Philippe Djian : Die Leichtfertigen

Die Leichtfertigen
Originalausgabe: Impardonnables Éditions Gallimard, Paris 2009 Die Leichtfertigen Übersetzung: Uli Wittmann Diogenes Verlag, Zürich 2011 ISBN: 978-3-257-06774-3, 216 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 60-jährige französische Schriftsteller Francis hat seit 10 Jahren kein Buch mehr geschrieben. Seine zweite Ehe droht zu scheitern. Da verschwindet seine Tochter Alice. Francis, der seine erste Frau und die ältere seiner beiden Töchter bei einem Verkehrsunfall verlor, beauftragt die befreundete Privatdetektivin Anne-Marguerite, nach Alice zu suchen. Sein Schwiegersohn drängt ihn, seine Prominenz zu nutzen, um die Öffentlichkeit auf die Entführung seiner Tochter aufmerksam zu machen ...
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Kritik

Der Protagonist Francis, ein französischer Schriftsteller im Alter des Autors Philippe Djian, erzählt die Geschichte in der Ich-Form. Vieles in "Die Leichtfertigen" wird nur angedeutet. Die Sprache ist nüchtern und wirkt wie gemeißelt.
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Francis ist Schriftsteller. Allerdings hat er seit zehn Jahren kein Buch mehr geschrieben. Der sechzigjährige Franzose wohnt mit Judith, seiner zehn Jahre jüngeren zweiten Ehefrau, in der Nähe von Hendaye.

Seine erste Frau starb im Herbst 1996, vor zwölf Jahren, bei einem Verkehrsunfall. Damals waren Francis und Johanna mit ihren Töchtern Olga und Alice unterwegs nach Pamplona gewesen. An einer Raststätte hatten sie angehalten. Nachdem Francis und Alice bereits ausgestiegen waren, prallte ein Fernlaster ungebremst auf den Wagen. Der Fahrer hatte einen Herzinfarkt erlitten. Johanna und Olga kamen in den Flammen um.

Kurz vor ihrem Tod hatte Johanna herausgefunden, dass Francis bei einem Literaturfestival in Graubünden mit seiner Verlegerin Marlène Antenaga im Bett gewesen war. Bevor sie sich hätten versöhnen können, wurden sie durch den Unfall auseinandergerissen. Alice, die nach dem Tod ihrer Mutter und ihrer vier Jahre älteren Schwester zwei Jahre lang bei ihrem Vater wohnte, las in Johannas Tagebuch von dem Seitensprung und beschimpfte ihn deshalb.

Inzwischen ist aus Alice eine erfolgreiche Filmschauspielerin geworden. Vor zehn Jahren heiratete sie in Paris einen Junkie, aber sobald Roger erfuhr, dass sie schwanger war, schwor er den Drogen ab und wurde Banker. Die Zwillinge Anne-Lucie und Lucie-Anne waren knapp ein Jahr alt, da erlitt Roger einen Rückfall, und während er bekifft im Schaukelstuhl saß, krabbelte Anne-Lucie in seine Nähe. Bei einer Schaukelbewegung wurde einer ihrer Finger zerquetscht. Das geschah vor sieben Jahren.

Bald nach Alice und Roger heirateten auch Francis und Judith. Der Schriftsteller und die Immobilienmaklerin hatten sich vor zehn Jahren kennengelernt, als Francis ein Haus suchte. Er kaufte schließlich das, in dem sie nun zusammen wohnen. Judith hat viel zu tun und ist dementsprechend oft unterwegs.

Sie bietet gerade in San Sebastián ein paar Objekte an, als Francis von seinem knapp dreißig Jahre alten Schwiegersohn erfährt, dass Alice seit zwei Tagen verschwunden ist. Roger kommt mit den Zwillingen aus Paris. Weil Alice es mit der ehelichen Treue nie so genau genommen hat, macht Francis sich zunächst keine Sorgen, aber nach einer Woche melden sie Alice als vermisst, und Francis beauftragt die in seiner Nähe wohnende Jugendfreundin Anne-Marguerite Lémo, die als Privatdetektivin arbeitet, nach Alice zu suchen.

Anne-Marguerites Ehemann erlag in den Armen seines damals sechzehnjährigen Sohnes Jérémie einem Herzinfarkt. Gerüchten zufolge spielten Drogen dabei eine Rolle. Jérémie geriet auf die schiefe Bahn. Nachdem er eine Tankstelle überfallen und den Kassierer erschossen hatte, wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt. Sechs Wochen nach Alices Verschwinden holt Francis den inzwischen Fünfundzwanzigjährigen aus dem Gefängnis ab und bringt ihn nach Hause.

