T Cooper : Lipshitz
Inhaltsangabe
Kritik
Der Jude Avi Grodzinski (1869 – 1927) betreibt in der russischen Stadt Kischinjow eine Möbeltischlerei. Er und seine drei Jahre jüngere Ehefrau Ruth haben eine Tochter namens Leah. Als seine Schwester Esther (1874 – 1942) den ebenfalls jüdischen Buchhalter und Geldverleiher Hersch Lipshitz (1872 – 1951) heiratet, stellt Avi dem Schwager im hinteren Teil der Werkstatt einen Büroraum zur Verfügung.
Während der Pogrome im März 1903 verlässt Hersch Lipshitz mit seiner Familie die Stadt vorübergehend. Avi Grodzinski bleibt dagegen in Kischinjow, denn er will seine Werkstatt nicht in Stich lassen und weiterarbeiten. Anfang April wird er auf der Straße von hinten niedergeschlagen. Als er wieder zu sich kommt, sieht er, dass die von Juden bewohnten Häuser geplündert und teilweise in Brand gesetzt wurden. Er schleppt sich nach Hause. Die elfeinhalbjährige Leah liegt tot auf dem Bett, und zwischen ihren Beinen ist alles voller Blut. Ruth kommt über die Vergewaltigung und Ermordung ihrer Tochter nicht hinweg: Nach vier Tagen schneidet sie sich in der Badewanne die Pulsadern auf und stirbt [Suizid].
Am 14. August 1905 bringt Esther ihr viertes und letztes Kind zur Welt: Miriam. Drei Söhne haben die Lipshitz‘ bereits: den elfjährigen Ben, dessen drei Jahre jüngeren Bruder Schmuel und den dreijährigen Ruben.
Avi Grodzinski wandert im Juli 1907 in die Vereinigten Staaten von Amerika aus. In Texas findet er Arbeit – und eine neue Lebensgefährtin, Hannah (1885 – 1959), eine in den USA geborene Jüdin.
Mitte November 1907 brechen auch Hersch Lipshitz und seine Familienangehörigen auf. Sie schlagen sich nach Berlin durch und fahren weiter nach Rotterdam, wo sie an Bord der „New Amsterdam“ gehen. Am 17. Dezember treffen sie in Ellis Island, New York, ein. In dem Gedränge verlieren sie Ruben aus den Augen und finden ihn auch nicht wieder. Der fünfjährige blonde Junge bleibt verschwunden.
Um weiter mit Hilfe der Hebrew Immigrant Aid Society nach Ruben suchen zu können, verschieben die Lipshitz die Weiterreise nach Texas und quartieren sich bei Esthers Cousine Raina ein, die mit ihrem Ehemann Isaak und den beiden Kindern in einer Drei-Zimmer-Wohnung in New York wohnt, die zugleich als Schneiderwerkstatt verwendet wird. (Rainas Vater war bereits während der Pogrome von 1881/82 mit der Familie ausgewandert.)
Trotz der Bemühungen fehlt von Ruben jede Spur. Im Juli 1908 geben Hersch und Esther Lipshitz die Hoffnung auf und beschließen, zu Avi und Hannah Grodzinski nach Amarillo in Texas zu fahren. Ben, der inzwischen einen Freund gefunden hat, will in New York bleiben. Er kann erst einmal weiter bei Isaak und Raina wohnen.
Fünf Jahre später lässt Esther sich von einem Gaukler, der sich „Professor Stevens“ nennt, aus der Hand lesen. Er versichert Esther, Ruben sei am Leben.
