Franziska zu Reventlow
1868: Der Jurist Ludwig Graf zu Reventlow (1824 – 1893) wird zum Königlich-Preußischen Landrat in Husum ernannt. Damit stehen ihm nicht nur Amtsräume für die Verwaltung der Stadt und die Leitung der Polizei im Schloss vor Husum zur Verfügung, sondern auch Wohnräume für sich und seine Familie.
18. Mai 1871: Franziska zu Reventlow wird als fünftes von sechs Kindern des Ehepaars Ludwig Graf zu Reventlow und Emilie (1834 – 1905), geb. Gräfin zu Rantzau, geboren.
21. Mai 1878: Franziskas Bruder Theodor stirbt nach langer Krankheit im Alter von sechzehn Jahren.
Franziskas zehn Jahre ältere Schwester Agnes richtet sich nach den Wünschen der Mutter, die überzeugt davon ist, dass Frauen sich selbst verleugnen müssen und ihr Glück ausschließlich bei der Haushaltsführung und in der Mutterschaft finden können. Eine derartige Selbstbeschränkung kommt für Franziska nicht in Frage. Sie rebelliert schon als Kind gegen jede Bevormundung und empfindet ihre Mutter als gefühlskalt, lieblos und abweisend. Vor allem im Vergleich zu ihren Brüdern fühlt sie sich benachteiligt. Mit Strenge, Zwang und Ohrfeigen versucht Emilie Gräfin zu Reventlow sie nach ihren Vorstellungen zurechtzubiegen, aber das gelingt weder ihr noch einer der französischen Gouvernanten, die das eigensinnige Mädchen ab 1878 erziehen sollen.
1885: Als die Eltern längere Zeit verreist sind und die Gouvernante erkrankt, nutzen Franziska und ihr jüngerer Bruder Carl die ungewohnte Freiheit, um ausgiebig in Husum herumzustreunen. Daraufhin wissen sich die Eltern keinen anderen Rat mehr, als die bald Fünfzehnjährige Ostern 1886 in das »Freiadelige Magdalenenstift« in Altenburg nordwestlich von Chemnitz zu schicken.
1886: Franziska zu Reventlow muss das evangelisch-lutherische Mädchenpensionat wieder verlassen, unter anderem, weil sie sich verbotenerweise Geld lieh, um einer Schulfreundin einen Gedichtband schenken zu können.
Juni 1887 bis Weihnachten 1888: Aus erzieherischen Gründen und um sich von der Gegenwart der immer wieder aufbegehrenden Tochter zu befreien, sorgt Emilie Gräfin zu Reventlow dafür, dass Franziska einige Zeit bei verschiedenen Verwandten verbringt. Den Aufentalt bei Tante Fanny Gräfin zu Rantzau, die als Stiftsdame im »Adeligen Kloster Preetz« lebt, einer Versorgungseinrichtung für unverheiratete bzw. verwitwete Aristokratinnen, findet Franziska sehr angenehm, denn im Gegensatz zu ihrer Mutter begeistert sich die Tante für Kunst und Literatur. Während Franziskas künstlerische und literarische Ambitionen zu Hause unterdrückt werden, richtet ihr die Tante sogar ein Atelier ein und beauftragt eine in der Nähe wohnende Künstlerin, sie zu unterrichten.
1888: Weil Franziska davon ausgeht, dass sie nie die Erlaubnis bekommen würde, Kunst zu studieren, bittet sie ihren Vater darum, ein Lehrerinnenseminar besuchen zu dürfen, aber auch das lehnt er ab.
Weihnachten 1888: Als Franziska wieder nach Hause kommt, erfährt sie, dass ihr Vater nach seiner bevorstehenden Pensionierung nach Lübeck möchte.
September 1889: Umzug der Familie nach Lübeck. Franziska, die erneut bei Verwandten lebt, folgt der Familie allerdings erst einen Monat später.