Bald darauf zerschneidet Jérémie sich mit einem Brotmesser die Handgelenke. Aber die Ärzte retten ihn.

Judith schläft immer seltener zu Hause. Francis argwöhnt, dass sie sich auf eine Affäre eingelassen hat, und weil Anne-Marguerite es ablehnt, Judith zu observieren, drängt Francis ihren arbeitslosen Sohn, es gegen Bezahlung zu tun. Nach wenigen Tagen versichert Jérémie, es gebe keine Anzeichen für ein Verhältnis, aber Francis fordert ihn auf, Judith weiter zu beobachten.

Roger erzählt seinem Schwiegervater, dass Alice offenbar entführt worden sei, denn es habe eine Lösegeldforderung gegeben. Die Geldübergabe in der Bahnhofshalle der Gare de Lyon in Paris sei allerdings missglückt. Roger drängt den namhaften Schriftsteller, seine Prominenz zu nutzen, um die Öffentlichkeit auf die Entführung seiner Tochter aufmerksam zu machen und an die Entführer zu appellieren.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Zwei Monate nach dem Verschwinden seiner Tochter fliegt Francis nach Paris. Schlüssel für ihr Apartment hat er. Während er dort nach Hinweisen sucht, hört er im Nebenzimmer Geräusche – und trifft zu seiner Verwunderung auf Alice. Bei der angeblichen Entführung handelte es sich um eine Inszenierung mit dem Zweck, Alice mehr Publicity zu verschaffen. Francis ist so wütend auf Alice und Roger, dass er nicht mehr mit ihnen spricht.

Während Alice bei Dreharbeiten in Australien ist, schickt sie Ansichtskarten. Die wirft ihr Vater unbesehen weg. Schließlich ruft sie an, aber er ist nicht bereit, ihr zuzuhören und legt auf. Von Judith erfährt er, dass Alice ihm sagen wollte, sie sei wieder schwanger. Die Geburt des von einem Kollegen gezeugten Kindes soll in Bayonne stattfinden.

Ein halbes Jahr, nachdem Francis in Paris unerwartet auf seine vermisste Tochter traf, diagnostizieren die Ärzte bei Anne-Marguerite eine Krebserkrankung im fortgeschrittenen Stadium. Einige Monate später stirbt sie. Weil Jérémie abgetaucht ist, kümmert Francis sich um die Beerdigung. Bei Anne-Marguerites Sachen stößt er auf ein vierzig Jahre altes Foto von sich.

Francis findet heraus, dass Jérémie und Judith ein Verhältnis haben. Judith verlässt ihn, beendet aber auch die Affäre mit Jérémie, der daraufhin wild um sich schießt, sich selbst schwer und Judith leicht verletzt.

Jérémie zieht fort. Vor dem Haus seiner Mutter, das jetzt ihm gehört, weist ein Schild darauf hin, dass es zu verkaufen ist. Als Maklerin wird Judith genannt.

Auch die Ehe von Alice und Roger steht vor dem Scheitern. Alice lässt die Zwillinge bei Roger in Paris und zieht mit dem Baby zu ihrem Vater. Als er eines Nachts eine Zufallsbekannte mit nach Hause nimmt, die bereit ist, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, überwirft Alice sich mit ihm. Es dauert allerdings nicht lang, bis sie sich wieder versöhnen.

Francis veröffentlicht einen neuen Roman und fängt gleich darauf mit einem weiteren Buch an. Auf diese Weise versucht er, die Realität auszublenden.

Als er erfährt, dass Jérémie zurückgekommen ist und in seinem Haus wohnt, warnt er Judith vor dem psychisch gestörten jungen Mann, den er für gefährlich hält. Judith schläft jedoch wieder mit Jérémie.

Einige Monate später geht Francis zu Jérémie. Judith öffnet die Türe. Eine Stunde später hält ihr Liebhaber mit seinem Wagen vor dem Haus. Francis bemerkt sein verschwollenes Gesicht und die Bierdosen im Fond.

