Mit seiner Entlassung aus dem Gefängnis wäre bei einer Verurteilung wegen Mordes in zwanzig Jahren zu rechnen gewesen. Dann wollte er das Motiv für seine Tat aufdecken.

„Gute Bücher sind gelebte Bücher, lehrt man in Boston. Ich werde das nachholen. Ich werde mein Buch leben. Ich werde dafür büßen. Und zwanzig Jahre später, wenn mich das Gefängnis in die Freiheit gespuckt hat, werde ich das Manuskript überarbeiten. Ich werde ihm Leben einhauchen, mein Leben, meinen Mord.“

Niemand hätte dann mehr daran zweifeln können, dass er erlebt hatte, was er schrieb. Aber Jan Haigerer war nicht nur als Schriftsteller, sondern auch als Verbrecher gescheitert, denn niemand will ihm glauben, dass er einen Mord beging.

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Der Plot von „Darum“ ist ausgesprochen originell. Daniel Glattauer erzählt die Geschichte über mehrere unerwartete Wendungen hinweg so stringent, dass man kaum merkt, wie unwahrscheinlich sie ist. Selbst bei der Rolle der verliebten Untersuchungsrichterin erinnert sich der Leser an Fälle, in denen Gefängnisbeamtinnen verurteilten Mördern aus Liebe zur Flucht verhalfen.

Wer der Mörder ist, erfahren wir in „Darum“ auf den ersten Seiten: Der Ich-Erzähler Jan Haigerer. Der stellt sich dann auch selbst und beteuert immer wieder, den Mord begangen zu haben. Nur über das Motiv schweigt er sich aus. Wir erfahren es erst ganz am Schluss. Vorher wird es allenfalls angedeutet, etwa wenn Delia vor Gericht aussagt, Haigerer habe vor der Trennung in seiner Freizeit bloß noch zu Hause gesessen und geschrieben. Der Anklagte wiegelt ab: Das seien bloß Tagebucheintragungen gewesen. Delia insistiert:

„Aber du hast doch auch einmal einen Roman versucht, Jan“, erinnerte mich Delia. „Roman versucht“, das waren traurige Worte. „Ach, das“, sagte ich. Jetzt lachte ich laut auf. Ich erschrak darüber.

An mehreren Stellen reflektiert Daniel Glattauer in „Darum“ über das Schreiben.

Abzeichnen ist etwas anderes als malen. Der Journalist zeichnet die Wirklichkeit ab, der Schriftsteller malt sie.

Romane wuchsen in einem, man trug sie in sich und musste geduldig warten, bis sie reif waren, freigelegt zu werden. Die einen lebten sie, die anderen schrieben sie. Die sie lebten, musste sie nicht schreiben können. Doch die sie schrieben, mussten sie gelebt haben. Ein Roman, der aus dem vollen Erlebnis schöpfte, konnte wohl auch ein schlechter Roman werden. Aber ein Roman, der nie gelebt und empfunden worden war, konnte niemals ein guter sein.

Als ich noch Lektor beim Erfos-Verlag war, litt ich am meisten unter Manuskripten, die verheißungsvoll begannen und bald schon hoffnungslos versandeten. Am Anfang wurden oft Feuerwerke von Ideen gezündet, stieben auseinander und leuchteten hell in alle Richtungen. […] Und spätestens nach einem Drittel verpuffte die im Computer gezüchtete und in Schreibprogrammen gespeicherte Energie, sackte das feurige schriftstellerische Kunstwerk in sich zusammen. Der Handlungsbogen hatte sich überspannt, war gebrochen, hing lasch herab, in belanglosen grauen Fetzen.

Der letzte Kommentar ist mutig. Auch Daniel Glattauer erfüllt nicht ganz die durch den fulminanten Anfang geweckten Erwartungen. Samuel Goldwyn soll Drehbuchautoren einmal geraten haben: Mit einem Erdbeben anfangen und dann ganz langsam steigern. Glattauer fängt mit einem Erdbeben an, aber er vermag es nicht zu steigern.

Die sprachliche Qualität hält er jedoch aufrecht. Neben dem originellen Plot und gelungener Suspense trägt der Sprachwitz zum Lesevergnügen bei. Einige der Zitate in der Inhaltsangabe sind Beispiele dafür. Neben Sprachspielereien gehören dazu running gags wie das Trommeln des Regens auf Autodächern oder die wiederholte Versicherung: „Zum Glück bin ich kein depressiver Mensch.“ Mehrmals verweist der Ich-Erzähler auf einen Satz, den er als Lektor nicht hätte durchgehen lassen, oder er vergleicht das Erzählte mit Kinofilmen.

„Meine liebe Alex“, sagte ich und das klang nach einer Grundsatz- bis Abschlusserklärung, „ich hatte einfach eine hundsmiserable Nacht und du hast mich aufgefangen …“ – „Und das vergisst du mir nie“, spöttelte sie. Ich streichelte ihr Gesicht und legte ihr den Finger auf den Mund, wie in einem relativ schlechten Liebesfilm. In einem ganz schlechten hätte ich noch „Pssst“ geflüstert.

„Darum“ ist ein intelligenter Unterhaltungsroman, den ich mit großem Vergnügen las.

Harald Sicheritz verfilmte ihn.

Originaltitel: Darum – Regie: Harald Sicheritz – Drehbuch: Agnes Pluch, Harald Sicheritz, nach dem Roman „Darum“ von Daniel Glattauer – Kamera: Thomas Kienast – Schnitt: Paul M. Sedlacek – Musik: Lothar Scherpe – Darsteller: Wolf Bachofner, Wolfram Berger, Eva Billisich, Nadeshda Brennicke, Roland Düringer, Stefanie Dvorak, Michou Friesz, Andrea Händler, Max Linder, Stefan Matousch, Lukas Miko, Erika Mottl, Cornelius Obonya, Catherine Oborny, Nikolaus Paryla, Filip Peeters, Wolfgang Pissecker, Michael Rastl, Heinrich Schmieder, Anna Thalbach, Raphael von Bargen, Kai Wiesinger, Joe Zroug u.a. – 2007; 90 Minuten

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Deuticke Verlag

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