1889/90: Durch ihren Bruder Carl lernt Franziska zu Reventlow Emanuel Fehling kennen, einen Sohn der einzigen Tochter des Dichters Emanuel Geibel und des Rechtsanwalts Emil Ferdinand Fehling, des späteren Senators und Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Lübeck. Emanuel Fehling führt die Geschwister in den »Ibsenclub« ein, in dem aufmüpfige Jugendliche Ibsen und andere zeitgenössische Autoren lesen. Franziskas Eltern dürfen weder etwas vom »Ibsenclub« erfahren noch von der schwärmerischen Freundschaft, die sich zwischen ihr und Emanuel Fehling entwickelt. Obwohl beide von der freien Liebe reden, scheuen sie davor zurück, miteinander zu schlafen, vielleicht aus Sorge, sie würden dadurch die Romantik ihrer Beziehung zerstören.
1890: Franziska Gräfin zu Rantzau kann ihre elf Jahre ältere Schwester und deren Mann überreden, ihre Nichte zu der am 10. Oktober stattfindenden Aufnahmeprüfung für das von Clara Roquette gegründete private Lehrerinnen-Seminar in Lübeck anzumelden. Zu Beginn des Studiums nimmt Franziska zu Reventlow sich vor, ihren Abschluss nicht erst – wie üblich – nach zwei Jahren, sondern schon ein halbes Jahr früher zu machen. Das gelingt ihr denn auch: Im April 1892 erhält sie das »Zeugnis der Befähigung für den Unterricht an mittleren und höheren Mädchenschulen«.
Herbst 1891: Emanuel Fehling wird zum Militär eingezogen; der Briefwechsel zwischen ihm und Franziska zu Reventlow wird eingestellt. Die Zweiundzwanzigjährige wendet sich Karl Schorer zu, einem anderen Mitglied des »Ibsenclubs«. Auch dieses Verhältnis muss sie verheimlichen.
Sommer 1892: Als Franziska erneut Verwandte besucht, fällt ihrer Mutter ein zwischen den Seiten eines Lexikonbandes vergessener Brief Schorers in die Hand. Daraufhin brechen die Eltern Franziskas Schreibtisch auf – und finden darin auch Fehlings Briefe. Empört lässt Ludwig Graf zu Reventlow seiner Tochter durch seinen Bruder Georg ausrichten, er werde sie entmündigen lassen.
August 1892: Fürs Erste wird Franziska in ein Pfarrhaus in Adelby bei Flensburg verbannt.
April 1893: Weil sich der Vater nicht davon abbringen lässt, Karl Schorer als ihren Verlobten zu betrachten, um das seiner Meinung nach unsittliche Verhältnis nachträglich zumindest dem Anschein nach zu legitimieren, läuft Franziska aus dem Pfarrhaus davon und schlägt sich zu ihrer Freundin Else Gutschow in Wandsbek durch, wo sie sich allerdings vergeblich um eine Anstellung als Lehrerin bemüht, die ihr ein eigenständiges Leben ermöglichen würde.
Juni 1893: Franziska zu Reventlow erfährt, dass ihr Vater im Sterben liegt. Obwohl die Familie keinen Zweifel daran lässt, dass sie zu Hause unerwünscht ist, nimmt sie den Zug nach Lübeck. Tatsächlich darf sie ihren Vater erst wieder sehen, als er tot ist.
Ludwig Graf zu Reventlow hatte keine leere Drohung ausgesprochen, sondern wirklich vorgehabt, Franziska unter Kuratel stellen zu lassen, aber er starb, bevor er seine Absicht verwirklichen konnte. Sein Tod ermöglicht es Franziska zu Reventlow, die »Verlobung« mit Karl Schorer zu lösen. Ein paar Wochen später verlobt sie sich mit dem Gerichtsassessor Walter Lübke in Wandsbek, den sie durch Elise Gutschow kennen gelernt hatte und mit dessen Unterstützung sie selbstständig werden möchte.
August 1893: Walter Lübke ist bereit, ihr ein halbes Jahr Malunterricht in München zu bezahlen. Franziska zu Reventlow – wie sie sich nun nennt – reist in die bayrische Hauptstadt, aus der König Ludwig I. eine der bedeutendsten Kunstmetropolen Europas gemacht hatte. Franziska nimmt sich ein Zimmer in Schwabing, wo die Mietpreise noch vergleichsweise niedrig sind, weil der Ort erst am 31. Dezember 1890 eingemeindet wurde. Deshalb entwickelte sich Schwabing zum Künstlerviertel. Während Franziska zu Reventlow die renommierte Malschule von Anton Abe (1862 – 1905) besucht, schreibt sie weiterhin für die »Husumer Nachrichten«, die seit Jahresanfang Texte von ihr veröffentlichen.
