Joachim Gauck : Winter im Sommer ‒ Frühling im Herbst
Inhaltsangabe
Kritik
Joachim Gauck (Kurzbiografie)
In den ersten fünf Kapiteln seiner unter dem Titel „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ veröffentlichten „Erinnerungen“ erzählt Joachim Gauck von sich und seiner Familie: Kindheit, Jugend, Studium, Heirat, Tätigkeit als Seelsorger. Dabei verrät er nicht viel Privates. Beispielsweise konkretisiert er die folgende Feststellung nicht:
Im Rückblick ist mir deutlich geworden, dass ein Opfer-Vater dem pubertierenden Sohn die Auseinandersetzung erschwert.
Mit dem sechsten Kapitel wird die Darstellung unpersönlicher. Sie bleibt zwar chronologisch, wird aber zugleich auf Themen ausgerichtet, etwa die Kirche im Sozialismus oder den Aufbau der „Gauck-Behörde“. „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ ist mit Ausnahme der ersten fünf Kapitel keine Autobiografie, sondern der Rückblick eines wachen, nachdenklichen Zeitzeugen auf das Leben in der DDR, die friedliche Revolution (Wende), die Wiedervereinigung und die Handhabung der Stasi-Akten.
Zwischendurch übergibt Joachim Gauck auch anderen das Wort:
- Sibylle Hammer, Patentante seiner Tochter Gesine
- Thomas Abraham, der als Schüler den verbotenen Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ trug
- Hansjörg Geiger, Stellvertreter des „Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR“ (1990 – 1995)
Joachim Gauck versucht nicht, sich als Dissidenten darzustellen, sondern schildert glaubwürdig, dass er in der DDR blieb, weil er in der Kirche einen Frei- und Schutzraum fand.
Über die DDR schreibt er zum Beispiel:
Nicht die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949, sondern der Mauerbau am 13. August 1961 sollte Haltung und Mentalität der Menschen im Land besonders nachhaltig prägen: Aus objektiver Machtlosigkeit, die der übermächtige Staatsapparat über die Bevölkerung verhängt hatte, wurde nun auch subjektive Ohnmacht. Und da man den Menschen die institutionellen Möglichkeiten einer Partizipation an der Macht nahm, verloren sie allmählich die Fähigkeit zu eigenverantwortlichem Handeln.
Erst nahm sie [die Einparteienherrschaft in der DDR] Geld und Besitz, dann Bürgerrechte, Menschenrechte, unabhängiges Recht und unabhängige Richter, und sie begrub die Freiheit in der Wirtschaft, in Kunst und Kultur.
Die Staatssicherheit verfügte über ein nahezu unbeschränktes Arsenal an Maßnahmen, um jeden beliebigen DDR-Bürger zu observieren und ihre Opfer zu entmutigen und zu „zersetzen“. Sie konnte einer öffentlichen Person ein Liebesverhältnis andichten oder das Foto eines oppositionellen Pastors vom FKK-Strand im Lebensmittelladen seines Dorfes aushängen. Sie konnte den beruflichen Aufstieg durch gezielte Kritik oder Verleumdung seitens eines IM bremsen […], und sie konnte Gerüchte streuen und Nicht-Angepasste als Stasi-Spitzel verdächtigen lassen, was deren Ruf in einer Friedens- oder Umweltgruppe zumeist vollständig ruinierte.
Bevorzugt wurden Arbeiterkinder – darunter fielen allerdings auch die Kinder von Funktionären. Wer beispielsweise einen General der Volksarmee als Vater hatte, galt ebenso als Arbeiterkind wie das Kind eines SED-Funktionärs. Hatte der Vater sich aber vom Schlosser zum Diplomingenieur hochgearbeitet, dann galt er als Intelligenzler-Kind.
Die Jugendlichen in der DDR standen unter einem Konformitätsdruck wie kaum eine andere Bevölkerungsgruppe.
Während der DDR-Zeit war ich zwar oft wütend über Unrecht, Diskriminierung und ideologische Borniertheit, andererseits aber unempfindlich gegen die allgegenwärtigen Demütigungen im Alltag.