„Er lebt? Wo?“
„Nun, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber ich kann Ihnen zweifellos versichern, dass dieser Junge eines Tages ein berühmter Mann wird. Ein sehr berühmter Mann, dessen Schicksal alle voller Anteilnahme verfolgen und bestaunen werden.“
„Ach, das freut mich aber!“, rief Esther, doch die Miene des Mannes blieb ernst. „Noch etwas?“
„Ich fürchte, dass bei so viel Freude der Kummer nicht ausbleiben kann“, fuhr er fort. „Wie gesagt, viele Menschen werden diesen jungen Mann mögen und ihm alles Gute wünschen, aber sehen Sie, auch in seinem Leben wird es eine große Lücke geben. Dem erfreulichen Ereignis wird ein sehr trauriges folgen.“
Schmuel Lipshitz, der zum Kriegsdienst eingezogen wurde [Erster Weltkrieg], stirbt 1918 in Camp Dix, New Jersey, an einer Grippe.
Im Februar 1925 liest Esther in der Zeitung, dass der Höhlenforscher William Floyd Collins seit 30. Januar in einer Höhle in Kentucky feststeckt: Sein Bein wurde von einem herabgefallenen Felsen eingeklemmt. Vier Tage lang konnte er mit Wasser und Nahrungsmitteln versorgt werden. Dann stürzte der Zugang ein. Die Rettungskräfte, die einen Tunnel bohren, haben nur noch Sprechkontakt mit ihm. Esther fiebert um sein Leben, denn aufgrund der Prophezeiung des Handlesers ist sie überzeugt, dass es sich bei dem blonden Höhlenforscher um Ruben handelt. Hersch weist sie darauf hin, dass Collins laut Angaben der Zeitung fünfzehn Jahre älter als Ruben ist, aber das hält Esther für einen Irrtum. Als die Rettungskräfte am 17. Februar zu William Floyd Collins vordringen, ist er bereits seit vier Tagen tot. Die Leiche kann erst zwei Monate später geborgen werden.
Avi Grodzinski stirbt 1927, kurz nachdem ihm seine Schwester anvertraute, dass Ruben jetzt Charles Lindbergh heiße.
Charles Lindbergh überquert am 20./21. Mai 1927 allein und ohne Zwischenlandung den Atlantik und fliegt von New York nach Paris. Seit Esther sein Bild in der Zeitung sah, ist sie überzeugt, dass es niemand anderes als Ruben ist. Ihr Sohn wurde zwar am 3. Februar 1902 geboren, während Charles Lindbergh den offiziellen Angaben zufolge einen Tag jünger ist, aber das erklärt Esther sich damit, dass Ruben seinen Pflegeeltern irrtümlich ein falsches Geburtsdatum genannt hatte.
Sie gratuliert Evangeline Lodge Lindbergh am 23. Mai 1927 und schreibt:
Gewiss sind Sie sehr stolz auf Ihren Jungen. obwohl er ja nun nicht mehr Ihr Junge ist oder? Er gehört jetzt der Welt, dem Himmel. In
gewisser Weise gehört es uns allen. Ihnen wie mir.
In einem weiteren Brief warnt sie Lindberghs Mutter, dass ihm etwas Schlimmes bevorstehe. Sie wisse allerdings nicht, um was es sich handele. Sie beginnt, alle Zeitungsartikel über Charles Lindbergh auszuschneiden und in einer Schachtel zu sammeln.
Als Charles Lindbergh im Juni 1927 in New York bejubelt wird, begegnet Ben Lipshitz einem Harvard-Studenten, der eigens anreiste, um die Parade miterleben zu können. Carl nimmt ihn mit in sein Hotelzimmer, und zum ersten Mal schläft Ben mit einem anderen Mann.
Miriam Lipshitz lernt im November 1927 den drei Jahre älteren halbseidenen Geschäftsmann Sam Lazarus aus Pampa, Texas, kennen. Im Februar 1929 gewinnt Sam dem spielsüchtigen Russell Calhoun, der die fünf von seinem Vater aufgebauten Läden ruinierte, den letzten Besitz ab. Damit legt er die Grundlage für mehrere Geschäfte in Amarillo, die er mit seiner Frau zusammen eröffnet, so „Der Schmuckladen“ und „Miriams Babyland“.