November 1893: Trotz ihrer Verlobung beginnt Franziska Gräfin zu Reventlow eine leidenschaftliche Affäre mit dem polnischen Maler Adolf Herstein.
Weihnachten 1893: Als Walter Lübke seine Braut für ein paar Tage in München besucht, will sie sich von ihm trennen, bringt es jedoch nicht übers Herz, ihm zu sagen, wie es um sie steht.
Frühjahr 1894: Franziska zu Reventlow merkt, dass sie schwanger ist. Adolf Herstein will keine Vaterpflichten übernehmen und rät ihr deshalb, Walter Lübke zu heiraten.
22. Mai 1894: Die Trauung findet in Berlin statt, der Heimatstadt des ahnungslosen Bräutigams. Das frischgebackene Ehepaar zieht nach Hamburg, wo Lübke inzwischen als Jurist tätig ist.
14. Juni 1894: Franziska zu Reventlow erleidet eine Fehlgeburt, aber weder sie noch der Arzt klären Lübke über den wahren Grund ihrer vorübergehenden gesundheitlichen Probleme auf.
Mai 1895: Franziska zu Reventlow fährt erneut nach München. Sie nimmt sich vor, ihrem Mann endlich die Wahrheit zu sagen, verschiebt es jedoch immer wieder.
Juli 1896: Sie gesteht ihrem Ehemann die Wahrheit. Walter Lübke reicht sofort die Scheidung ein. Franziska beginnt, unter einer Depression zu leiden, aus der sie sich auch nicht durch neue Affären befreien kann.
Franziska zu Reventlow schreibt inzwischen für die von Albert Langen und Thomas Theodor Heine im April 1896 gegründete satirische Wochenzeitschrift »Simplicissimus«, und um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, betätigt sie sich ebenso emsig wie schludrig als Übersetzerin für den Albert Langen Verlag. Bei Gelegenheit prostituiertesie sich auch, aber eine dauerhafte Erwerbsquelle möchte sie daraus nicht machen.
Januar 1897: Eine medizinische Untersuchung bestätigt ihre Vermutung, erneut schwanger zu sein. Obwohl eine uneheliche Geburt als Skandal gilt und eine unverheiratete Mutter ebenso wie ihr Kind gesellschaftlich geächtet wird, freut sich Franziska zu Reventlow auf das Kind, das sie allein erziehen will. Wer der Vater ist, verrät sie nicht, und es wäre ihr auch nicht recht, wenn er sich um das Kind kümmern würde. Ihr Motto lautet zeitlebens: »Ich will überhaupt lauter Unmögliches, aber lieber will ich das wollen, als mich im Möglichen schön zurechtlegen.«
Frühjahr 1897: Während der Schwangerschaft muss sie den Scheidungsprozess durchstehen. Weil dabei auch zur Sprache kommt, dass sie bei der Hochzeit schwanger war, wird einige Zeit wegen des Verdachts einer strafbaren Abtreibung gegen sie ermittelt.
14. April 1897: Die Scheidung erfolgt. Franziska Gräfin zu Reventlow muss die Kosten übernehmen, denn das Gericht befindet sie des mehrfachen Ehebruchs für schuldig.
Ostern 1897: Daraufhin kann sie die Miete nicht mehr bezahlen. Sie mit dem befreundeten Studenten Rainer Maria Rilke vor dem Vermieter zum Bodensee.
Anfang Mai 1897 kehrt sie nach Schwabing zurück, aber sie muss sogar ihr Bettzeug ins Leihhaus bringen, obwohl sie Tag und Nacht übersetzt.
3. Juli 1897: Die Freude auf das Kind wechselt sich mit Depressionen ab. »Die Nächte sind fürchterlich«, schreibt sie am 3. Juli in ihr Tagebuch, »Angst, Selbstmordgedanken.«
1. September 1897: Franziska zu Reventlow wird von einem Sohn entbunden, den sie Rolf nennt. Sie macht sich nichts aus dem Getuschel der Leute, ist glücklich, ein Kind zu haben, lässt sich aber durch die Mutterpflichten nicht davon abhalten, weiterhin an Bällen und Atelierfesten teilzunehmen, bei denen es gerade in Schwabing heiß hergeht.
