Friedrich Dürrenmatt : Das Versprechen

Das Versprechen
Es geschah am hellichten Tag, Film-Treatment, 1957/58 Das Versprechen, Neue Zürcher Zeitung, August 1958 Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman Erstausgabe: Diogenes Verlag, Zürich 1958
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In Mägendorf bei Zürich wird ein Schulmädchen mit einem Rasiermesser ermordet. Der Verdacht fällt auf den Hausierer, der die Leiche im Wald entdeckte. Nach einem 20-stündigen Polizeiverhör gesteht er die Tat. Unmittelbar danach erhängt er sich in seiner Zelle. Alle glauben, dass der Mordfall aufgeklärt sei – nur Kommissar Matthäi nicht. ...
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Kritik

Friedrich Dürrenmatt veranschaulicht in "Das Versprechen", dass logisches bzw. kriminalistisches Denken in der komplexen Wirklichkeit häufig versagt, weil Zufälle und Störfaktoren nicht damit erfasst werden können. Jedes nicht aufgeklärte Verbrechen bedeutet aber, dass ein Täter seiner gerechten Strafe entronnen ist.
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Friedrich Dürrenmatt fährt mit dem Zug nach Chur, um dort einen Vortrag zu halten über die Kunst, Kriminalromane zu schreiben. Dr. H., der unter den Zuhörern gewesen war und den er danach in der Hotelbar kennen lernte, nimmt ihn am nächsten Tag im Auto mit zurück nach Zürich.

H. tankt an einer heruntergekommenen Tankstelle in Graubünden, und in der dazugehörigen Wirtschaft „Zur Rose“ lädt er den Schriftsteller auf eine Tasse Kaffee ein. Hinter der Theke spült eine hagere Frau Gläser. Die Kellnerin Annemarie sieht wie 30 aus, ist aber erst 16. Als H. und Friedrich Dürrenmatt zurück zum Auto gehen, sitzt der Tankwart bereits wieder auf einer Steinbank neben der Haustür. „Er war unrasiert und ungewaschen, trug einen hellen Kittel, der schmuddelig und verfleckt war, und dazu dunkle, speckig schimmernde Hosen, die einmal zu einem Smoking gehört hatten. An den Füßen alte Pantoffeln. Er stierte vor sich hin, verblödet, und ich roch schon von weitem den Schnaps. Absinth.“

Während der Weiterfahrt erzählt H., bei dem es sich um einen ehemaligen Kommandanten der Kantonspolizei Zürich handelt, der Tankwart heiße Matthäi, sei promovierter Jurist und einmal als Oberleutnant bei der Kantonspolizei sein bester Mann gewesen.

H. hält nichts von Kriminalromanen, weil darin die Verbrecher immer ihrer gerechten Strafe zugeführt würden und das Geschehen am Ende immer wie eine Rechnung aufgehe. Das aber habe mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun, da gebe es zu viele Zufälle und Störfaktoren.

Dann erzählt er von einem Mordfall vor neun Jahren. Dr. Matthäi war damals 50 Jahre alt und sollte gerade aufgrund eines Abkommens zwischen der Schweiz und Jordanien nach Amman gehen, um dort die Polizei zu reorganisieren. Am Nachmittag vor der geplanten Abreise erhielt er einen Anruf aus Mägendorf, einem Dorf bei Zürich. Ein Hausierer mit Namen von Gunten hatte im Wald ein ermordetes Schulmädchen gefunden. Matthäi fuhr mit einigen weiteren Beamten hin.

Bei der Toten handelte es sich um Gritli Moser aus Moosbach, die jeden Mittwoch- und Samstagnachmittag zur Großmutter nach Fehren ging.

Weil alle anderen sich davor drückten, überbrachte Matthäi den Eltern des Kindes die Nachricht. Es war entsetzlich.