Als Charles Lindbergh und Anne Spencer Morrow am 28. Mai 1929 in Englewood, New Jersey, heiraten, heißt Esther Lipshitz die Braut per Brief in der Familie willkommen. Und am 23. Juni 1930 gratuliert sie zur Geburt des Sohnes Charles III.
Esther kritisiert ihre Tochter und ihren Schwiegersohn, weil sie wegen ihrer Geschäftstätigkeit nur wenig Zeit für ihren 1930 geborenen Sohn Aaron haben.
Als Lindberghs knapp zwei Jahre altes Baby am 1. März 1932 entführt und am 12. Mai tot aufgefunden wird, ist Esther kaum noch ansprechbar und verlässt ihr Schlafzimmer zwei Wochen lang nicht. Sie ist überzeugt, dass sich mit der Ermordung des Kindes die Prophezeiung des „Professors“ erfüllt habe.
Für den 30. August 1941 ist eine Rede Lindberghs in Oklahoma City angekündigt. Esther schleicht sich in der Nacht davor heimlich aus dem Haus und fährt mit dem Auto fünfhundert Kilometer weit nach Oklahoma, um endlich den Mann zu sehen, den sie für ihren verlorenen Sohn hält. In Oklahoma City lässt sie sich fast ihr ganzes Geld für einen Stofffetzen abschwatzen, der angeblich am 22. Mai 1927 in La Bourget von der Bespannung der „Spirit of St. Louis“ abgerissen wurde. Nach der Rede wird sie ohnmächtig. Ein Taxifahrer ruft Sam Lazarus an, und der holt seine Schwiegermutter aus Oklahoma.
Nach den beiden Söhnen Aaron (1930 – 1991) und Jakob (1933 – 1933) bringt Miriam am 11. September 1941 die Tochter Anna-Rose zur Welt.
Esther Lipshitz stirbt im Januar 1942. Als Hersch durchs Fenster sieht, wie Ben die Schachtel mit den Zeitungsausschnitten über Charles Lindbergh wegwirft, geht er hinaus und holt die Sachen aus der Mülltonne.
Anna-Rose wird sechzig Jahre alt. Am 5. April 2002 kommen sie und ihr vier Jahre älterer Ehemann Morris Cooper bei einem Verkehrsunfall in Amarillo ums Leben. Sie hinterlassen zwei Kinder: den vierunddreißigjährigen Adoptivsohn Sammy in Fritch, Texas, und ihre am 16. Oktober 1972 in Panhandle, Texas, geborene Tochter T in New York.
Im Alter von sechzehn Jahren verließ T das Elternhaus, zog nach New York und studierte an der Columbia University literarisches Schreiben. Bald darauf debütierte T mit dem Roman „None of the Parts“. Als Anna-Rose durch ein Interview im World Wide Web erfuhr, dass ihre Tochter ein Buch über nach Texas ausgewanderte russische Juden plante, schickte sie ihr die Schachtel mit den von Esther gesammelten Zeitungsausschnitten. Aber T wollte nicht mehr Schriftstellerin sein. Sie verdiente ihr Geld nun als DJ. Eines Tages schnitt sie sich die Haare kurz und färbte sie sich weißblond, um wie Eminem auszusehen. Seither gibt sie sich als Mann und tritt als Imitator des um einen Tag jüngeren Rappers vor allem bei Bar-Mizwas auf.
T muss Engagements absagen, als er über Denver nach Amarillo fliegt, um alles Nötige für die Beerdigung der Eltern zu veranlassen. Sammy ist dazu aufgrund seiner Drogenabhängigkeit nicht in der Lage.
In Amarillo kauft er sich einen Modellbaukasten für die „Spirit of St. Louis“ und beginnt das Flugzeug zu basteln.
Einmal besucht er seinen Großvater Sam Lazarus im Altersheim, aber der Hundertjährige erkennt ihn nicht und fürchtet sich stattdessen vor dem unbekannten Besucher.