1899: In ihrem Essay »Viragines oder Hetären?« distanziert sich Franziska zu Reventlow von der Frauenbewegung: Zwar fordert sie auch für Frauen das Recht auf Selbstbestimmung, »volle geschlechtliche Freiheit« und sexuelle Emanzipation, aber sie ist der Meinung, dass eine Gleichstellung von Männern und Frauen bzw. eine Vermännlichung der Frauen die Erotik verkümmern ließe. Ihr Ideal ist nicht der Blaustrumpf, sondern die Hetäre.
1899: Begeistert nimmt Franziska zu Reventlow Schauspielunterricht.
1900: Otto Falckenberg, der Dramaturg und Regisseur des »Akademisch-Dramatischen Vereins« im Münchner Schauspielhaus, engagiert sie für die Hauptrolle in dem Bühnenstück »An des Reiches Pforten« von Knut Hamsun. Der Misserfolg der Aufführung ernüchtert Franziska zu Reventlow, und sie gibt ihre Absicht auf, eine Karriere als Schauspielerin zu versuchen.
31. Mai 1900: Franziska zu Reventlow begleitet mit ihrem kleinen Sohn den Geologen Albrecht Hentschel auf einer Reise von München über Wien, Budapest, Belgrad und Konstantinopel auf die griechische Insel Samos, wo der Forscher Gesteinsschichten untersucht. Nicht zuletzt wegen Hentschels barschem Ton gegenüber Rolf kommt es zu Spannungen. Schließlich gesteht Franziska, auch ein sexuelles Verhältnis mit dem Rechtsanwalt Alfred Friess zu haben, und Hentschel beichtet seiner Geliebten, dass er ihr seine Verlobung verheimlichte. Nach dieser Aussprache verstehen sich die beiden wieder besser und verbringen noch eine angenehme Zeit auf Samos.
Dezember 1900: Rückkehr nach München
1901: Zu Franziskas Vertrauten zählt auch der ein Jahr jüngere Graphologe Ludwig Klages, den sie seit Juni 1899 kennt. Durch ihn kommt sie in Kontakt mit dem okkulten Kreis der »Kosmiker«, dem außer Klages Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und Stefan George angehören, Männer, die sich als »Enorme« über die »Belanglosen« erheben wollen. (Franziska zu Reventlow karikiert die »Kosmiker« – von denen sie als »heidnische Madonna mit dem Kind« verehrt wird – in ihrem 1913 veröffentlichten Roman »Herrn Dames Aufzeichnungen«.)
1902: Klages erreicht, dass die Ehefrau eines polnischen Industriellen seiner Freundin vorübergehend eine monatliche Rente zahlt, damit diese an ihrem in Griechenland begonnenen Roman »Ellen Olestjerne« weiterarbeiten kann. Um sich nicht ablenken zu lassen, zieht Franziska zu Reventlow mit Rolf aufs Land, zuerst nach Lenggries und dann nach Schäftlarn. Zwischendurch entspannt sie sich mit Ludwig Klages am Ammersee.
Weil sie nicht bereit ist, den Namen von Rolfs Vater preiszugeben, bestehtd das Vormundschaftsgericht München darauf, dass der Junge einen Vormund haben müsse, und Franziska Gräfin zu Reventlow überredet Ludwig Klages, sich dafür zur Verfügung zu stellen. Als er jedoch nicht aufhört, sie zu ermahnen, das Rauchen und die Ausschweifungen aufzugeben, zieht sie sich von ihm zurück.
1903: Franziska zu Reventlow beginnt eine Liebesbeziehung mit einem anderen »Kosmiker«, mit dem zwei Jahre älteren, verheirateten Schriftsteller und Übersetzer Karl Wolfskehl.
Mai 1903: Franziska zu Reventlow vertraut ihren Sohn einer Freundin an und reist mit Karl Wolfskehl für zwei Wochen nach Italien. Als die beiden von dort zurück nach München kommen, beenden sie ihre Affäre im gegenseitigen Einvernehmen und bleiben Freunde.