Da begann plötzlich die Frau zu sprechen.
„Wer ist der Mörder?“, fragte sie mit einer Stimme, die so ruhig und sachlich war, dass Matthäi erschrak.
„Das werde ich schon herausfinden, Frau Moser.“
Die Frau schaute ihn nun an, drohend, gebietend. „Versprechen Sie das?“
„Ich verspreche es, Frau Moser“, sagte der Kommissär, auf einmal nur vom Wunsche bestimmt, den Ort zu verlassen.
„Bei Ihrer Seligkeit?“
Der Kommissär stutzte. „Bei meiner Seligkeit“, sagte er endlich. Was wollte er anders.
„Dann gehen Sie“, befahl die Frau. „Sie haben bei Ihrer Seligkeit geschworen.“

Als Matthäi nach Mägendorf zurückkam, scharten sich die Bauern um das Polizeiauto, in dem der Zeuge von Gunten saß. Man hielt den Hausierer für den Mörder, zumal dieser wegen eines Sittlichkeitsdelikts mit einer 14-Jährigen vorbestraft war. Mit Mühe konnte Matthäi die Dorfbewohner davon abhalten, den 48 Jahre alten Mann zu lynchen.

Matthäi hörte sich in Gritli Mosers Schulklasse um. Ursula Fehlmann erzählte ihm, ihre Schulfreundin habe kürzlich von einem ganz schwarzen Riesen kleine Igel geschenkt bekommen. „Igel? Was willst du jetzt wieder damit sagen, Ursula?“, fragte ich ratlos. „Der ganze Riese war voll kleiner Igel“, behauptete das Mädchen. „Das ist doch Unsinn, Ursula“, widersprach ich, „ein Riese hat doch keine Igel!“ „Es war eben ein Igelriese!“

Die Polizeibeamten nahmen von Gunten mit. Nach 20 Stunden Verhör gestand er am nächsten Morgen, er habe das Mädchen getötet. Gleich darauf erhängte er sich in seiner Zelle.

Alle hielten den Fall für gelöst. Auch Gritli Mosers Mutter sagte bei der Beerdigung anerkennend zu dem Kommissar: „Sie haben Ihr Versprechen gehalten. Ich danke Ihnen.“ Nur Matthäi bezweifelte, dass es sich bei dem kleinen, dicken Hausierer um den Mörder handelte. Das Geständnis und einige Indizien sprachen gegen den Hausierer. Weil er viel herumgekommen war, konnte er auch für die unaufgeklärte Ermordung eines Mädchens vor fünf Jahren im Kanton Sankt-Gallen und die eines weiteren Mädchens vor zwei Jahren im Kanton Schwyz verantwortlich sein. Alle drei Opfer – Sonja, Eveli und Gritli – waren mit einem Rasiermesser getötet worden. In keinem der Fälle hatte man Spuren eines Sexualdeliktes gefunden.

Am Flughafen begegnete er einer Kinderschar. Kurz entschlossen kehrte er wieder um. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er das Versprechen gegeben hatte, nur um das Ehepaar Moser zu beruhigen. Wenn er nach Jordanien geflogen wäre, hätte er es gar nicht halten können. Beim Anblick der Kinder und dem Gedanken daran, dass der Mörder – wenn es der Hausierer nicht gewesen war – eines von ihnen töten könnte, wurde er sich seiner Verantwortung bewusst.

Weil Matthäi seinen Dienst in Amman nicht antrat, bekam H. Ärger. Er war auch nicht bereit, seinen ehemaligen Mitarbeiter wieder einzustellen. „Sie schieden aus dem Dienste der Kantonspolizei, weil Sie den Posten in Jordanien antreten wollten. Dass Sie Ihren Vertrag gebrochen haben, ist Ihre Sache. Aber wenn wir Sie nun wieder einstellen, würde das bedeuten, dass wir Ihren Schritt billigen. Sie werden verstehen, dass dies unmöglich ist.“

Von Ursula Fehlmann erfuhr Matthäi, dass Gritli Moser den „Igelriesen“ gezeichnet hatte. Er ging ins Schulhaus und nahm die Farbstiftzeichnung unerlaubt von der Wand des Klassenzimmers. Es handelte sich um einen schwarz gekleideten Hünen, der viel größer als die Tannen war. Aus seiner rechten Hand fielen kleine Scheiben mit Haaren oder Stacheln wie Sterne auf ein kleines Mädchen hinunter. Daneben hatte Gritli Moser ein schwarzes Auto gezeichnet. Matthäi war nun überzeugt, dass es sich bei dem „Igelriesen“ nicht um eine Fantasiefigur, sondern um den Mörder handelte.