„He!“, rief er.
Ich antwortete nicht und schenkte ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Ich ging auf das Haus zu und hielt Judith dabei gut fest – aus Angst, sie könnte in einem Anflug von Schwäche wieder in das Lager ihres jungen Liebhabers wechseln, aber sie leistete mir kaum Widerstand.
„He!“, rief er erneut und bremste jäh […]
Ein ohrenbetäubender Knall ließ uns erstarren. Ich wechselte einen Blick mit Judith. ich war ehrlich gesagt weder auf sie noch auf mich böse, aber so viel Dummheit unsererseits, so viel Naivität, so viel Inkonsequenz und so viel Unvorsichtigkeit waren einfach beschämend. Jérémie hielt eine Knarre in den Händen. Dieser Junge, der eine Tankstelle überfallen, sich die Pulsadern aufgeschnitten und sich eine Kugel in die Brust geschossen hatte, dieser Junge, dieser Jérémie und kein anderer, hielt wieder eine Waffe in der Hand, und ich hätte wetten können, dass er ziemlich betrunken war. Ich fluchte leise vor mich hin.
Er schnellte aus dem Auto wie ein Springteufel aus seiner Schachtel und rannte auf uns zu […]
Er fiel vor Judith auf die Knie wie ein armer Sünder zu Füßen der Heiligen Mutter. Ich machte mich auf ein paar unangenehme Minuten gefasst, wenn das so weitergehen sollte – er würde noch lernen müssen, dass der Erfolg nicht garantiert war, wenn man sich einer Frau zu Füßen warf. Das war eine jener furchtbaren Lebenslügen unserer westlichen Welt.
Dann ertönte ein zweiter Schuss, und wir wurden mit Blut und anderen, dickeren Substanzen bespritzt, Judith und ich. Jérémie stürzte rückwärts zu Boden. Und dann auch Judith, die entsetzt die Augen aufriss, als sie innewurde, dass sie sich in der Schusslinie befunden hatte.

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In dem Roman „Die Leichtfertigen“ geht es um scheiternde Ehen, Betrug und Täuschung. Der Protagonist Francis, ein französischer Schriftsteller im Alter des Autors Philippe Djian (* 1949), erzählt die Geschichte in der Ich-Form, also aus seiner Perspektive. Was in der Gegenwart (2008/2009) geschieht, erfahren wir weitgehend in chronologischer Reihenfolge. Dabei gibt es allerdings Zeitsprünge, und manche Ereignisse erschließen sich erst im Nachhinein, zumal Philippe Djian nicht alles erklärt und manches nur andeutet. Weiter zurück in die Vergangenheit führen uns die sporadischen Erinnerungen des Ich-Erzählers. Die Sprache in „Die Leichtfertigen“ ist nüchtern und schnörkellos, aber die Sätze wirken wie gemeißelt.

In einem Interview sagte Philippe Djian, es sei nicht Aufgabe eines Schriftstellers, Geschichten zu erzählen. Entscheidend sei die Sprache.

Für den Sinn sind andere zuständig, Historiker, Psychologen, Ärzte, wer auch immer. Bei mir geht es ganz konkret um den Rhythmus der Sprache. Sie soll in eine Wechselwirkung mit der Welt treten. Und wenn das gelingt, ist in jedem Satz die ganze Welt enthalten, allein durch Farbgebung, Stimmung und Melodie […] Wenn ich im Schreibprozess zwischen zwei Wörtern wählen muss, dann geht es nicht darum, das zu nehmen, welches vom Sinn her am besten geeignet ist, sondern das, was von der Länge, von der Musikalität her besser in den Satz hinein passt. Deshalb malen Maler manchmal auch Gesichter blau oder grün. Nicht, weil sie tatsächlich so aussehen, sondern weil es gerade so stimmt. (Philippe Djian im Interview mit Andreas Borcholte, Spiegel online, 17. Mai 2005)

André Téchiné hat „Die Leichtfertigen“ verfilmt:

Originaltitel: Impardonnables – Regie: André Téchiné – Drehbuch: André Téchiné und Mehdi Ben Attia, nach dem Roman „Die Leichtfertigen“ von Philippe Djian – Kamera: Julien Hirsch – Musik: Max Richter – Darsteller: André Dussollier, Carole Bouquet, Mélanie Thierry, Adriana Asti, Mauro Conte, Alexis Loret u.a. – 2011; 110 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Philippe Djian: Betty Blue (Verfilmung)

Stephen King - Billy Summers
Mit großem Ehrgeiz und überbordender Fabulierfreude entwickelt Stephen King in "Billy Summers" einen fulminanten Roman ohne die von ihm gewohnten Horror-Elemente. Das Material hätte für drei Bücher gereicht, und es macht viel Spaß, die lebendige, komplexe, vielschichtige Geschichte zu lesen.
Billy Summers