Herbst 1903: Franziska zu Reventlow, ihr Geliebter, der polnische Maler Bohdan von Suchocki, und der gemeinsame Freund Franz Hessel, ein angehender Schriftsteller, gründen in der Kaulbachstraße eine Wohngemeinschaft. Das heruntergekommene »Eckhaus«, in dem sie leben, wird zu einem legendären Treffpunkt Schwabinger Bohemiens, die entweder auf Einladung oder unangemeldet vorbeikommen.
1904: Als Rolf sieben Jahre alt wird, weist Franziska Gräfin zu Reventlow die Behörden auf ihren Abschluss am Lehrerinnen-Seminar in Lübeck hin und erreicht, dass man ihr gestattet, den Jungen selbst zu unterrichten. Nur den jährlichen Prüfungen muss er sich an einer staatlichen Schule unterziehen.
Herbst 1904: Obwohl Franziska zu Reventlow im sechsten Monat schwanger war, fährt sie mit Rolf, Bohdan von Suchocki und Franz Hessel nach Italien.
30. September 1904: In dem Badeort Forte dei Marmi am Ligurischen Meer wird sie von Zwillingen entbunden. Eines der Kinder kommt tot auf die Welt, das andere stirbt innerhalb eines Tages.
Oktober 1904: Während Hessel abreist, bleibt Franziska zu Reventlow mit Rolf und ihrem Geliebten in Forte die Marmi, um sich von dem Schicksalsschlag zu erholen.
Anfang November 1904: Sie fahren zu dritt mit Rädern über den Apennin nach Venedig und nehmen dort erschöpft einen Zug nach München.
1906: Die Wohngemeinschaft in der Kaulbachstraße löst sich auf: Franz Hessel zieht zuerst nach Berlin, dann nach Paris, und Franziska zu Reventlow, die im Mai ihren Bruder Ludwig am Sterbebett in Berlin besuchte, reist mit ihrem Sohn nach Griechenland und Italien
Frühjahr 1907: Rückkehr nach München
Ein literarisches Porträt von Franziska zu Reventlow finden Sie in dem Buch
„AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts“ von Dieter Wunderlich.
Piper Verlag, München 2009 – Leseprobe
1906 – 1910 wechselt Franziska zu Reventlow siebenmal die Wohnung.
1910: Sie beschließt, ihre bisherige Wahlheimat zu verlassen. Im Oktober bringte sie Rolf bei Freunden in Bad Deutsch-Altenburg an der Donau östlich von Wien unter und reist über Berlin nach Paris, wo sie einige Wochen als Verkaufsdame bei einer Kunstgewerbeausstellung arbeitet, bevor sie nach Ascona im Tessin weiterfährt. Dorthin kommt dann auch Rolf.
Der anarchistische Schriftsteller Erich Mühsam (1878 – 1934), den Franziska zu Reventlow seit 1906 kennt – er bezeichnet sie einmal als den »innerlich freiesten und natürlichsten Menschen, dem ich begegnet bin« –, riet ihr, nach Ascona zu ziehen, wo der mit ihm befreundete baltische Baron Alexander von Rechenberg-Linten eine Frau für eine Scheinheirat sucht. Der alkoholkranke Aristokrat, der für eine italienische Waschfrau entflammt ist, muss befürchten, dass sein Vater eines Tages nicht mehr für seine Schulden aufkommt, falls er nicht standesgemäß heiratet und eine Familie gründet.
Anfang 1911: Alexanders Vater trifft in Ascona ein, und im Juni findet die Hochzeit statt, durch die Franziska Gräfin zu Reventlow de jure zu einer Baronin von Rechenberg-Linten mit russischer Staatsangehörigkeit mutiert.
Oktober 1912 – Mai 1913: Franziska zu Reventlow wohnt mit Rolf im Haus ihres Cousins Viktor von Levetzow auf Mallorca. Sie liebt es, zu verreisen und sich an verschiedenen Orten aufzuhalten.
1913: Als ihr Schwiegervater stirbt, stellt sich heraus, dass er die Täuschung doch noch durchschaut und das Erbe seines missratenen Sohnes auf den Pflichtteil begrenzte. Bei der Hinterlassenschaft für Alexander von Rechenberg-Linten handelt sich um Aktien einer russischen Eisenbahngesellschaft. Er verkauftesie und überässt seiner »Ehefrau« vereinbarungsgemäß die Hälfte des Erlöses. Allerdings geht die Bank in Locarno, bei der Franziska zu Reventlow das Geld anlegt, bald darauf in Konkurs.