Wenig später erfuhr H., dass Matthäi in Graubünden, in der Nähe von Chur, eine Tankstelle übernommen hatte. Und die Leiterin eines Waisenhauses berichtete ihm, dass der ehemalige Polizeioberleutnant eines ihrer Mädchen hatte adoptieren wollen, aber sie war nicht darauf eingegangen. Schließlich nahm Matthäi eine ehemalige Prostituierte namens Heller, die nun in der Ziegelfabrik arbeitete, mit ihrer 7- oder 8-jährigen Tochter Annemarie als Haushaltshilfe bei sich auf.

Neugierig fuhr H. zu der Tankstelle. Schon an der Straße fielen ihm eine Schaukel, ein Puppenhaus, ein Puppenwagen und ein Schaukelpferd auf. Jeder, der vorbeifuhr, merkte, dass hier ein kleines Mädchen wohnte. Erst nach einiger Zeit rückte Matthäi mit der Sprache heraus. Ein Fischerjunge habe ihm erklärt, dass man nur an der richtigen Stelle und mit dem richtigen Köder Forellen fangen könne. Das habe ihn auf die Idee gebracht, dem gesuchten Serienmörder hier an der Durchgangsstraße von Graubünden nach Zürich aufzulauern – mit Annemarie als Köder. Weder das Kind noch die Mutter ahnten davon etwas.

Eines Tages machte Matthäi sich Sorgen, weil Annemarie nicht aus der Schule kam. Er fand sie in einer Waldlichtung. Sie habe auf den Zauberer gewartet, erklärte sie. Das hielt er für pure Fantasie. Am nächsten Tag traf Annemarie etwas früher als sonst ein. Erst später erfuhr Matthäi, dass an dem Tag schulfrei gewesen war. Er wollte sich in die Schule nach ihr erkundigen, aber sie fehlte. Matthäi fand sie auf der Straße. Ihre Hände waren klebrig. Sie hatte Trüffel bei sich. Von einer Mitschülerin, behauptete sie. Matthäi beobachtete, wie das Kind jeden Tag zu der Waldlichtung lief und dort wartete. Annemarie war dem Mörder begegnet! Matthäi überzeugte auch H. davon, und der versteckte sich mit mehreren Polizisten im Wald, um den gesuchten Serienmörder zu stellen. Ein Tag nach dem anderen verging. Nichts geschah. Da wurde es dem ebenfalls anwesenden Staatsanwalt zu viel. Er stürzte auf Annemarie zu: „Auf wen wartest du?“, schrie der Staatsanwalt das Mädchen an, das ihn erschrocken auf seinem Steine anstarrte, die Puppe umklammernd. „Auf wen wartest du, willst du antworten, du verdammtes Ding?“ Annemarie lief schreiend zu ihrer Mutter, die jetzt begriff, warum Matthäi sie aufgenommen hatte.

Danach empfing die Heller wieder Freier, und Annemarie verkam ebenfalls. Matthäi aber wartete und wartete.

Im vorigen Jahr nun wurde H. an einem Sonntag zu einer Sterbenden ins Kantonsspital gerufen. Ein katholischer Pfarrer war bei Frau Schrott. H. rechnete mit einer unbedeutenden Stiftung zugunsten der Polizei und ärgerte sich, an seinem freien Tag dem endlosen Gerede der alten Frau zuhören zu müssen.