Am Tag der Beerdigung fährt T nach Fritch, um Sammy abzuholen. Er weiß, dass sein Adoptivbruder dort mit der Freundin Sheila in zwei Wohnwagen lebt. Weil Sammy jedoch gerade von Sheila hinausgeworfen wurde, haust er in einem vor einigen Wochen bei einem Tornado umgekippten Wohnwagen. – Die Beerdigung der Eltern verschläft Sammy auf dem Beifahrersitz im Auto.
Bei der Testamentseröffnung stellt sich heraus, dass T und Sammy erwartungsgemäß einen Wohnblock in Amarillo und die von ihrem Vater in Panhandle betriebene größte Bowlingbahn westlich von Mississippi erben. Außerdem hatten sowohl Morris als auch Anna-Rose eine Lebensversicherung abgeschlossen. Sam Lazarus‘ Vermögen ist allerdings durch das Altersheim und Sammys Drogenkonsum weitgehend aufgebraucht.
Nachdem T sich um alles gekümmert hat, fliegt er nach New York zurück.
Am 11. September 2002 wird ihm sein teures Equipment für die Eminem-Nummer aus dem Auto gestohlen. Ein Jugendlicher sagt ihm, die Diebe seien mit einem weißen Toyota unterwegs. Die Passanten halten ihn für Eminem und fragen nach Autogrammen. T glaubt einen weißen Toyota an einer roten Ampel zu sehen und rennt los. Auf der Straße wird er von einem Lastwagen angefahren. Im Krankenhaus kommt er wieder zu sich. Er behauptet, Slim Lindy zu heißen, und weil er wild um sich schlägt, schnallen ihn die Pfleger fest. Die Ärzte wundern sich, warum in seinem Führerschein der 16. Oktober 1972 als Geburtsdatum steht, während der Patient behauptet, er sei am 17. Oktober 1972 geboren worden. Noch weniger können sie sich erklären, warum als Geschlecht weiblich angegeben ist.
Seine halbjüdische Lebensgefährtin holt ihn aus dem Krankenhaus.
Da sie unbedingt ein Kind haben möchte, unterzieht sie sich einer künstlichen Befruchtung mit dem Sperma eines unbekannten Spenders.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In ihrem Roman „Lipshitz“ spielt T Cooper mit Fiktion und Wirklichkeit. Sie erzählt eine Familiengeschichte über vier Generationen, von 1903 bis 2002, in der sie/er am Ende selbst vorkommt und von der wir nicht wissen, wieviel davon authentisch ist. Damit vermischt sie Fakten über den Höhlenforscher William Floyd Collins (1887 – 1925) und vor allem den Flugpionier Charles Lindbergh (1902 – 1974). Immer wieder sind fiktive Zeitungsartikel und Briefe in den Text eingefügt. T Cooper beginnt mit der Auswanderung der russisch-jüdischen Familie Lipshitz 1907 nach Amerika, holt dann die Ereignisse von 1903 bis 1907 nach und fährt chronologisch fort. Auf den ersten 357 Seiten folgen wir einem auktorialen Erzähler, dann springt die Handlung von 1942 ins Jahr 2002, und nun ergreift die Figur T Cooper in der Ich-Form das Wort. Damit ändert sich auch die Sprache radikal. T wurde am 16. Oktober 1972, einen Tag vor Eminem, als Mädchen geboren, gibt sich jedoch inzwischen als Mann aus und imitiert den Rapper.
In letzter Zeit war ich sehr damit beschäftigt, herauszufinden, was wahr ist und was nicht. Es ist fast unmöglich, den Unterschied zu benennen.
Nicht ein Fitzel ist wahr, auch wenn einige Vorfälle stimmen, und andere auch, obwohl ich sie erfunden habe.
Dieses Scheißbuch – merkt euch meine Worte – werde ich niemals fertig schreiben.
Die Autorin T Cooper wurde 1972 in Los Angeles geboren. 1996 zog sie nach New York. Dort gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Band „The Backdoor Boys“.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © marebuchverlag
Charles Lindbergh (Kurzbiografie)
Eminem (Kurzbiografie)