Politische Meilensteine markieren Gaucks Weg: Volksaufstand am 17. Juni 1953, Bau der Berliner Mauer ab 13. August 1961, die Aufgabe der Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland durch die Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR 1969 und schließlich die friedliche Revolution, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führte.
Die Politik von Glasnost und Perestroika des Generalsekretärs der KPdSU Michael Gorbatschow hat die DDR-Bürger zweifellos ermutigt. Hatte de resignative Entschuldigung immer gelautet: Man kann ja doch nichts ändern!, so glaubten wir seit dem Kurswechsel in Moskau, Druck auf unsere eigene Führung ausüben zu können und zu müssen. Der über Jahrzehnte propagierte Slogan „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ ließ sich jetzt gegen die eigene Führung wenden.
Das war eher Ausdruck der Sehnsucht nach einem verbesserten Sozialismus als nach seiner Abschaffung.
Im West-Fernsehen verfolgte Joachim Gauck 1989 die Vorgänge an der ungarisch-österreichischen Grenze, und er sah, wie der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 den Botschaftsflüchtlingen im Palais Lobkowicz in Prag verkündete, dass sie ausreisen dürften.
Ab 4. September fanden an der Nikolaikirche in Leipzig Montagsdemonstrationen statt. Mehr als 10 000 Demonstranten versammelten sich am 7. Oktober in Plauen.
Bärbel Bohley und andere Regimekritiker gründeten am 11. September die Oppositionsbewegung „Neues Forum“ [mehr dazu]. Drei Wochen später entstand auch in Rostock ein Ableger des Neuen Forums. Am 8. November wurde das Neue Forum offiziell zugelassen. Der Bürgerbewgung ging es nicht um die Abschaffung, sondern um eine Reform des Sozialismus und eine Demokratisierung.
In der Nacht vom 9./10. November 1989 wurde die Berliner Mauer geöffnet. Joachim Gauck betont:
Die Mauer fiel erst, als ihre Bauherren fielen. Vor der Einheit kam die Freiheit.
Willy Brandt freute sich am 10. November auf einer Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus: „Nun wächst zusammen, was zusammengehört.“ Aber, so Joachim Gauck, Brandt dachte dabei nicht an eine Vereinigung der beiden Staaten, sondern an einen Staatenbund.
Anfang Dezember 1989 wurde in Kavelstorf bei Rostock ein geheimes Waffenlager der dem Außenhandelsministerium unterstehenden IMES entdeckt.
Achtzig Waggonladungen standen zur Verschiffung bereit. Seit sieben Jahren verdiente die für „Kommerzielle Koordinierung“ (Koko) zuständige Abteilung des DDR-Außenhandelsministeriums Devisen durch Waffenlieferungen nach Afrika, Südamerika und in den Nahen Osten. Als dies nun ruchbar wurde, setzte sich Stasi-Generalmajor Alexander Schalck-Golodkowski, der die Kommerzielle Koordinierung geleitet hatte, am 3. Dezember in die Bundesrepublik ab.
Am 6. Dezember kam Willy Brandt nach Mecklenburg-Vorpommern. Das ZDF sendete aus diesem Anlass die Sendung „Kennzeichen D“ aus Warnemünde, und Joachim Gauck saß als einer der beiden Vertreter des Neuen Forums neben dem Altbundeskanzler.
Der Pastor ließ sich von seinen kirchlichen Aufgaben freistellen und vom Bündnis 90 in Rostock als Spitzenkandidat für die erste freie Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990 aufstellen. Die Partei erhielt zwar nur 2,9 Prozent der Stimmen, weil es jedoch keine 5-Prozent-Hürde gab, schickte sie zwölf Abgeordnete in die Volkskammer. Einer von ihnen war Joachim Gauck.
Überall wurde der Ostdeutsche, der gerade noch der Sieger der Geschichte gewesen war, zum Lehrling. Mancher fühlte sich da fremd im eigenen Land.
Als der Zusammenbruch des DDR-Regimes abzusehen gewesen war, hatte Erich Mielke angeordnet, brisante Stasi-Unterlagen zu vernichten. Stapelweise wurden Akten durch die Shredder gejagt. Die Bürgerrechtler verhinderten durch die Besetzung von Stasi-Niederlassungen, dass noch mehr verschwand.