Sommer 1914: Rolf zu Reventlow eilt zu seiner dreiundvierzigjährigen Mutter, die in Mailand bei einer Engelmacherin war und sich nach der Abtreibung elend fühlt. Gezeugt worden war das Kind vermutlich von dem Rechtsanwalt Mario Respini-Orelli aus Locarno, mit dem Franziska zu Reventlow seit 1911 befreundet ist.
Ludwig Klages, den Franziska zu Reventlow seit April 1914 wieder zu ihren Freunden zählt, sollt ihr helfen, Rolf einen Schweizer Pass zu beschaffen, damit der Junge, der am 1. September 1914 seinen siebzehnten Geburtstag feiert, nicht in den Krieg ziehen muss. Das Vorhaben scheitert.
April 1916: Die Reichswehr schickt Rolf zu Reventlow an die Westfront.
Herbst 1916: Mit Unterstützung seiner inzwischen von Ascona nach Muralto am Lago Maggiore umgezogenen Mutter desertiert er im Jahr darauf und setzt sich über die Grenze in die Schweiz ab. Aber die Behörden des Kantons Tessin weisen ihn aus. Im Bahnhof von Bellinzona verabschieden sich Mutter und Sohn – ohne zu ahnen, dass es für immer ist.
Juni 1918: Franziska zu Reventlow verletzt sich bei einem Sturz mit dem Fahrrad. Sie stirbt während der Operation am 26. Juni in Locarno. Ihr von Mario Respini-Orelli in Zürich benachrichtigter Sohn eilt sofort nach Locarno, aber seine Mutter ist bereits tot, als er eintrifft.
Franziska Gräfin zu Reventlow hinterließ keine nennenswerten Gemälde; ihre Karriere als Theaterschauspielerin endete, bevor sie richtig begann, und ihre literarischen Werke zählen nicht zu den Bestsellern, aber durch ihre Lebensweise wurde sie zur Legende, denn sie gehörte zu den Vorkämpferinnen der sexuellen Emanzipation der Frau.
Franziska zu Reventlow: Bibliografie (Auswahl)
- Das allerjüngste Gericht (Satire, 1897)
- Das gräfliche Milchgeschäft (Erzählung, 1897)
- Das Männerphantom der Frau (Essay, 1898)
- Was Frauen ziemt (Essay, 1899; später: Viragines oder Hetären?)
- Ellen Olestjerne (Roman, 1903)
- Von Paul zu Pedro (Roman, 1912)
- Herrn Dame’s Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (Roman, 1913)
- Geldkomplex (»Roman, meinen Gläubigern zugeeignet«, 1916)
- Das Logierhaus zur schwankenden Weltkugel (Novellen, 1917)
- Sämtliche Werke in sechs Bänden (Igel Verlag, Oldenburg 2010)
Literatur über Franziska zu Reventlow
- Ulla Egbringhoff: Franziska zu Reventlow (Rowohlt Monographie, Reinbek 2000, 156 Seiten, ISBN: 3-499-50614-9)
- Johanna Seegers: Über Franziska zu Reventlow. Rezensionen, Porträts, Aufsätze, Nachrufe aus mehr als 100 Jahren. Mit Anhang und Gesamtbibliographie von 1893 bis 2006 (Igel-Verlag, Oldenburg 2007, 364 Seiten, ISBN: 978-3-89621-200-9)
- Franziska Sperr: »Die kleinste Fessel drückt mich unerträglich«. Das Leben der Franziska zu Reventlow (Goldmann, München 2003, 254 Seiten, ISBN: 3-442-73152-6)
- Irene Weiser (Hg.): »Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich«. Tagebücher 1895 – 1910 (Stutz, Passau 2006, 583 Seiten, ISBN: 3-88849-208-4)
- Gunna Wendt: Franziska zu Reventlow. Die anmutige Rebellin (Aufbau, Berlin 2008,
317 Seiten, ISBN: 978-3351026608) - Dieter Wunderlich: AußerOrdentliche Frauen. 18 Porträts (Piper Verlag, München 2009, 256 Seiten, ISBN: 978-3-492-25459-5)
© Dieter Wunderlich 2008