Ihre beiden Söhne Emil und Markus waren früh gestorben. Ihr erster Mann hatte einen 16-jährigen, geistig zurückgeblieben Waisen aufgenommen, der als Gärtner und Chauffeur für sie arbeitete und auch die Fensterläden reparierte. Er hieß Albert Schrott. Nach dem Tod ihres ersten Mannes heiratete die Frau diesen Schrott, obwohl er damals 23 Jahre alt war und sie schon 55. Die Ehe wurde nicht vollzogen, denn es handelte sich eher um ein Mutter-Sohn-Verhältnis. Jede Woche fuhr Albert Schrott mit dem Fahrrad zu ihrer Schwester nach Zürich, um ihr frische Eier zu bringen. Einmal kam er erst nach Mitternacht zurück. Das ganze Badezimmer war voll Blut. „Mein Gott, Albertchen, fragte ich, was ist dir denn zugestoßen? Er glotzte nur, sagte dann, Unfall, Mutti, wird schon werden, geh schlafen, Mutti, und so ging ich schlafen, wenn ich auch verwundert war, weil ich gar keine Wunden gesehen hatte.“ Beim Frühstück las Frau Schrott in der Zeitung, dass im Kanton Sankt Gallen ein Mädchen mit einem Rasiermesser ermordet worden war. „… und ich wurde ganz ernst mit dem Albertchen selig und sagte, Albertchen, nicht wahr, du hast das Mädchen getötet im Kanton Sankt Gallen. Da hörte er auf mit Eier essen und Marmeladeschnitten und Salzgurken und sagte, jawohl, Mutti, es musste sein, es war eine Stimme vom Himmel, und dann aß er weiter. Ich war ganz verwirrt, dass er so krank war; das Mädchen tat mir leid, ich habe auch daran gedacht, den Doktor Sichler anzurufen, nicht den alten, sondern seinen Sohn, der auch sehr tüchtig ist und mitfühlend, aber dann dachte ich an meine Schwester, die hätte ja frohlockt, ihr schönster Tag wäre es geworden, und so bin ich eben ganz streng und entschlossen mit Albertchen selig gewesen und sagte ausdrücklich, das darf nie, nie, nie mehr vorkommen, und er sagte, jawohl, Mutti.“ Er durfte dann erst einmal nicht mehr herumfahren, aber nach dem Krieg, als sie den 1938 noch von ihrem ersten Mann gekauften Buick benützen konnten, brachte er wieder regelmäßig Eier zu ihrer Schwester. Dann kam Albert Schrott erneut erst nach Mitternacht heim. Und zwei Jahre später nochmals. Einige Zeit später fuhr er jeden Nachmittag weg und in der Bonbonniere fehlten auch wieder Trüffel. Frau Schrott stellte ihn zur Rede. Der Himmel habe ihm befohlen, ein Mädchen bei einer Tankstelle zu töten, sagte er. Sie verbot es ihm und schickte ihn zum Saubermachen in den Hühnerstall. Da wurde er zornig. Er sei kein Hausknecht, schrie er und rannte mit den Trüffeln und seinem Rasiermesser zum Auto. Eine Viertelstunde später klingelte bei Frau Schrott das Telefon: Albert Schrott war mit einem Lastwagen zusammengestoßen und noch am Unfallort gestorben.

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Im Frühjahr 1957 wurde Friedrich Dürrenmatt von dem Filmproduzenten Lazar Wechsler gebeten, sich eine Geschichte über ein Sexualverbrechen an einem Kind auszudenken, und zwar für einen Film, der als Warnung dienen sollte. Dürrenmatts Treatment bildete die Grundlage für das Drehbuch des Regisseurs Ladislao Vajda. Als es fertig war – und auf Wunsch des Hauptdarstellers Heinz Rühmann von Hans Jacoby nochmals umgebeitet wurde –, schrieb Friedrich Dürrenmatt unabhängig davon seinen Roman „Das Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman“.

Das Buch beschränkt sich nicht – wie der Film von Ladislao Vajda – auf den Polizeikommissar, der mit einem ahnungslosen kleinen Mädchen als Lockvogel einen Serienmörder zu überführen versucht. Friedrich Dürrenmatt fügt diese Geschichte in eine Rahmenhandlung ein und nützt diese für Reflexionen über die Unzulänglichkeit logischen bzw. kriminalistischen Denkens in der komplexen, von Zufällen und Störfaktoren beherrschten Wirklichkeit. Kommissar Matthäi scheitert bei der Aufklärung einer Mordserie. Jedes unaufgeklärte Verbrechen bedeutet aber, dass ein Täter seiner gerechten Strafe entronnen ist.

Friedrich Dürrenmatt beginnt sein „Requiem auf den Kriminalroman“ bewusst trivial und baut dann die Spannung allmählich auf. Vor der Auflösung schiebt er noch einmal einen Teil der Rahmenhandlung ein, und die sterbende Witwe des Serienmörders lässt er so weitschweifig berichten, dass der Leser es kaum erwarten kann, endlich zu erfahren, wie das alles gewesen ist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Diogenes Verlag, Zürich

Verfilmungen der Geschichte von Friedrich Dürrenmatt:
Ladislao Vajda: Es geschah am hellichten Tag
Nico Hofmann: Es geschah am hellichten Tag
Sean Penn: Das Versprechen

Friedrich Dürrenmatt (Kurzbiografie)
Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker
Friedrich Dürrenmatt: Grieche sucht Griechin
Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame
Friedrich Dürrenmatt: Die Panne
Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker
Friedrich Dürrenmatt: Justiz (Verfilmung)

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