Die entscheidende Erschütterung der alten Machtstrukturen erfolgte am 4. und 5. Dezember [1989] durch die Besetzung der Stasi-Gebäude in verschiedenen Städten der DDR und endete am 15. Januar [1990] mit der Einnahme des Stasi-Hauptquartiers in Berlin-Lichtenberg. Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 war die Revolution – wie häufig zu lesen – keineswegs zu Ende gewesen.
Als Vorsitzender eines Sonderausschusses arbeitete Joachim Gauck maßgeblich daran mit, dass das Parlament am 24. August 1990 das „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen Daten des ehemaligen MfS/AfNS“ verabschiedete. Während im Einigungsvertrag vorgesehen war, die Stasi-Unterlagen nach der Wiedervereinigung dem Bundesarchiv zu überlassen, setzte Joachim Gauck sich erfolgreich für die Bildung einer eigenständigen Behörde ein. Er wurde am 19. September 1990 als „Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des ehemaligen Ministeriums der Staatssicherheit“ vorgeschlagen, in der letzten Sitzung der Volkskammer am 28. September gewählt und am 3. Oktober von Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Bundeskanzler Helmut Kohl bestätigt. Außerdem war er einer der 144 Volkskammer-Abgeordneten, die in den Deutschen Bundestag delegiert wurden. Aber er legte sein Mandat am 4. Oktober nieder, um sich ganz seiner neuen Aufgabe widmen zu können.
Joachim Gauck arbeitete anfangs mit drei Mitarbeitern im Gebäudekomplex des SED-Zentralkomitees in der Behrenstraße. 1989 zog er mit seinem Stab in die Glinkastraße um. Dort wurden am 2. Januar 1992 erstmals Formulare ausgegeben, mit denen ein Antrag auf private Akteneinsicht gestellt werden konnte. Von den verfügbaren 20 000 Exemplaren war am Abend keines mehr übrig. Wegen des Ansturms druckten Zeitungen das Formular. 420 000 Menschen stellten in den ersten hundert Tagen einen Antrag auf private Akteneinsicht. Dazu kamen 130 000 Anträge auf Überprüfung von Personen im öffentlichen Dienst. Bis Frühjahr 2006 wurden über 6 Millionen Anträge bearbeitet.
Ausführlich geht Joachim Gauck auf die Vorwürfe gegen Manfred Stolpe ein, jahrelang ein Informeller Mitarbeiter der Stasi gewesen zu sein. Einige Seiten widmet er auch dem Rechtsstreit, der dadurch ausgelöst wurde, dass Helmut Kohl Veröffentlichungen aus Stasi-Akten über sich verhindern wollte.
„Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ endet mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis des Autors zur Freiheit. Joachim Gauck empfindet sie als großes Glück, weist aber auch darauf hin, dass Freiheit beschwerlich ist, weil sie die Eigenverantwortung der Einzelnen verlangt. Zwei Gesichter der Freiheit unterscheidet Joachim Gauck:
Eines erweckt Vertrauen – es verspricht Selbstverwirklichung, Gestaltungsmöglichkeiten, Zukunft. Es lässt in der Begegnung und der Nähe zum Mitmenschen Empathie und Verantwortung wachsen, das Grundelement moralischen Verhaltens. Das andere Gesicht der Freiheit hingegen lässt uns erschrecken – wenn es als Raubtierkapitalismus, nacktes Kalkül, Gruppenegoismus, als unethischer Forschungseifer letztlich den Egoismus fördert und die Solidarität und das Mitleid mit dem Anderen neutralisiert. Das Erschrecken über diese Seite der Freiheit ist letztlich ein Erschrecken über uns, über das destruktive Potenzial in uns.
Die Autobiografie „Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen“ von Joachim Gauck und Helga Hirsch gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Joachim Gauck und Helga Hirsch (Bearbeitung: Helga Hirsch, Regie: Wolf-Dietrich Fruck, Köln 2010, 4 CDs, ISBN 978-3-8371-0551-3.)
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Siedler Verlag
Joachim Gauck (Kurzbiografie)